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Ich habe alle Kontakte in meinem Adressbuch angerufen

Die Autorin hält sich das Telefon ans Ohr, während sie die 220 Kontakte in ihrem Adressbuch anruft

Seit einem Jahr spreche ich eigentlich nur noch mit Leuten, die mir sehr nahe stehen. Meistens sind die Gespräche schwer. “Kannst du’s glauben? Wenn der Tag heute vorbei ist, kommt morgen noch einer.” Wir sitzen mit einem Abstand von eineinhalb Metern auf einer Bank und blinzeln unzufrieden in die Sonne. Ich will Smalltalk. Ich will blöde Sachen sagen und jemandem bei allem zustimmen. Ich will nur an der Oberfläche kratzen, lügen, wenn mich Leute fragen, ob ich Der Pate gesehen habe, oder meine gute Laune mit dem Wetter begründen. Vielleicht geht es anderen ähnlich. Diesen Wunsch möchte ich mir und den 220 Kontakten in meinem Adressbuch erfüllen. Ich möchte dahinplätschernde Konversationen und ihnen sagen, wie sehr ich sie vermisse.

Vor dem ersten Telefonat bin ich nervös. Früher, als man anfing mit telefonieren, haben sich Leute vor einem Telefonat schön angezogen und sich aufrecht neben den Hörer gestellt. Man wollte für die Person am anderen Ende der Leitung anständig aussehen, aus Gewohnheit. Das Wegfallen der visuellen Ebene war neu. Ich trage auch Lippenstift auf, obwohl mich niemand sehen kann. Ich rede mir ein, dass das gegen meine Nervosität hilft.

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Als erstes erreiche ich einen Typen der mir mal im Züricher Gonzo Club 2018 ein paar Sätze Spanisch beigebracht hat. Ich war schon bei meinem zweiten Porsche-Cocktail und das auch nur, weil ich mich unglaublich cool fühlte beim Bestellen. Es ging mir also “super bien” und wir tauschten Nummern aus und sprachen nie wieder.

Als ich anrufe, kann er sich nicht mehr an mich erinnern. Er freut sich trotzdem, mich am Telefon zu haben.

Er pendelt jetzt zwischen Genf und Zürich und wir sprechen über Berlin.

“Maybe, we’ll reconnect at Gonzo when it opens again”, sage ich.

“I don’t know about that. Sometimes I think I’m too old for these kind of places.” Nach unserem Telefonat schreibt er mir: “Very nice talking to you! Thank you for the call.” 

Ich drücke auf den nächsten Kontakt. Vor zwei Jahren habe ich seine WG besichtigt. Die erste Frage die mein potentieller Mitbewohner mir stellte, war: “Sind deine Eltern geschieden?” Und dann bin ich erst vier Stunden später ein bisschen angetrunken gegangen.

Heute ist er auf dem Weg zu einem Dreh und erzählt mir von einem Gartengrundstück in Brandenburg, das er gekauft hat: “Ich muss jetzt Agrar-Kurse belegen.”

Im April darf ich mal auf Kaffee und Kuchen vorbeikommen. “Ich finde das so abgefahren, was du gerade machst”, sagt er.

Eine Mitschülerin aus meiner Gymnasialklasse fragt mich, ob es das schon war, als ich nach einem “Wie geht’s dir?” nicht mehr weiß, was ich fragen soll.

Ein Mitglied des Ständerats, der im Schweizer Parlament die Kantone vertritt, will, dass ich ins Protokoll aufnehme, dass es ihm heute sehr gut gehe, obwohl er es nicht mehr aufs Fahrrad geschafft habe. Heute Nachmittag habe er nämlich keine Zeit mehr, er sei schon auf dem Weg nach Bern.

Eine Fotografin, die mich dabei abgelichtet hat, wie ich versucht habe, in einem Fitnessstudio nicht einzuschlafen, ist gerade bei Douglas.

“Bevor ich dran gegangen bin, habe ich mich gefragt: Hab ich Bock, diesen Nagellack-Moment mit Anna-Sophie Dreussi zu teilen? Und ich glaube, genau mit ihr möchte ich diesen Moment teilen.”

Meine Cousine ruft mich zurück. Sie nennt Corona die ganze Zeit “Yung Covid” und ist auch sonst einfach sehr cool. Sie fährt nämlich ins Comic-Museum in Basel.

“Bleib flexible“, sagt sie mir zum Abschied.

Ich rufe den Kontakt “K. not from New York” an. Ich weiß, nicht mehr, wie dieser Name zustande gekommen ist. Er ist Stammgast in einem Club, in dem ich an der Garderobe gearbeitet habe. Er ist so groß, dass er sich wahrscheinlich einmal falten muss, wenn er in einer Telefonzelle telefonieren will. Er wohnt in einem verrückten Haus mit Einfahrt und einem Tor mit Kamera. Da war ich einmal, um Just Dance auf der Wii zu spielen.

“Anna!”

“Wie geht’s dir?”

“Mir geht’s immer gut, wenn Anna from New York anruft.” Er bezeichnet mich als “ne Lustige” und ich finde er hat Recht. 

“Wenn ich wieder mal in Zürich bin, dann sag ich Bescheid.”

“Ja, klar, dann kommst du vorbei.”

Ein Typ, der mit mir in dem eben erwähnten Club gearbeitet hat, geht mit einer Leichtigkeit durch die Smalltalk-Talking-Points: Gute Laune und schönes Wetter.

“Es geht mir sehr gut. Ich habe gerade Rösti und ein Vegi-Schnitzel gegessen. Jetzt trinke ich Kaffee in der Sonne.”

Ich lernte diesen Typen kennen, kurz nachdem ich bei einem Dealer im Auto über seine Michael Bublé-CD geredet hatte. Ich wollte die ganze Straße kennen. Statt der ganzen Straße lernte ich dann einen Typen kennen, über den ich nur noch weiß, dass sein Sternzeichen und sein Aszendent Skorpion sind. 

“Ich finde irgendwie sick, was du hier machst. Gibt mir gerade ein bisschen Hoffnung in dieser Zeit der sozialen Distanz.” Wenn es wärmer wird, will er mich auf Raves einladen. 

Im Smalltalk ist die Zukunft schön und das ist zur Abwechslung ganz gut. Ich darf im Sommer dann bei einem früheren Arbeitskollegen auf der Dachterrasse grillen. Ein Typ, den ich über einen gemeinsamen Freund kenne, mit dem wir uns beide zerstritten haben, wünscht sich ein Barbecue mit uns allen und ich weiß nicht, wer wir alle sind, aber ich wünsche mir das auch. Wir einigen uns auf eine Zukunft in der alles passiert. Ich scheine mit all diesen Leuten im Gang zwischen Toilette und Tanzfläche eines verrauchten Clubs zu stehen. Wir kennen uns seit vier Minuten und schmieden Pläne für den nächsten Tag. Am nächsten Tag schaffen wir es wahrscheinlich dann nur in die Küche, um ein Schlemmerfilet aufzutauen. Aber gerade wollen wir alles teilen. Drehtabak, Prosecco, morgen.

Ein Typ mit dem ich schon mal geknutscht habe, erinnert mich bei unserem Telefonat daran, dass wir einander versprochen haben, nie über die andere Person zu schreiben. Also lasse ich es.

“Und rufst du wirklich alle an?”, fragt mich ein Kommilitone.

“Ja, außer meinen Stalker-Ex-Typen. Wenn ich den anrufe, denkt er wahrscheinlich wir heiraten. Und ich habe gerade keine Zeit für eine Hochzeit.” Ich habe erst die Hälfte der Kontakte durch.

Ich rufe einen Freund an, den ich nur kenne, weil ein Selfie von mir auf dem Cover seiner EP gelandet ist. Als er mich dann das erste Mal außerhalb des Covers sah, nahm er mich mit auf eine Geburtstagsparty. Da microdosten alle und ich verstauchte mir das Handgelenk. Jetzt kennt er mich ziemlich gut.

“Ich habe mir vier Zahlen tätowieren lassen.”

“Welche Zahlen?”

“Eins, drei, eins und zwei.”

“Das sind gute Zahlen.”

Jemand der nicht telefonieren kann, weil er seine Bachelorarbeit fertig schreibt, will einen Seitenhieb über sich lesen. Das hier ist er.

Kurz habe ich wirklich Angst zu telefonieren. Stell dir vor, du bist verliebt und es ist ein Typ der glaubt, ein Acid-Trip hilft gegen deine Zwangsstörung. Ich bin geheilt. Also nicht von der Zwangsstörung, aber vom Verliebtsein. Ich habe mit diesem Typen nicht mehr geredet seit wir uns vor zehn Monaten heulend an einer Straßenecke verabschiedet haben.

Ich bin fast schon überrascht, dass er existiert, ohne dass ich ihn in meinen Gedanken idealisiere. Außerhalb meines Kopfs geht es ihm ganz gut. Sein Tag läuft OK. Das Buch, das ich ihm geliehen habe, hat er weiterverliehen. Unverschämt, aber eigentlich ist mir das auch ein bisschen egal. “Schön, von dir zu hören”, sagt er. Das finde ich auch.

Mein Mitbewohner nimmt meinen Anruf entgegen. 

“Hi, ich bin Anna. Vielleicht erinnerst du dich an mich, manchmal sehe ich dich im Flur.”

“Ja, stimmt, jetzt wo du’s sagst. Auch manchmal in der Küche, oder?”

Ich frage ein Tinder-Date vom Sommer, das selten etwas Falsches sagt, nach Gossip. Er erzählt mir von einem Freund, der über seine Ex-Freundin gelästert hat.

“Ich würde irgendwie nicht wollen, dass mein Boyfriend über mein Gesicht sagt, dass es aussieht wie ein Schrank”, sage ich.

“Na ja, könnte auch ein schöner Schrank sein.”

Ein Mann, den ich vor drei Jahren auf einer Geburtstagsparty kennengelernt habe, weiß nicht mehr, wer ich bin. Er erzählt mir von seiner Ex-Freundin. Und deshalb will ich auch etwas offenbaren.

“Ich bin ja nicht besonders extrovertiert. Ich hatte also einen sehr aufregenden aber auch anstrengenden Tag mit all diesen Telefonaten. Jetzt nach acht Stunden telefonieren, zittere ich ein bisschen.”

“Kann ich dir etwas auf den Weg mitgeben?” Er erzählt mir, dass er früher etwas rundlicher war und nicht besonders selbstbewusst. “In meiner Kochausbildung im Hotel wollte ich dann nie die Eierstation übernehmen, weil man da vor Leuten kochen muss.” Durch solche Aufgaben wird man selbstsicherer.

Ein paar Stunden später bekomme ich eine Nachricht. “Nach ganz vielen Überlegungen kann ich sagen: Jetzt weiß ich’s wieder.” Puh.

Ich telefoniere neun Stunden. Nicht alle 220 Leute nehmen meinen Anruf entgegen. Aber von den Leuten, die ich erreicht habe, verabschiede ich mich immer mit einem “Bis bald!”.

An der Eisdiele bei mir an der Ecke hängt ein Zettel, der ankündigt, dass es “bald” Eis geben wird. Das schon seit Tagen. Und ich frage mich, welches bald sie meinen, das von gestern oder das von heute. Ich will, dass bald jetzt ist. 

Und eigentlich will ich, dass alle Balds, die ich heute allen versprochen habe, jetzt sind. Vielleicht ist es fast schon tragisch, mit was für einem Optimismus wir uns an ein Danach klammern, aber vielleicht auch nicht. Ich bin froh, dass wir morgen teilen. Wir teilen die Ungeduld. Bis bald, ja?

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