Im Frühling 2015 machte ich mich auf die lange Reise an die Westküste der USA, um eine Woche mit Gary zu verbringen. Gary gehört zu den Pädophilen, die zwar zu ihrer Neigung stehen, diese aber nicht ausleben. Ich hatte arrangiert, mich mit einigen dieser Pädophilen zu treffen und sie zu fotografieren. Ich wollte verstehen und dokumentieren, was es heißt, sich zu Minderjährigen hingezogen zu fühlen.
Gary ist Mitglied einer Online-Community von Menschen, die diese “ungewollte sexuelle Anziehung” verspüren. Die Gruppe nennt sich “Virtuous Paedophiles” bzw. “VirPed”, weil der Großteil der Mitglieder von sich selbst behauptet, noch nie mit einem Kind sexuell interagiert zu haben – und sie das auch in Zukunft nicht wollen.
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Gary hat zudem noch die Association for Sexual Abuse Prevention (ASAP) gegründet, eine NGO, die Pädophilen professionelle Hilfe vermittelt. “Die Gruppen vermindern bei mir das Risiko, meinem Drang nachzugehen. Ich betrachte mich aber nicht als großes Risiko. Ich habe mich mit meiner Pädophilie abgefunden”, sagte er. “Ich lebe sie nicht aus und bekomme so auch keine Probleme.”
Als ich mich der Community als Dokumentarfotograf vorstellte, erwartete ich ein gewisses Maß an Skepsis oder gar Angst. Ich ging ja davon aus, dass diese Menschen in ständiger Gefahr leben werden, wenn sie nicht mehr anonym sind. Die Männer hatten jedoch schon lange auf jemanden gewartet, dem sie ihre Geschichte erzählen können. So baute ich über mehrere Monate hinweg eine Vertrauensbasis zu einigen Forumsmitgliedern auf und kündigte anschließend meinen Besuch an. “Alex, ich werde um 23:30 Uhr in einer hellblauen Jacke am Flughafen auf dich warten.” – Gary
Während des Fluges realisierte ich langsam, was ich da eigentlich vorhatte, und wurde nervös. Als mich Gary dann für eine Woche in sein Leben aufnahm, fühlte ich mich allerdings schnell so wohl, dass mein Bild von ihm immer weniger von seiner sexuellen Neigung bestimmt wurde. Bei den anderen Pädophilen lief es genauso. Soweit ich das beurteilen konnte, handelte es sich bei ihnen um normale Menschen, die ihr Leben mit einer ungewollten Bürde so gut wie möglich meistern wollen.
VirPed will ein Hilfsnetzwerk bieten, das von offizieller und therapeutischer Seite nicht bereitgestellt wird. Zwar gibt es Einrichtungen, an die man sich nach einem sexuellen Vergehen wenden kann, aber Menschen, die ihren Trieben nicht nachgehen, bringt das nur wenig. Viele der VirPed-Mitglieder, mit denen ich gesprochen habe, sind der Community jedoch nicht beigetreten, um ihre Neigung im Zaum zu halten. Für sie ist die Gemeinschaft ein Weg aus der Einsamkeit und den Depressionen, die mit der Geheimhaltung der Pädophilie einhergehen.
Sammy, ein VirPed-Mitglied, sagte: “Gefühle für ein Kind zu haben, ohne mit irgendjemandem darüber sprechen zu können, ist so, als säße man auf einer einsamen Insel fest.” Man sei so isoliert, dass der eigene Verstand Stück für Stück verloren gehe. “Menschen sind soziale Wesen. Wir müssen mit vertrauten Personen über Dinge reden können, die uns auf dem Herzen liegen.” Bei einem solchen Tabuthema wie Pädophilie gebe es aber kaum eine Möglichkeit, irgendwie darüber zu sprechen.
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Viele Forumsneulinge gehen davon aus, dass sich Missbrauch nicht vermeiden lässt, weil die Neigung ihrer Meinung nach zwangsläufig zur Handlung führt. Auch Gary kam sich 50 Jahre lang wie eine “tickende Zeitbombe” vor. Dazu kommt das Risiko, an die falschen Leute (beispielsweise Pro-Pädophilie-Gruppierungen wie NAMBLA) zu geraten. Wenn Pädophile da keine Möglichkeit haben, über ihre Gefühle zu sprechen, kann es schnell passieren, dass sie ihrem Verlangen nachgeben.
Man muss klar anmerken, dass viele Behauptungen der VirPed-Mitglieder nicht nachgewiesen werden können. Vielleicht nutzen manche die Plattform nur als eine Art Verschleierung. Vielleicht sahen einige mein Fotoprojekt als eine Möglichkeit zu zeigen, dass sie nichts zu verbergen haben. Ich kann definitiv verstehen, wenn Betrachter skeptisch sind.
Auch bei Gary gibt es keine Garantie, dass er nie etwas Falsches getan hat. Vor einigen Jahren warf ihm die biologische Mutter seiner drei ehemaligen Pflegekinder vor, eines der Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Die Polizei konnte ihm allerdings nichts nachweisen und auch das angebliche Opfer entlastete Gary. Die inzwischen 20-Jährige hat vor Kurzem jedoch ihre Meinung geändert und ist sogar im Fernsehen aufgetreten, wo sie ihre alten Pflegeeltern konfrontierte und anprangerte. Auf meine Bitte nach einer Stellungnahme hat sie nie reagiert.
Die folgenden Bilder sind Teil der Serie, die ich 2015 gemacht habe. Sie erzählen die Geschichten vor vier pädophilen Männern aus der VirPed-Gemeinschaft und zeigen, mit welchen Problemen sie im Alltag zu kämpfen haben. Von außen scheint es leicht zu urteilen, welcher der Männer ein “rechtschaffenes” Leben führt und wer nicht. Für mich war es jedoch wichtig, jedem von ihnen die gleiche Plattform zu geben. Nur so konnte ich herausfinden, wie sie ihre Triebe selbst verstehen und damit umgehen.
GARY
Wenn Gary sich gegenüber Therapeuten und Sachverständigen geoutet habe, sei er wiederholt abgelehnt, verletzt und vorverurteilt worden. Obwohl er immer beteuerte, niemals seine Neigung zu Minderjährigen ausgelebt zu haben. “Aufgrund meiner sexuellen Ausrichtung von der Universität geschmissen zu werden, war definitiv die traumatischste Erfahrung, die ich machen musste”, sagt er. “Von der Bundespolizei befragt zu werden und Hausverbot im einzigen Krankenhaus unseres Countys zu haben, war auch kein Spaß. 1999 hat mich eine Rechtsberaterin fallengelassen, ohne mir andere Kollegen zu vermitteln. Als ich mich vor ihr als Pädophiler geoutet habe, ist sie total durchgedreht und hat gesagt: ‘Ich kann das nicht.’ Sie weigerte sich, sich auch nur ein weiteres Mal mit mir zu treffen.“
Gary schließt die Kirche auf, um einen Selbsthilfekurs im Stile der Anonymen Alkoholiker vorzubereiten. Er leitet diese Sitzungen, um den Einwohnern bei Problemen wie Sucht und Depressionen zu helfen. Als Mitglied der Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten dreht sich Garys Leben um Religion. Mit Unterstützung seiner Familie und anderer Gemeindemitglieder konnte er 2014 den Bau der Kirche fertigstellen.
Auf dem Weg zu einem Besuch bei seiner Tochter hat Gary ein Treffen mit Sammy verabredet, einem anderen VirPed-Mitglied. Er kennt Sammy schon seit Jahren aus dem Online-Forum, aber erst jetzt kam es zu einer echten Begegnung. Auf dem Foto sieht man beide bei einer Unterhaltung auf der Veranda des Motels, das sie als Treffpunkt ausgemacht hatten. Aufgrund des gravierenden Stigmas, mit dem Pädophilie behaftet ist, spielt Anonymität eine fundamentale Rolle dabei, VirPed zu einem sicheren und aufgeschlossenen Ort für Menschen zu machen, die sich zu Minderjährigen hingezogen fühlen. Solche Treffen außerhalb des Forums sind daher eine absolute Seltenheit.
SAMMY
Sammy ist sich seit 20 Jahren seiner Neigung bewusst. “Als ich etwa 15 war, entwickelte ich Gefühle für eine Dreijährige”, sagt er. “Von diesem Moment an konnte ich nicht weiter leugnen, dass ich ein Pädophiler bin.”
In den frühen Tagen des Internets, bevor es VirPed und ähnliche Foren gab, suchte Sammy Schutz und Bestätigung in Pro-Kontakt-Foren – Online-Chat-Gruppen, die offen sexuelle Handlungen mit Minderjährigen befürworten und sogar dazu ermutigen. “Ich fand eine Seite. Dort sagten sie mir: ‘Ja, Menschen verlieben sich in Kinder und das ist OK so.’ Es tat wirklich gut, so etwas zu hören. Dazu gab es aber auch ein paar extrem abartige Aussagen. Ihre Rhetorik hat mich allerdings nie genug überzeugt, meine Neigung im echten Leben auszuleben. Ich hatte aber das Gefühl, dass ich ihnen etwas schuldig bin. Schließlich hatten sie mein Leben gerettet.”
Sammy rasiert sich für eins der Dutzenden Vorstellungsgespräche, die er in den Wochen hatte, in denen ich ihn begleitete. Nach viel Selbstverleugnung hatte er sich schließlich eingestanden, dass er Gefühle für die Tochter der Schwester seiner Ex-Frau entwickelt hatte. Um diese Gefühle zu unterdrücken, begann er, Marihuana zu rauchen. Als er nach einer Beförderung bei der Arbeit einen Drogentest machen musste, wurde er gefeuert.
JACK
Jack ist ein ehemaliges VirPed-Mitglied und ein regelmäßiger Teilnehmer von Garys ASAP-Selbsthilfegruppe. Er hat VirPed vor einigen Jahren verlassen, weil er es nicht OK findet, seine eigene Neigung zu Minderjährigen zu akzeptieren – auch wenn man ihr nicht nachgeht. Er sieht seine Orientierung als einen Defekt, den er unterdrücken muss. Zu ASAP geht er trotzdem weiter, da dort lediglich über die Vermeidung von sexuellem Missbrauch gesprochen wird.
Im Zeitraum zwischen 1967 und 1989, beginnend im Alter von 14 Jahren, hat Jack laut eigener Aussage über 300 Jungen unangemessen angefasst. Jack ist in einem Kinderheim aufgewachsen. Dort, so erzählt er, sei er von Mitarbeitern und älteren Kindern geschlagen, missbraucht und vergewaltigt worden. Er kam mit Polio auf die Welt, war schwach und konnte sich als Kind nicht wehren, was ihn in eine Opferrolle drängte. “Ich gebe nicht der Institution die Schuld für das, was ich getan habe”, sagt er. “Sie haben mir vielleicht das Verhalten beigebracht, aber ich war derjenige, der die Entscheidungen getroffen hat. Ich übernehme die Verantwortung für diese Entscheidungen – die guten wie die schlechten. Ich spreche offen über mein Leben. Ich verstecke mich nicht hinter meinen Verbrechen.” Jack sagt, dass er seit 1989 nicht wieder übergriffig geworden ist.
“Meine Verbrechen waren sehr kalkuliert, sehr durchdacht”, sagt Jack. “Ich besaß nur so viele Dinge, wie in mein Auto gepasst haben. Dadurch konnte ich schnell von Ort zu Ort ziehen, sobald ich das Gefühl hatte, dass mir die Polizei auf die Schliche kommt. Ich zog von Dorf, zu Kleinstadt, zu Großstadt. Über Nacht war ich wieder verschwunden. Ich habe nie einen Mietvertrag unterschrieben und absichtlich nur monatlich bezahlt. Mein ganzes Leben drehte sich darum, meinen Trieben nachzugehen. Und ich tat alles dafür, es umzusetzen. Das war kein Zufall. Alles war durchgeplant.”
Jacks Mantra “Not Today! Not Ever Again!” steht auf jeder Oberfläche seines Alltags geschrieben: unter anderem auf seinem Badezimmerspiegel, in seiner E-Mail-Signatur und als Tätowierungen auf seinen Handgelenken. “Ich habe so vielen so vieles genommen. Ich werde niemals genug zurückgeben können – niemals”, sagt er. “Selbst wenn ich doppelt so lange leben würde. Ich könnte nie wieder gutmachen, was ich getan habe. Ich strenge mich nicht so an, damit ich nicht wieder ins Gefängnis muss. Ich strenge mich so an, damit ich nie wieder übergriffig werde. Ich will keinem Kind mehr wehtun.”
Jack leidet immer noch unter den Spätfolgen seiner Polio-Erkrankung. Deswegen hat er einen Pfleger, Kenny (oben), der seit 2011 bei ihm wohnt und sich kostenlos um Jack kümmert. “Es war Mitgefühl, das mich dazu bewegt hat, Jack helfen zu wollen. Daraus hat sich langsam eine Freundschaft entwickelt. Die ist auch teilweise der Grund, warum ich immer noch hier bin”, sagt Kenny. “Ich hatte Jack schon ein Jahr lang gepflegt, als er eines Tages zu mir meinte: ‘Ich muss dir etwas sagen und ich bitte dich darum, mich nicht zu verurteilen.’ Er hat mir alles erzählt. Ich bin kein Mensch, der andere gerne verurteilt.”
Kenny zündet eine Lampe auf Jacks verbarrikadierter Veranda an. Kenny – der sagt, als Kind selbst missbraucht worden zu sein – spielt eine zentrale Rolle dabei, Jack davon abzuhalten, wieder übergriffig werden. Die Holzbretter, die Jacks Veranda blockieren, hat Kenny dort installiert, damit er die Kinder, die vor seinem Haus spielen, nicht beobachtet. Wenn Jack einen kleinen Jungen in der Öffentlichkeit entdeckt, ruft er sofort Kenny, um ihm Bescheid zu sagen. “Das nimmt mir das Geheimnis ab und damit auch die Macht, die dieses Geheimnis hat”, sagt Jack.
IAN
Ian ist ein weiteres Mitglied von VirPed. Auch wenn er sich bereits als Jugendlicher seiner Neigung bewusst wurde, hat er es nie für nötig gehalten, sich zu outen oder externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er sagt, er habe früh gelernt, sich selbst so zu akzeptieren, wie er ist. Auf VirPed wurde er aufmerksam, weil er mit Menschen sprechen wollte, denen es ähnlich geht. “Ich bin froh darüber, mit den tollen Menschen hier sprechen zu können. Das ist bereits mehr, als ich mir von meinem Leben je erhofft habe”, sagt er.
Ian ist mit seinem Mann verheiratet, mit dem er bereits seit neun Jahren zusammen ist. Bis heute hat er sich aber weder vor ihm noch sonst irgendjemandem in seinem Leben geoutet. “Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, mich vor meinen Mann zu outen. Ich will aber keine Kurzschluss-Entscheidungen treffen. Es gibt so viele Dinge, die ich dabei bedenken muss. Würde es die Beziehung verbessern? Wäre es nur eine ständige Belastung, mit der wir dann beide fertig werden müssen? Gibt es irgendeinen Grund, warum ich ihn mit etwas belasten sollte, das ich auch problemlos alleine schultern kann?”, sagt Ian.
Ian hilft seiner kleinen Schwester mit ihrem Auto. Er hat eine enge Beziehung zu seiner Familie und spürt den Drang, eine eigene zu gründen. Er und sein Mann sprechen gerade darüber, ob sie ein Kind adoptieren wollen. “Ich habe Angst, dass ich eine Anziehung zu Kindern entwickle”, sagt er. “Ich rede mir zwar gerne ein, dass ich überreagiere, aber ich bin auch der Meinung, dass es den Umgang mit möglichen Problemen nicht gerade vereinfacht, wenn man sie ignoriert. Ich würde mich nicht in eine Situation bringen wollen, in der ich ein Kind habe, um dann acht Jahre später plötzlich zu merken, was ich mir eingebrockt habe.”
Ian arbeitet in einem speziellen Heim, das vernachlässigte und missbrauchte Kinder aufnimmt. Er wurde persönlich für diesen Job vom Wochenend-Aufseher des Heims ausgewählt. Der weiß allerdings nichts von Ians Neigung. “Ich habe viel über meinen Beruf nachgedacht. Lange Zeit habe ich mich gefragt, ob ich diesen Job wirklich machen sollte. Ich bin dann aber zu dem Schluss gekommen, dass es viele Menschen gibt, die sich zu den Menschen, mit denen sie arbeiten, hingezogen fühlen. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen ihren Job nicht tun sollten. Es heißt einfach nur, dass du mit deinen Gefühlen wie ein Erwachsener umgehen musst.”
Ian sucht in einer Kinderbuchabteilung nach Büchern, die er für die Kinder bei seiner Arbeit kaufen kann. “Ich will, dass diese Kinder erfolgreich werden und ein glückliches und normales Leben führen. Die Kinder wissen das und reagieren entsprechend darauf. Ich glaube nicht, dass ich so interessiert an den Kindern oder ihrem Wohl wäre, wenn ich nicht pädophil wäre. Diese Gefühle zu etwas Positivem zu kanalisieren, macht es wert, mich mit den unangenehmen Momenten meiner Neigung auseinandersetzen zu müssen. Die Pädophilie ist ein Teil von mir. Ich könnte daran nichts ändern, ohne zu ändern, wer ich bin. Meine Erfahrungen – selbst die schlechten und unangenehmen – machen mich zu einem besseren Menschen und nicht zu einem schlechteren. Klar macht es die Dinge schwieriger, aber dieser Aspekt macht auch nicht meine ganze Existenz aus. Meine Identität basiert nicht darauf, zu wem ich mich hingezogen fühle. Mir gefällt, wer ich bin, und ich genieße mein Leben. Ich würde es gegen nichts in der Welt eintauschen.”
*Einige Namen wurden geändert.