Ich hab Dosenfisch in einem Londoner Dosenrestaurant gegessen

Es ist Mittagszeit an einem Freitag in Soho, London. Ich befinde mich auf der Upper James Street und sitze an einem nobel gedeckten Tisch, mit einer Stoffserviette auf meinem Schoß und einem Krug Wasser und einem Gericht aus Dosenthunfisch vor mir. Ich esse im Tincan, ein Restaurant, das genau das hält, was sein Name verspricht.

Auf der anderen Straßenseite schlemmen die Leute Filet Wellington im Bob Bob Ricard. Um die Ecke hat sich bestimmt gerade jemand die scharfen Schweinefleischbällchen mit Fenchel im Polpo bestellt. Mein Fisch—frisch aus der Dose in die Schüssel—ist aber teurer.

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Das Restaurant behauptet, „die besten Dosenmeeresfrüchte der Welt” zu servieren, was ein bisschen nach einer Wette klingen mag. Aber in Portugal sind die conservas restaurantes—Restaurants, die (fast) ausschließlich Zutaten aus Dosen verwenden—ungefähr gleich beliebt wie Burgerrestaurants in den USA.

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Eine Dose Makrelen aus Portugal.

Als die Architektin Amanda Levete in einem dieser Restaurants in Lissabon saß, kam ihr die Idee zu Tincan. „Aus einem Mittagessen wurde schnell eine Idee und schließlich ein konkretes Projekt”, erklärt sie uns. „Keine Küche, die besten Dosenmeeresfrüchte der Welt, sehr gesund, großartige Grafik und die Dose als Protagonist.”

Levete reiste um den Globus auf der Suche nach den leckersten Meeresfrüchtedosen, die heute die Wände des Restaurants zieren: die türkise Dose der Minerva Gourmet Makrelenfilets in Olivenöl zum Beispiel, oder die goldene scheibenförmige der Los Peperetes-Jakobsmuscheln. Der Moment, in dem die Dose aber wirklich in Szene gesetzt wird, ist, wenn der Inhalt auf den Teller kommt. Es gibt einige kleine Nebendarsteller, darunter drei kleine Teller mit winzig klein gehackten Schalotten, Petersilie und Chili mit drei Scheiben Brot, Olivenöl und eine Schüssel grüner Salat: die scheinbar notwendigen Begleiter, damit das Dosenfischmenü zum Gourmetschmaus wird.

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Meeresschnecken aus der Dose.

„Wir bereiten alles am Morgen vor”, erklärt uns ein Kellner. Es gibt keine Küche, keinen Koch. Bevor der Mittagsbetrieb losgeht, werden einfach nur still die Tische gedeckt. Keine klirrenden Pfannen oder Schreie von gestressten Köchen—nur das leise Klicken der Aufreißlasche und das Geräusch vom Dosendeckel, der aufgezogen wird. Der einzige Schritt, bei dem etwas schief gehen kann, ist, wenn der Fisch von der Dose auf den Teller gekippt wird. Aber sogar dann fragst du dich: Wie ansprechend kann eine Seeteufelleber aus der Dose nur aussehen? Meine wurde mit ein paar winzigen Schalottenscheiben garniert. Nun ja.

Ganz fair bin ich ja nicht. Aber Dosenmakrelen, -sardinen und -hering gelten als grätig, schmecken nach gekochtem Fisch und werden nur von Leuten gegessen, die mit Kriegsrationierungen aufgewachsen sind. „Hier in Großbritannien sind wir so auf den Preis bedacht”, sagt Nick Howell von The Pilchard Works und findet unser größter Fehler sei es nur die günstigsten Sardinen in Tomatensauce zu kaufen. Man muss wissen, dass sich die handwerkliche Methode der Fischkonservierung grundlegend von der industriellen unterscheidet.

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Santa Catarina Thunfisch-Steak in „Mohlo Cru.”

Denn bei der industriellen Abfüllung von Dosenfisch wird der rohe Fisch mit einem Spritzer Sauce in die Dose gelegt und dann in einer Retorte sterilisiert. „Der Fisch wird in der Dose gekocht und daher kommt dieser Metallgeschmack”, erklärt Howell. Bei handwerklichen Techniken des Eindosens wird der Fisch zuerst gekocht. „So wird der Fisch für die kürzest mögliche Zeit sterilisiert und der Geschmack bleibt erhalten”, sagt Howell und erklärt, dass durch die Konservierung der Geschmack sogar verstärkt werden kann. „Eine gut eingedoste Sardine entwickelt über einen Zeitraum von mehreren Jahren durch die Enzyme im Fischbauch einen leckeren Umami-Geschmack.”

Diese Methoden werden oft auf dem europäischen Festland und besonders in Skandinavien angewendet. Das erklärt, wieso Dosenfisch in manchen Ländern als Delikatesse gilt und wieso man für die arbeitsintensiven Methoden so viel bezahlt. Bei Tincan stehen 25 Dosen auf der Karte, die preislich zwischen 9 Euro bis hin zu unglaublichen 28 Euro für die spanischen Rias Gallegas-Jakobsmuscheln in einer galizischen Zwiebelsauce oder für Venusmuscheln aus Carril liegen.

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Leicht geräucherte Triton-Kabeljau-Leber.

Ich frage den Kellner, wie viele Dosen für ein Mittagessen angemessen sind. Immerhin sind kleine Gerichte in Soho immer noch ziemlich angesagt. Da ich aber noch nie mehr als eine Dose Thunfisch in einer Mahlzeit gegessen habe, frage ich mich, wie viele ich wohl runterbringe. „Drei sind gut”, sagt er. „Oder fang vielleicht mal mit zwei an.” Ich schau auf die Speisekarte an und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Seeigelkaviar oder Tintenfisch in der eigenen Tinte „sorgfältig von Hand zubereitet”? Nicht vergleichbar mit den Anchovis-und Thunfischdosen im Supermarkt.

„Zuerst war ich von Dosenfisch auch nicht so überzeugt”, sagt der Kellner plötzlich zu mir. Es ist sein erster Tag. „Aber gestern probierte ich alle 25 Dosenfische, die auf der Karte stehen.” Die Vorstellung eines widerwilligen Dosenfischessers, der sich stoisch durch die Auswahl des Restaurants isst, klingt mehr nach einer mittelalterlichen Foltermethode. Daraufhin verschwindet er ganz kurz und kommt mit einer Karte zurück, auf der er seine persönlichen Favoriten markiert hat. Von seinem Enthusiasmus geleitet, entscheide ich mich für die leicht geräucherte isländische Kabeljauleber und für den Thunfisch, „gefangen in den kristallklaren Gewässern der Azoren”—als direkter Vergleich zum altbekannten Dosenthunfisch aus dem Supermarkt.

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Eine Wand voller Meeresfrüchte im Tincan.

Ein sanfter Stupser mit der Gabel und der Thunfisch fällt auseinander und das rosa Fleisch kommt zum Vorschein. Da liegen Welten zwischen der zusammengepressten, grauen Pampe, die normalerweise in ein Thunfisch-Gurken-Sandwich kommt, und dem Thunfisch, den ich vor mir habe. Und die Kabeljauleber? So zart und herzhaft.

Tincan hat erst vor einem Monat eröffnet und als ich dort war, war es zur Mittagszeit relativ leer. Nur ein Lieferant war auf Besuch und einige neugierige Kollegen von einem Büro in der Nähe sowie ein paar verlorene Touristen hatten den Weg hierher gefunden. Wenn es sich aber erst einmal herumspricht, wie gut sich Dosenfisch als Tapas eignet, wird es hier eng wie in der Sardinendose.