“Frag VICE” ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal, ob es sich um nicht erwiderte romantische Gefühle oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Heute hoffen wir, einer Person zu helfen, ihre Faszination für toxische Beziehungen zu verstehen.
Hi VICE,
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ich habe oft Dates, aber irgendwie führen sie nie wirklich zu etwas. Ich fühle selten eine Verbindung zu jemandem und langweile mich sehr schnell. Die einzigen Beziehungen, die ich jemals hatte, zerbrachen, weil für mich nicht genug Aufregung und Nervenkitzel im Spiel war. Mir fehlte sozusagen der Funke. Auch Sex langweilt mich schnell. Ich ertappe mich oft dabei, wie ich beim Sex denke: “Bringen wir es hinter uns.”
Wenn ich mir eine ideale Beziehung vorstelle, habe ich schnell das Gefühl, dass meine Sehnsüchte ungesund sind. Denn ich träume von toxischer Liebe und Menschen, die nicht unbedingt gut für mich wären. Ich stelle mir dann vor, dass wir das Schlimmste ineinander hervorbringen, uns heftig streiten, vielleicht sogar gewalttätig werden, nur um uns danach mit leidenschaftlichem Sex wieder zu vertragen. In anderen Worten: Ich fantasiere von einer toxischen On-Off-Beziehung mit einer Person, in die ich wahnsinnig verliebt bin, aber von der mein Freundeskreis sagt, dass sie total schlecht für mich ist.
Mein Verlangen geht manchmal so weit, dass ich mich sofort für jemanden interessiere, wenn ich höre, wie problematisch die Person ist.
Diese Art von Beziehung ist oft traumatisierend für die Menschen, die sie erleben. Woher kommen also diese seltsamen Begierden? Ich mache mir manchmal Sorgen, dass ich wegen dieser Vorliebe für Konflikte und Dramen niemals mit einem Partner zufrieden sein werde. Stimmt etwas nicht mit mir?
Alles Liebe,
E.
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Hallo E.,
toxische Beziehungen können sehr romantisch erscheinen und werden in Filmen und Serien oft so dargestellt. Denk nur mal an die beliebte Netflix-Serie You oder an die Beziehungsdynamik in 365 Days. Selbst in rührseligen Liebesfilmen wie The Notebook wird mehr geschrien als geredet. Aber was auf der Leinwand romantisch und aufregend aussieht, ist im alltäglichen Leben meist mit viel Elend verbunden und auf Dauer ziemlich schädlich für die psychische Gesundheit.
Dass man sich zu Dingen oder Personen hingezogen fühlt, obwohl man weiß, dass sie nicht gut für einen sind, ist nicht ungewöhnlich. Die auf Paarbeziehungen spezialisierte Psychologin Iris van der Steen hört das in ihrer Praxis oft.
Zuerst einmal betont van der Steen, dass (sexuelle) Fantasien von ungesunden Dynamiken nicht automatisch bedeuten, dass etwas nicht stimmt. Es gibt viele Arten von BDSM, wie zum Beispiel die Rolle der “Brat” (engl. “Göre”), die sich um ein Spiel von Anziehung und Ablehnung dreht. “Wenn du eine Fantasie in einem sicheren Rahmen mit jemandem auslebst, dem du vertraust, dann ist daran nichts auszusetzen”, sagt sie.
In deinem Brief schreibst du aber, dass dein Verlangen einer gesunden Beziehung im Weg steht. Du gibst sogar an, dass du dich für Menschen interessierst, von denen du weißt, dass sie schlecht für dich sein könnten.
Van der Steen rät dir, über deine Wünsche nachzudenken und dich zu fragen, was du dir davon erhoffst, Schmerzen zu spüren. “Du schreibst, dass du verstehst, wie ungesund eine toxische Beziehung sein kann”, sagt sie. “Was genau gefällt dir also daran?”
Um das zu verstehen, musst du herausfinden, wo dieser Wunsch nach einer toxischen Beziehung herkommt. Denk an deine Kindheit und die Beziehungen deiner Vorbilder: Eltern, Freundschaften, Lehrkräfte und fiktionale Charaktere. “Haben diese Beziehung etwas mit der Art von Liebe gemein, nach der du suchst?”, fragt van der Steen. Es ist möglich, dass du nach dem Schmerz suchst, den du als Kind gespürt hast, etwa weil du gelernt hast, dass Liebe und Aufmerksamkeit immer mit Traurigkeit verbunden sind.
Eventuell hast du damals auch gelernt, dass Liebe nicht bedingungslos ist. Deshalb könntest du das Gefühl haben, ständig prüfen zu müssen, ob sich jemand – trotz der Schmerzen und des Streits – noch für dich entscheidet. Eine destruktive Beziehung und die intensiven Emotionen, die sie mit sich bringt, können einem das Gefühl geben, dass die Beziehung bedeutender ist, dass man der Person mehr wert ist, als wenn es im Alltag ruhig ist. “Vielleicht möchtest du, dass sich jemand immer und immer wieder für dich entscheidet, und du denkst, dass das nur möglich ist, wenn ihr euch viel streitet”, sagt van der Steen. “Das bedeutet, du gehst davon aus, dass Liebe nur etwas bedeutet, wenn sie wehtut.”
Du kannst dich auch fragen, wie deine Emotionen aufgenommen wurden, als du jünger warst. Hattest du das Gefühl, dass sie willkommen sind? “Wenn es sich nicht sicher angefühlt hat, verletzlich zu erscheinen, kann es später im Leben schwerfallen, jemanden emotional an sich heranzulassen”, erklärt van der Steen. Vielleicht möchtest du dich niemandem vollkommen ausliefern, weshalb du lieber den kurzzeitigen Rausch suchst.
Möglicherweise leidest du auch unter Trennungs- oder Bindungsangst, was auch Hand in Hand gehen kann. “Dann fühlen sich ungesunde Beziehungen manchmal sicherer und vertrauter an als gesunde”, sagt die Psychologin.
Weitere Fragen, die du dir stellen kannst, sind: Wie definierst du wahre Liebe? Glaubst du, in einer gesunden Beziehung gibt es keine Aufregung und Leidenschaft? Vielleicht konntest du noch keine Erfahrung damit machen, wie aufregend eine freundliche und respektvolle Beziehung sein kann, weil du deiner Vorstellung einer ungesunden Beziehung nachgejagt bist.
Auch gesunde Beziehungen können leidenschaftlich sein, erklärt van der Steen. Es ist zum Beispiel besonders schön, sexuelle Fantasien mit einer Person auszuleben, bei der du dich sicher fühlst. Manchmal dauert es eine Weile, bis man die leidenschaftliche Phase erreicht, nach der du dich sehnst. “Eine intensive Beziehung baut man normalerweise zu jemandem auf, bei dem man sich sicher fühlt, denn dann kann man sich verletzlich zeigen”, sagt van der Steen. Diese Verletzbarkeit macht es nicht nur einfacher, über sexuelle Fantasien zu sprechen, sondern auch über deine Bedürfnisse in der Beziehung generell.
In deinem Brief steht auch, dass du von einer Beziehung träumst, die dein Umfeld ablehnen würde. Freunde und Freundinnen können dir tatsächlich einen Spiegel vorhalten und dir zeigen, wie schädlich toxische Beziehungen sein können. Außerdem können sie dein Selbstvertrauen stärken. Mit ihnen über deine Vorstellungen zu sprechen, ist also definitiv hilfreich.
Die eigenen Emotionen und Wünsche zu verstehen, ist nicht leicht. Deshalb kann es auch helfen, in einer Therapie darüber zu sprechen. So wirst du dabei unterstützt, herauszufinden, ob du an einem vergangenen Schmerz festhältst und wie du ihn loslassen kannst.
Vielleicht stellst du auch fest, dass eine Reihe von kurzen und heftigen Beziehungen gerade genau das Richtige für dich ist. Achte nur darauf, dass du dir die Menschen aussuchst, weil du dich mit ihnen verbunden fühlst, und nicht, weil du nach Traurigkeit oder Schmerz suchst. Letztendlich geht es darum, dich selbst zu lieben. “Wenn du dich selbst liebst, ist es einfacher, ein gesundes Liebesleben zu führen”, sagt van der Steen.
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