2:00 Uhr
Wenn ich nachts anfange, so denke ich, schleicht sich der Song vielleicht heimlich in mein Unterbewusstsein, wie bei Spickzetteln, die man vor der Prüfung unters Kopfkissen legt. Ich male mir aus, dass ich in einigen Stunden mit einer Erkenntnis aufwache. Außerdem habe ich dann schon ein paar Stunden hinter mir.
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Last Christmas von Wham! ist einer der meistgespielten Songs in deutschen Radios. Seit Ende November ist er wieder in den Charts, zurzeit auf Platz 10. Das geht so seit 1984. Eine Meinung zu diesem Song hat eigentlich jeder. Viele lieben ihn, andere hassen ihn, jeder hört ihn, ob man will oder nicht. Warum ist dieses Lied seit 35 Jahren so erfolgreich?
Um das ein für allemal zu beantworten, setze ich mich einer Extremsituation aus: 24 Stunden Last Christmas. Am Stück. Auf Dauerschleife. Auch während ich schlafe.
Technisch ist das gar nicht so einfach. Ich finde bei Spotify keine Dauerschleifen-Funktion. Spotify sagt, dass sich das nicht genug Leute wünschen würden (ein Kollege sagt mir später, dass es einen Trick gebe: zweimal auf den Repeat-Button klicken. Aber da war es für mich schon zu spät). Also baue ich eine Warteschlange. Last Christmas ist 4:27 Minuten lang. Pro Stunde werde ich das Lied also rund 13 Mal hören. Insgesamt über 300 Mal. Ich schiebe den Song in die Liste, sehr oft, schalte die Bluetooth-Box ein, dimme die Lautstärke, lösche das Licht. Synthetische Beats setzen ein, dann George Michael: “Ahahaha, uuuhm, woooh – ahh”.
8:05 Uhr
Um kurz nach Acht wache ich auf. Aus meiner Box jault Chris Rea. Er sagt, dass er nach Hause fährt für Weihnachten. Meine Warteschlange war nicht lang genug. Die Nacht auch nicht. Spotify hat einfach irgendwelche Weihnachtslieder gespielt. Ich baue wieder eine Liste, drücke mir die Kopfhörer in die Ohren und fahre ins Büro.
Last Christmas, I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special
Last Christmas ist eigentlich gar kein Weihnachtssong. Es geht weder um Jesus noch um den Weihnachtsmann, nicht mal um Nächstenliebe. Ja, das Wort “Christmas” fällt sieben Mal, im Video wird ein Baum geschmückt und die Glöckchen bimmeln wie blöde. Aber eigentlich geht es doch nur um eines: das gebrochene Herz. Vielleicht funktioniert es deshalb jedes Jahr wieder und bei so vielen Menschen. Auch bei mir.
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Ich summe mit und checke Tinder. Ich habe es vor ein paar Tagen wieder installiert. In meiner Tinder-Bio sieht man ein Eichhörnchen-mit-Nuss-Emoji, dazu der Satz: “Looking for somebody to take care of in winter”. So kurz vor Weihnachten läuft die Partnersuche doch immer ganz gut. Drei neue Matches. S., 33 Jahre, 1,84 Meter, schreibt, dass er gerade noch feiert. Ob ich auch kommen will? Ich sage ihm, dass ich leider arbeiten muss, und wünsche ihm an diesem Morgen eine gute Nacht.
9:45 Uhr
Auf dem Weg ins Büro hatte ich noch mitgesungen, laut, das kann man in Berlin ruhig machen, das merkt gar keiner. Jetzt habe ich auf einem Ohr Last Christmas und versuche mit dem anderen, meinen Kolleginnen und Kollegen in der Morgenkonferenz zu folgen. Meine musikbelastete Hirnhälfte fühlt sich an wie eingefroren.
Mein Chef zupft mir den Hörer aus dem Ohr. “Tust du’s wirklich?”, fragt er und hält sich das Ding nah ans eigene Ohr, ohne es ganz reinzustecken, als wäre es etwas sehr, sehr Ekelhaftes. Dann stößt er es von sich und raunt: “Oha, bah.”
10:05 Uhr
Parship schickt mir eine Pressemitteilung mit dem Betreff “All I want for Christmas is you”. 48 Prozent der Alleinstehenden sehnen sich in der dunklen Jahreszeit noch stärker nach einem Partner als zu jeder anderen Zeit im Jahr, steht da.
Ich gehöre zu diesen 48 Prozent. Ich bin Single und zurzeit völlig unverliebt. Mein Herz liegt still in meiner Brust wie ein schlafender Hund in seinem Korb. Und das nervt. Ich will, dass es spielt. Die Fotos auf meinem Tinder-Profil sind lasziver als sonst. Letztes Wochenende war ich sogar alleine tanzen.
Es geht mir gar nicht so sehr darum, jemanden mitzubringen, wenn ich an Weihnachten zu meiner Familie fahre. Vielmehr will ich nicht alleine sein, wenn ich abends nach Hause komme. Oder wenigstens nicht mit den Schultern zucken, wenn die alten Freunde beim weihnachtlichen Klassentreffen fragen: “Und, bei dir?”
Aber das ein oder andere Mal verliebt gewesen zu sein, heißt auch, dass ein oder andere Mal verletzt worden zu sein. So wie George Michael.
Once bitten and twice shy
I keep my distance
But you still catch my eye
Michael war erst 21 Jahre alt, als er den Song geschrieben hat, alleine, in seinem Kinderzimmer. Ich bin jetzt fast 30 und vorsichtiger denn je.
11:33 Uhr
Ich steige aufs Video um, bei YouTube kann man Songs loopen. Außerdem hat Sony den Clip geremastert, auf YouTube kann man jetzt eine ziemlich scharfe 4K-Version sehen. Seit dem 13. Dezember ist das Video online, es wurde bereits über 4,5 Millionen Mal geklickt.
Die Story ist simpel: Eine Clique, fast alle verpaart, Männer mit Frauen, ganz 1984, trifft sich in einem Schweizer Chalet, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. George Michael hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich zu seiner Homosexualität gestanden. In diesem Video tritt er mit einer blonden Freundin auf. Seine Ex-Freundin, brünett, ist auch da. Schneeballschlacht. Lametta. Alkohol. Wie ich seine Föhnfrisur liebe. Sein Make-up.
Und dann, bei Minute 2:22, sehe ich, wie er seine Ex-Freundin anschaut und stoppe das Video. Dieser Blick.
Tell me baby, do you recognize me?
George Michael, blonde Strähnchen, geblushte Wangen, hebt das Weißweinglas, doch er trinkt nicht gleich – denn er beobachtet sie. Seine Ex. Last year, I gave you my heart. Doch sie sitzt da mit ihrem Neuen.
Now I know what a fool I’ve been
But if you kissed me now, I know you’d fool me again
Glaubt man seinen Zeilen, will George Michael die Frau, die ihn einen Tag nach dem vergangenen Weihnachtsabend verlassen hat, gar nicht zurück. Dennoch bricht ihm das Wiedersehen das Herz. Seine Prophezeiung: Würde sie es noch einmal bei mir probieren, würde ich ihr wieder verfallen. Psychologen nennen das “kognitive Dissonanz”, der körperliche Zustand zwischen zwei Empfindungen, die sich widersprechen. Das ist unglückliches Verliebtsein. Es ist eine Qual.
15:14 Uhr
Obwohl ich in einem Großraumbüro sitze, habe ich das Gefühl, unter meinen Kopfhörern zu vereinsamen. Der Spiegel hatte einmal berichtet, in Guantanamo würden Terrorverdächtige gefoltert, indem man sie stundenlang, tagelang, mit derselben Musik beschallt, darunter Dr. Dre, Meat Loaf, Britney Spears oder der “Meow Mix”, der Jingle einer Katzenfutterwerbung. Musikfolter heißt das.
Der Vergleich ist nicht optimal, aber ich hätte doch gedacht, dass der Song mir spätestens jetzt auf die Nerven gehen würde. Tut er aber nicht. Der Rhythmus ist so fröhlich und soft, dass er mir einfach das Hirn weichspült. Wenn doch hier irgendwer wäre, an den ich mich kurz anlehnen könnte. Der Text macht mich mürbe. Die Zeilen bohren sich in die Ohren, setzen sich ganz tief drinnen fest:
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special (special)
Wie viel Hoffnung da drin steckt. Und wie viel Überzeugung. George Michael könnte ja sauer sein. Er könnte wütend sein oder traurig, weil die Frau, die er geliebt hat, jetzt einen anderen liebt. Aber stattdessen sagt er “Kopf hoch” zu sich selbst. Wenn du mich nicht willst, dann will mich eben eine andere. Selbstzweifel? Nein. Michael stellt nüchtern fest, dass er sie geliebt hat, und sie ihn eben nicht. Das ist das Schöne an diesem Song. Er macht niemandem einen Vorwurf, er schaut einfach nach vorn.
Mal liebt der eine mehr, mal der andere. So lange, bis zwei sich finden, die sich erstens mögen und zweitens auch bereit dafür sind. Und das ist dann wohl wahre Liebe.
17:33 Uhr
Der Drehort des Last-Christimas-Videos heißt Saas-Fee. Über Weihnachten sind noch fünf Ferienwohnungen frei. Mittlerweile denke ich ernsthaft darüber nach, einfach zu buchen. Dann vibriert mein Handy. Es ist J., den ich am Wochenende in der Klowarteschlange eines Clubs kennengelernt habe.
“Die Abende mal ein Glas Wein?”, schreibt er.
Ich antworte nicht, erstmal.
19:00 Uhr
Die In-Ear-Kopfhörer tun weh. “Bitte geht nicht”, rufe ich den Kollegen zu, die mit mir einen Tisch teilen und gerade in ihre Winterjacken schlüpfen. Sie schauen mich mitleidig an. Ich solle mir etwas Aufwendiges kochen, um mich abzulenken, sagt der eine. Also stiefele ich los in den Supermarkt. Doch dann geistere ich nur durch die Regale, verloren, meinungslos, traurig.
My God, I thought you were someone to rely on
Me? I guess I was a shoulder to cry on
Ich kann mich, ach, ich will mich nicht festlegen.
19:45 Uhr
Zu Hause angekommen entscheide ich mich für Lachsfilet mit Bratkartoffeln. Das passt nicht zusammen, aber das ist eben noch da. Ich öffne den Kühlschrank. Er ist groß und neu. Die ganze Wohnung ist groß und neu. Sie wäre perfekt für Zwei. Neben dem Kühlschrank steht der Laptop, Wham! tröstet mich zum etwa 230. Mal.
Maybe next year we’ll give it to someone
I’ll give it to someone special
20:34 Uhr
Das Telefon klingelt. Dran ist ein Mann, den ich mag. Er lebt rund 600 Kilometer von mir entfernt, ebenfalls alleine. Er sagt, er schmiere sich gerade ein Brot. Das ist kein guter Grund, um mich anzurufen, aber wir brauchen schon lange keine Begründung mehr, um zu telefonieren.
“Wie war dein Tag?”, fragt er.
“Gut”, sage ich und in diesem Moment stimmt das wirklich. “Ich hab mich auf deinen Anruf gefreut.”
Seine letzte Beziehung ging in die Brüche, etwa zur selben Zeit wie meine. Seitdem telefonieren wir fast jeden Tag. Manchmal sind wir stundenlang zu zweit allein.
“Kann man Raclette-Käse auch einfach so essen, also – ohne Raclette?”, fragt er.
“Schieb dir doch das Brot mit dem Käse in den Ofen.”
“Du bist der Wahnsinn”, sagt er.
Als wir auflegen, ist es still. Die Bluetooth-Box ist ausgegangen.
22:39
Das Handy blinkt. “Mittwoch/Donnerstag/Freitag?”, fragt J. aus dem Club.
00:23 Uhr
Ich denke darüber nach, ein Bad zu nehmen, entscheide mich aber dagegen, weil ich nicht will, dass dieses Experiment mit “Palmolive Aroma Sensation” endet, allein in der Wanne, nach 24 Stunden Last Christmas. Ich habe den Laptop in der Küche stehen lassen und mich auf mein Sofa gelegt, möglichst weit weg von George. Ich nenne ihn jetzt einfach so. George. Seine Stimme vermischt sich in der Ferne mit dem Gurgeln meines Geschirrspülers. Ich höre ihn gar nicht mehr richtig, es rauscht bloß. Das Lied ist längst in mir drin. Die Fröhlichkeit von heute morgen ist verschwunden, die Traurigkeit des Abends hat sich festgesetzt. Aber da ist noch was. Ein kleines bisschen Mut.
01:14 Uhr
Ich nehme eine Sprachnachricht für meine Clubbekanntschaft auf. 17 Sekunden Last Christmas von Wham!. Es ist die Zeile, die mir am meisten hängen geblieben ist.
Once bitten and twice shy
I keep my distance
but you still catch my eye
“Kitschig aber schön 🎄😉”, schreibt er. Und ich antworte: “Donnerstag wäre schön, wenn du magst.”
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