Ich gebe Bettlern auch Geld für Wodka, wenn sie es möchten

Eine Bar im Szeneviertel Mannheim-Jungbusch. Es ist später Abend, stickig, heiß und voll. Ich bin mit ein paar Leuten da, die ich nicht besonders gut kenne.

Von draußen tritt ein Mann hinein, er sieht kränklich aus, ist vielleicht 60 Jahre alt, um die 1,75 Meter groß. Er läuft gebückt an den Tischen entlang, seine Kleidung ist verschlissen, aber nicht dreckig. Er redet mit sich selbst. Ohne jemanden anzusprechen, streckt er den Leuten seine offene Hand hin. Kaum jemand schaut ihm ins Gesicht – Geld bekommt er von keinem.

Dann kommt er zu uns. Bei mir liegen die Münzen immer lose in den Hosentaschen, ich greife ein 2-Euro-Stück und gebe es ihm. Er bedankt sich nicht. Die anderen sprechen mich sofort darauf an, plötzlich reden alle darüber. Vorher ging es um Beziehungsdramen und irgendwelche Drogenerfahrungen. Jetzt darum, ob es in Ordnung sei, einem Menschen Geld zu geben, von dem man ausgehen könne, er würde sich am nächsten Kiosk seine Flasche Blutwurz kaufen und sich damit volldröhnen. Ich hätte ihm besser kein Geld geben sollen, meinen sie, er habe mich mit seiner wehleidigen Art betrogen.

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Ich war nicht ihrer Meinung. Ich wollte mich nicht zu seinem Richter erheben und sagte das auch. Und dass ich selbst sicher schon Sachen gemacht habe, von denen durchschnittliche Reihenhausbewohnende schockiert wären. Ich sagte: “Wenn ich meinen Rausch will, dann kriege ich ihn. Warum soll ich ihm das verweigern?” Jeder trifft seine Entscheidungen selbst und auch, was er mit seinem Geld macht. Ich verstand nicht, warum ein Bettler nur dann Geld von mir bekommen soll, wenn ich sichergehen kann, dass er sich davon gesundes Essen kauft.

Betteln ist harte Arbeit

Zuerst mal grundsätzlich: Ich finde, es hilft, wenn man Betteln nicht als Belästigung versteht, sondern als einen Job. Viele Bettler sind, wie andere arbeitende Leute auch, zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort. Sie bereiten sich auf ihren Job vor, beschriften ihre Schilder mit “Bitte Helfen” oder “Ich habe Hunger”. Sie stellen sich stundenlang irgendwo hin und ackern. Manche haben sich eine bessere Strategie ausgedacht als andere, haben zum Beispiel einen Text geschrieben und auswendig gelernt, den sie dann in der U-Bahn vortragen.

Ich betrachte es nicht mehr als Spende, wenn ich Bettlern Geld gebe. Für mich sind meine ein oder zwei Euro Teil des Lohns, den sie auf der Straße verdienen. Sozusagen ein Straßen-Crowdfunding. Wenn sich ein Backpacker vor die Kamera stellt, ein Video für Kickstarter dreht und fordert: “Bitte bezahlt meine Weltreise!” – warum darf das nicht auch ein Bettler auf der Straße machen?

Aber zurück zu der Sache mit dem gesunden Essen.

Friss, was ich dir hinschmeiße

Von einer ähnlichen Szene wie der, die ich in der Bar in Mannheim erlebte habe, hat vor ein paar Tagen der Politikchef der Berliner Tageszeitung B.Z. geschrieben. Matthias Heller sei in der Früh mit der U-Bahn zur Arbeit gefahren. Auch da sei es stickig, voll und heiß gewesen.

Dann schreibt Heller von einem “stattlichen jungen Mann”. Der habe mit “erheischend hoher Jammer-Stimme seine Litanei” vorgetragen und nach 20 Cent gebettelt: Sein Kumpel sei in der Hitze umgefallen. Damit ihn nicht das Gleiche passiere, wolle er sich etwas zu essen und zu trinken kaufen.

Er habe dem Mann daraufhin sein “eigenes Frühstück” angeboten, schreibt der Journalist, genauer: einen Apfel. Der Bettler jedoch habe abgelehnt, er könne kein Obst essen, weil ihm Kinder auf der Straße die Zähne ausgeschlagen hätten. Das passt Heller gar nicht. Er habe sich betrogen gefühlt, schreibt er. Seine Nächstenliebe sei verschmäht worden, in Zukunft werde er auf diese Masche nicht mehr reinfallen und keinem Bettler mehr seine “leckeren frischen Braeburn”-Äpfel anbieten.


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Schon beim ersten Absatz des Textes kam in mir die Wut hoch. Und mit jedem weiteren von Hellers sarkastischen Sätzen (der Bettler habe “alles sehr emotional vorgetragen”) stieg sie weiter und weiter. Wie kommt der Typ bloß darauf? Was bringt einen Ressortleiter, der bei einer großen lokalen Zeitung mehrere zehntausend Euro im Jahr verdient, dazu, sich über einen jungen Bettler aufzuregen, der nach 20 Cent fragt und den er wahrscheinlich nie wieder sehen wird? Warum beschäftigt ihn das so sehr, dass er sich anschließend an den Computer setzt und einen Artikel darüber schreibt?

Ich glaube, es liegt daran, dass vielen komplett das Verständnis fehlt für Menschen, die sich in einer echten Notlage befinden. Dass sie sich ein völlig falsches, beinahe lächerliches Bild von der Situation dieser Menschen machen. Dass es ihnen an Sensibilität und Empathie fehlt. Und dass sie sich so am Ende selbst tief gekränkt fühlen – in ihrer Eitelkeit als “barmherzige Samariter”. Gekränkt von echten Bettlern, die so ganz anders sind, als sie es sich erträumen. Und die vor einem verdammten Braeburn-Apfel nicht vor Dank in die Knie gehen.

Niemand muss etwas annehmen, nur weil jemand es ihm vor die Füße schmeißt. Natürlich darf ein Bettler einen Apfel ablehnen, weil er keine Zähne hat. Jeder kann Gründe haben, etwas nicht zu wollen oder Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen. Vielleicht kann ein Bettler nicht zum Trinkwasserspender am Spittelmarkt fahren, weil er dort Stress hatte oder Hausverbot bekommen hat. Ich persönlich esse ungern Rote Bete, ich finde, sie schmeckt, als würde ich in eine Handvoll Erde beißen. Und niemand kann mich dazu zwingen.

Ein Bettler muss ausschauen wie ein Bettler

Der Politikjournalist Heller scheint außerdem ein ziemlich klares Bild zu haben, wie ein anständiger Bettler aussehen darf: Wahrscheinlich muss er zerrissene Kleidung anhaben und eher alt als jung sein – Piercings sollte er lieber nicht tragen. Hellers Beschreibung des “stattlichen” Mannes heißt nämlich implizit: Allzu bedürftig kann ein Typ nicht sein, wenn er ordentlich und gesund ausschaut. Und zwischen den Zeilen steht natürlich die Frage, warum ein junger Mann von dreißig Jahren überhaupt bettelt und keinem normalen Job nachgeht.

Wer bedürftig ist, muss, in der Logik vieler, auch bedürftig aussehen. Doch viele arme Menschen wollen genau das nicht. Abgeranzte Klamotten sind ihnen genauso unangenehm wie den meisten Leuten.

Aber zur Wahrheit gehört auch: Wir fühlen uns besser dabei, Bedürftigen das zu geben, was wir eh nicht mehr brauchen oder selbst nicht besonders toll finden. Das T-Shirt von der letzten H&M-Kollektion: zur Kleiderspende. Apfel in der Aktentasche: Bettler. Wird schon reichen, und beschweren dürfen sie sich schließlich nicht – ist ja geschenkt. Rapper Edgar Wasser hat es im Song “Medizin” auf den Punkt gebracht: “Sie fordern Wasser für Afrika / War ja klar, immer nur das Billigste / Ihr scheiß Heuchler / Ich fordere fritz-kola für die Dritte Welt”

Wie mich der Papst lehrte, nicht über Bettler zu richten

Oder eben Alkohol. Ausgerechnet Papst Franziskus forderte vor zwei Jahren, Obdachlosen Almosen zu geben, auch wenn man wisse, dass sie davon “eine Flasche Wein kaufen, um sich zu betrinken”. Ich hätte nie gedacht, dass der Papst mir mal etwas beibringen würde. Das Oberhaupt einer verstaubten Institution mit seinen mittelalterlichen Wertvorstellungen von Sexualität, Ehe und Wissenschaft. Aber dieser Satz, der hat mich beeindruckt.

Man könne sich nicht zum Richter von Bedürftigen erheben, sagte er. Wenn sich der Bedürftige betrinken will, dann tue er das, “weil es keinen anderen Weg für ihn gibt”. Bahnhofsmissionen warnen sogar davor, alkoholkranken Obdachlosen den Sprit zu verweigern, Abhängige können ohne Alkohol in Lebensgefahr geraten.

Wer in der echten Welt unterwegs ist und nicht in irgendwelchen Samariter-Träumen, weiß eh: Ich werde keinem Bettler helfen, vom Wodka wegzukommen, wenn ich ihm ein paar Münzen verweigere. Egal welchen Stoff er braucht, er wird ihn bekommen. Um an dem Problem grundsätzlich was zu ändern, braucht es andere Maßnahmen. “Ohne zu reden” aber, so Papst Franziskus, “um zu verstehen, was dieser Mensch wirklich braucht”, seien Almosen nur ein Mittel, um die eigene Eitelkeit zu befriedigen. Spenden könnten nur aus einer Haltung der Großzügigkeit und Freude geschehen. Mit innerer Belastung habe sie nichts zu tun.

Ich gebe Leuten, die betteln, Geld, weil ich Menschen mag und weil sie manchmal Hilfe brauchen. Nicht, um mein Ego zu pushen. Schon gar nicht, um mich gekränkt zu fühlen, wenn sie sich anders verhalten, als ich es von ihnen erwarte. Und ich mag Menschen sogar lieber als Braeburn-Äpfel.

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