Ich habe einen Käse gegessen, in dem Maden leben

branza cu viermi

Käse liegt von Natur aus einem organischen Prozess zugrunde. Käse wird kultiviert, vermischt, gepresst, geformt und zum Reifen eingelagert. Käse wird mit der Zeit immer käsiger. Käse kann gar nicht aufhören, immer weiter zu reifen – oder im Fall von Schimmelkäse immer weiter zu verfaulen. Du genießt ein Stück cremigen Brie oder leckeren Gorgonzola? Dann genießt du eine langsam vermodernde Lebensform, die nur dank des enthaltenen Schimmels ihr einzigartiges Geschmacksprofil bekommt.

Genau dieser Gedanke schießt mir immer wieder in den Kopf, als ich mir vornehme, mehr über Casu Marzu herauszufinden – den berühmten Schimmelkäse aus Sardinien, der von lebenden Maden befallen ist. Nur eine weitere Form der Fäulnis. Schimmelkäse esse ich auch die ganze Zeit. So anders kann Madenkäse doch gar nicht sein. Genau das rede ich mir einfach ein.

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Für die Bewohner der zweitgrößten Insel Italiens ist der Casu Marzu – zu Deutsch “verdorbener Käse” – ein wichtiger Teil ihrer kulinarischen Kultur. Der Schafsmilchkäse erhält seinen Geschmack und seine Textur durch lebende Maden, die in dem Käse heranwachsen, ihn essen und dann beim Verdauen eine Säure ausscheiden. Aufgrund dieser Säure wird der anfangs harte Käse weich und streichfähig.

Für die Maden kann man quasi den roten Teppich ausrollen. Zuerst wird ein Loch in ein Rad Pecorino geschnitten und dann mit Milch befüllt. Wenn die Milch sauer wird, wirkt sie wie ein Magnet für Fliegen, die ihre Eier in den Käse ablegen. Aus diesen Eiern schlüpfen dann die Maden. Meistens ist der Casu Marzu aber ein glücklicher Zufall – also glücklich, wenn man madigen Käse mag – und entsteht, wenn eine Fliege zufällig ihre Eier in den Pecorino legt, bevor sich die Rinde komplett geschlossen hat.


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Der Casu Marzu wird auf Sardinien schon seit Jahrhunderten gegessen. Der Käse geht dabei zurück auf die Inseltradition des Hirtentums. Und auf die Notwendigkeit, sich an begrenzte Ressourcen und beschwerliche Zeiten anzupassen – so nach dem Motto “Maden haben den Käse befallen? Egal, der wird trotzdem gegessen”. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit hält Casu Marzu jedoch eher für ein cremiges Rad voller potenzieller Magen- und Darmparasiten. Deshalb ist die Herstellung und der Verkauf des Käses seit den 90er Jahren offiziell verboten. Dieses Verbot macht einige Sardinier richtig wütend. Mein auf Sardinien geborener Freund Vanni zeigt sich aber einsichtig: “Man kann doch kein Essen verkaufen, das verdorben ist.”

Trotzdem gibt es immer wieder Bestrebungen, den Casu Marzu zu einem traditionellen Nationalgericht erklären zu lassen, damit die EU-Vorschriften nicht mehr greifen. Und manche Käser versuchen, den Casu Marzu mit “sauberen” Fliegen herzustellen, die vorher nicht schon möglicherweise auf Hundescheiße herumgeflogen sind. Dennoch gilt weiterhin: Wer auf Sardinien Madenkäse essen will, muss ihn entweder selbst produzieren oder irgendwie über ein paar Ecken rankommen.

Für mich ist Vanni mein Casu-Marzu-Kontakt. Als ich ihm von meiner Neugier erzähle, leuchten seine Augen sofort auf. “Ich besorg dir was davon!”, ruft er freudig. “Wenn ich das nächste Mal von Sardinien zurückkomme, essen wir Casu Marzu.”

Moment, ich will doch eigentlich nur mehr über den Käse herausfinden und ihn nicht direkt essen. Ich finde zum Beispiel auch die Pest interessant, lese da aber einfach nur ein Buch. Wenn Vanni allerdings etwas verspricht, dann hält er dieses Versprechen auch. Und wenn der verbotene Käse erstmal vor mir steht, kann ich auch keinen Rückzieher mehr machen.

Genau so kommt es auch. Als Vanni für den Sommer wieder in unser kleines Dorf in den Bergen Umbriens zurückkehrt, fragt er mich direkt, wann ich zur Casu-Marzu-Verkostung vorbeikomme. Ich bitte meinen Mann, mich als moralische Stütze zu begleiten. Da der aber schon Käse ohne lebende Maden hasst, bekomme ich nur ein fröhliches “Auf keinen Fall” zurück.

Der Casu Marzu

Vannis Frau empfiehlt mir, die Augen zuzuhalten, wenn ich den Käse esse. Ansonsten könnten Maden reinspringen. Vielleicht sollte ich mir aber auch die Augen zuhalten, damit niemand meine Tränen sieht? Vanni führt mich in die Küche, wo bereits ein tiefer Topf auf dem Tisch steht. Mein sardinischer Freund ist ganz stolz auf seine Schmuggelware, die er im Kofferraum seines Autos von Cagliari auf das Festland Italiens gebracht hat. Ich kann jedoch an nichts anderes denken als an den stechenden Geruch, der den ganzen Raum erfüllt. Es riecht nach Stinkekäse auf Steroiden – eben so, als hätte man das Ganze an einem richtig heißen Tag sehr lange im Auto stehen lassen.

Feierlich nimmt Vanni zuerst den Deckel des Topfes, dann ein Geschirrtuch und dann den oberen Teil des Käserad weg. Der eigentliche Casu Marzu kommt zum Vorschein. Die Maden sind viel kleiner – maximal zwei Millimeter lang – und weniger ekelhaft, als ich es erwartet habe. Dafür befinden sie sich wirklich im gesamten Käse – keine Chance, irgendwie um sie herum zu essen. Und ohne störenden Deckel fangen sie an, über den Rand des Käses auf den Tisch zu springen. Wie hypnotisiert schaue ich einem der kleinen Würmer dabei zu, wie er sich zusammenzieht und sich dann wie eine Feder nach oben katapultiert. Er landet auf meiner Hose, springt aber augenblicklich wieder weiter.

Vanni schenkt mir ein Glas Cannonau ein. Und für den starken Rotwein bin ich gerade sehr dankbar. Ich frage meinen sardinischen Freund, woher er den Käse habe. Er tut so, als höre er mich nicht. Ich wiederhole meine Frage und Vanni murmelt nur: “Oh, von einem Freund.”

Ein weiteres Foto des Casu Marzu

Schließlich bricht mir Vanni ein Stück Carasau ab. Dabei handelt es sich um ein hauchdünnes, knuspriges Fladenbrot aus Sardinen. Er bestreicht das Stück mit etwas Casu Marzu und vollendet meine Portion mit einer weiteren Scheibe Brot. Wahrscheinlich will er verhindern, dass Maden in meine Augen springen. Wie dem auch sei, der große Moment ist gekommen.

Ich beiße in mein Casu-Marzu-Brot und spüle das Ganze mit etwas Wein herunter. Ich esse weiter und trinke noch mehr Wein. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass sich da gerade lebendige Maden in meinem Mund, Magen und Verdauungstrakt befinden. Ich mache einige neue Erkenntnisse:

  • Casu Marzu schmeckt ziemlich gut. Wenn du auf geschmacksintensive Käsesorten wie Gorgonzola, Stilton oder Camembert stehst, dann ist auch Casu Marzu genau deine Kragenweite. Wenn dir aber alles nach halbwegs mildem Cheddar schon zu viel ist, dann wirst du Casu Marzu hassen.
  • Du merkst die Maden in deinem Mund gar nicht. Trotzdem sind die Tiere noch am Leben, wenn du anfängst, auf ihnen herumzukauen. Solange du diesen Gedanken beim Essen ignorieren kannst, stellt der Verzehr von Casu Marzu kein Problem dar.
  • Du solltest Casu Marzu mit Wein runterspülen. Sonst ist der intensive Geschmack vielleicht etwas zu viel. Und so vergisst du schneller, dass du da Maden isst. Ich trinke nach jedem Bissen eine Schluck. Cannonau enthält 15 Prozent Alkohol. Vanni und ich leeren gemeinsam eine ganze Flasche.
Ein Kind fotografiert eine Frau, die Casu Marzu isst

Obwohl ich mir an diesem Tag schwöre, nie wieder Casu Marzu zu essen, kommt es einige Zeit später doch erneut dazu. Inzwischen sind die meisten Maden bereits gestorben und der Käse ist schon fast aufgegessen. Eigentlich habe ich gelesen, dass man einen Casu Marzu nicht mehr anrühren sollte, wenn die Insekten darin schon schon tot sind. Vanni versichert mir aber, dass ein paar tote Maden noch niemanden umgebracht haben. Und da ich bereits verdorbenen Käse mit lebendigen Maden gegessen habe, fühle ich mich quasi unsterblich. Na dann guten Appetit.

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Dieser Artikel ist zuerst bei MUNCHIES US erschienen.