So wirklich gemocht hat die Schulzeit niemand. Selbst die Coolen und Sportlichen mit den schicken Markenklamotten, die auf dem Schulhof von allen angehimmelt werden, überstehen diese Phase ihres Lebens nicht, ohne ein paar Tränen zu vergießen.
Unsere Schulzeit prägt uns so sehr, dass sie uns unser Leben lang begleitet. Auch Jahre später ist uns nicht egal, was unsere ehemaligen Mitschüler von uns denken. Wir wollen ihnen zeigen, was wir alles geschafft haben. Wir wollen, dass sie von uns beeindruckt sind. Das ist eigentlich auch der einzige Grund, warum wir heute noch Facebook benutzen.
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Aber was ist, wenn die tollen Pläne nicht aufgehen, man gefühlt nichts vorzuweisen hat? Was ist, wenn du dich seit deinem Abschluss überhaupt nicht weiterentwickelt hast?
Dürfen wir vorstellen: Stephen
Für Stephen lief die Schulzeit nicht so toll. An seiner High School fühlte er sich unsichtbar und flüchtete sich in seine Jazz-Band. Jazz wurde dadurch ein dermaßen zentraler Teil seines Lebens, dass er auch an der Uni Jazz studierte.
Während er versuchte, als Musiker in der Großstadt Baltimore über die Runden zu kommen, schwebte noch etwas anderes über ihm: die Zahnarztpraxis seiner Eltern in der Kleinstadt Columbia. Stephens Vater träumte davon, dass sein Sohn sie eines Tages übernehmen würde. Also studierte Stephen auch noch Zahnmedizin. Jetzt stand sein Vater kurz vor der Rente, aber Stephen hatte sich immer noch nicht entschieden, ob er wieder in seine Heimatstadt zurückziehen wollte. Und als wäre das alles nicht genug, kam jetzt auch noch die Einladung zum zehnjährigen Klassentreffen.
VICE-Video: Ich habe Doppelgänger für mich im Radio und Fernsehen auftreten lassen
Stephen hatte Angst, dass seine alten Mitschüler denken, er hätte als Musiker versagt. Und weil er ja vielleicht bald in die Fußstapfen seines Vaters treten und damit der Zahnarzt von alten Freunden, Feinden und Angebeteten werden könnte, wollte er unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen.
Zum Glück stieß er im Internet auf eine Anzeige.
Das ist meine “App”, über die du dir einen Doppelgänger bestellen kannst.
Stephen schickte folgende Anfrage:
“Ich möchte einen besser aussehenden und erfolgreicheren Doppelgänger zu meiner zehnjährigen High-School-Reunion schicken.”
Auf nach Columbia, Maryland
Als wir uns am Morgen der Feier treffen, ist Stephen total aufgekratzt – verständlicherweise. Als erstes will er seinen Eltern von seinem Plan erzählen.
Sie reagieren überraschend gelassen.
“Ich will jemanden, der als Musiker um die Welt gereist ist und einen Haufen schöner Geschichten zu erzählen hat”, sagt Stephen. “Jemanden, der umgänglicher ist als ich.”
“Aber Stephen, du bist doch so freundlich, du bist sehr charismatisch. Du solltest dich nicht so schlecht machen!”, unterbricht ihn seine Mutter.
“Entspann dich – OK, Mom?”
Während wir Stephens Idealvorstellungen für sein Double weiter präzisieren, stoßen wir auf ein traumatisches Erlebnis, das ihn bis heute verfolgt. Vor etwa zwölf Jahren spielte er bei einem Schulfest mit der Band auf der Bühne. Es sollte sein großer Augenblick werden. Er wollte mit seinem Saxophon-Solo alle von den Socken hauen. Endlich würden die Leute ihn beachten!
Stephen trat also mit seinem Saxophon an den Bühnenrand und drehte sich um. Auf der Rückseite seines T-Shirts stand “Chicks Dig Me”. Die Menge johlte – aber nicht etwa weil sie den Spruch so geil fand.
Das hier war, was das Publikum sah.
Stephens Hintern hatte sein Shirt gefressen. Diese Erniedrigung brannte sich tief in sein Bewusstsein ein. Er würde gerne einen Reset-Button drücken.
“Warum willst du nicht selbst zum Klassentreffen gehen, Stephen?”, frage ich. Er seufzt und schaut nach draußen in den Regen.
“Ich glaube, viele Menschen haben ihren Weg gefunden und die Schule hinter sich gelassen. Sie haben Karrieren und Familien.” Er macht eine Pause. “Meine Laufbahn war da etwas anders. Ich bin von der Musik zur Zahnmedizin gewechselt. Eigentlich dachte ich, dass ich überall landen könnte, und jetzt lasse ich mich in meinem Heimatort nieder.” Stephen schluckt. “Ich bin nicht wirklich da, wo ich jetzt gerne wäre.”
“Glaubst du, die Leute aus deiner Schule werden sich an dich erinnern?”
“Die meisten wahrscheinlich nicht.”
Der neue und verbesserte Stephen
Das hier ist Aaron, ein Hollywood-Schauspieler. Er hat Tattoos, eine E-Gitarre und wird heute Abend Stephen spielen. Das sind seine Aufgaben:
1. Alle überzeugen, dass er Stephen ist – ein cooler und erfolgreicher Musiker.
Um ihm dabei zu helfen, habe ich in den vergangenen Tagen schon Tourposter in Columbia aufgehangen. Nichts funktioniert besser als unterschwellige Nachrichten.
Ich habe die Band dann auch The Right Guy genannt. Wenn seine ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler ihn dann am Abend sehen, denken sie unterbewusst direkt an die Poster. “Der richtige Typ.” Ganz schön schlau, was?
2. Zu den Coolen gehören, indem er sich mit Jesse anfreundet – dem Stufenliebling.
3. Stephens High-School-Schwarm Katie beeindrucken.
Wir haben allerdings erfahren, dass sie es doch nicht zum Treffen schaffen wird. Konzentrieren wir uns also auf die ersten beiden Punkte.
Jetzt muss Aaron noch zu Stephen werden. Kümmern wir uns als erstes um …
… seine Haare …
… mit dem richtigen Werkzeug kein Problem.
Jetzt müssen wir seine Augen von blau in braun verwandeln.
Fertig.
Das Treffen
Es ist ein kalter Novemberabend in Columbia. Im örtlichen English Pub mit dem kreativen Namen Union Jack’s ist einiges los.
Stephen und ich bringen uns auf der anderen Straßenseite in Stellung, undercover in einem Lieferwagen. Um heimlich bei den Unterhaltungen über Arbeit, alte Rivalitäten und Herzschmerz mithören zu können, haben wir den ganzen Laden verwanzt – und unter falschem Vorwand eine Kameracrew reingeschickt.
Stephen 2.0. trifft ein. Selbstsicher öffnet er die Tür.
Aaron schnappt sich ein Namensschildchen und einen Drink, beobachtet seine Umgebung, dann ergreift er die Initiative.
“Erinnerst du dich an mich?”, fragt er eine Frau. Die ehemalige Mitschülerin überlegt einen Moment und schaut ihn prüfend an.
“Ich erinnere mich an deinen Namen.” Ihre Augen ziehen sich misstrauisch zusammen, als plötzlich die Musik ausgeht. Ein Mann springt auf einen Tisch.
Es ist Jesse, der Jahrgangsliebling. Er hält eine mitreißende Rede. Als er sie unter Prost-Zurufen beendet, wittert Aaron seine Chance.
“Jesse!”
Jesse bleibt stehen. Seine Augen gehen zu Aarons Namensschild und dann wieder hoch.
“Stephen Fasteau! Wusste ich’s doch. Schön, dich zu sehen!” Sie umarmen sich.
“Du siehst gut aus”, sagt Jesse, während sie Geschichten austauschen. Es scheint so, als sei Stephen jetzt wirklich in den Kreis der Coolen aufgenommen worden!
Als nächstes macht ihm sogar ein alter Bandrivale ein Kompliment für seinen Look.
Als eine Frau fasziniert Aarons Tourgeschichten lauscht, wird uns klar, dass Stephen 2.0 genau der Typ ist, den man in der Schule immer bewundert hat. Es läuft bestens.
Aber dann passiert etwas.
“Du bist nicht Stephen Fasteau.”
Unseren Informationen zum Trotz ist plötzlich Katie aufgetaucht – Stephens alter Schulschwarm – und sie glaubt Stephen 2.0 kein Wort.
Lautstark fragt Katie vor allen anderen Aaron über ihre gemeinsame Zeit aus.
Schon bald ist Aaron von Katies Freundinnen umzingelt und wird regelrecht verhört. Schnell bekommen auch die anderen im Raum mit, was hier vor sich geht. “Genau wie in der High School”, sagt Stephen neben mir im Lieferwagen zu sich selbst.
Da die Stimmung zu kippen droht, müssen wir intervenieren und hier irgendwie rauskommen. Ich ziehe mir schnell eine Koch-Uniform an und betrete den Pub.
Ich gebe Aaron ein Stück Esspapier und verschwinde wieder in Richtung Küche. Auf dem Esspapier stehen drei Worte: CHICKS DIG ME.
Aaron hat jetzt die Gelegenheit, etwas gutzumachen. Er schnappt sich die Gitarre, die wir im Raum platziert haben, und fordert lautstark, dass die Musik ausgemacht wird.
“Ihr kennt mich alle als Saxophonisten. Aber das hier habt ihr noch nie gesehen!”
Aaron liefert ein geiles Gitarrensolo ab, alle verstummen.
Dann, hörbares Staunen. Aaron zieht sein Hemd aus, dreht sich um und zeigt dieses Henna-Tattoo.
Wenn ich hier überhaupt etwas geschafft habe, dann den peinlichsten Moment aus Stephens Schulzeit noch schlimmer zu machen. Aber jetzt erntet er kein Gelächter oder Schadenfreude, seine Mitschüler sind wütend. Neben mir im Lieferwagen sieht Stephen komplett desillusioniert aus. Ich frage ihn, ob er OK ist.
“Ich weiß nicht. Ich habe diese Menschen zehn Jahre nicht gesehen. Wird das jetzt meine Karriere ruinieren? Als Zahnarzt hier in der Gegend. Aber hey, ich habe mir das ja schließlich ausgesucht.”
Dann nehmen wir inmitten des ganzen Stimmengewirrs etwas wahr.
“Wo ist der echte Stephen?”
“Das ist echt schade. Ich hätte ihn gerne sehen.”
Da dämmert es uns: Die Leute sind nicht sauer wegen der Show. Sie sind sauer, weil sie Stephen sehen wollen. Sie haben ihn vermisst. War Stephen in der Schule vielleicht gar nicht so unsichtbar, wie er immer dachte?
Stephen reißt sich das Kabel runter, wirft seine Baseballmütze weg und stürmt aus dem Lieferwagen.
Während er über den Parkplatz läuft, rufen die ersten betrunken seinen Namen. Er betritt den Saal …
… und wird unter Jubel und voller Herzlichkeit empfangen. Menschen, von denen Stephen dachte, dass sie ihn gar nicht erkennen würden, belehren ihn eines Besseren. Eine alte Schulkameradin, die für Stephens Vater in seiner Zahnarztpraxis gearbeitet hat, erzählt ihm, wie sehr sein Vater sie inspiriert und ihr Leben verändert hat. Die Vorstellung, dass Stephen eines Tages die gleiche Person für jemand anderes werden könnte, beeindruckt sie.
Mit jeder angeheiterten Unterhaltung und Umarmung verschwindet der Stephen, der vermeintlich nicht genug war. Stephen war gut genug, wie er immer war.
Ohne die Hilfe seines Doppelgängers schafft Stephen etwas, das sich sein jüngeres Ich die ganze Schulzeit nicht getraut hat: Er fragt Katie, ob sie Lust auf ein Date hat.