Jeden Morgen wache ich älter auf als den Tag davor, und jeden Morgen, den ich älter aufwache als den Tag davor, vergesse ich, wie jung ich eigentlich mal gewesen bin. Mittlerweile bewegt sich mein Leben in einer Geschwindigkeit, die mir Panik bereitet. Alles rast an mir in einem Uber X vorbei, während ich mit bei jedem Schritt knackenden Beinen zur Bushaltestelle in einem Außenbezirk von London trotte. Früher habe ich noch regelmäßig nach dem Aufstehen eine dicke Tüte geraucht, jetzt geht ohne Kaffee gar nichts mehr. Mit 25 fühle ich mich ziemlich alt.
Musik war mal etwas, mit dem ich mich richtig gut auskannte—etwas, bei dem mir keiner was vormachen konnte. Die Zeiten sind vorbei. Ich habe das Gefühl, überhaupt nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Ich bin nicht mehr auf dem neusten Stand. Wenn ich mich morgens durch die Facebook-Posts der letzten Nacht lese, fühle ich mich wie 100. Klar, ich weiß immer noch ganz gut, was eigentlich was ist—worüber ich mir allerdings mehr Sorgen mache, ist das, was ich nicht weiß. Wenn es eine Sache gibt, die ich nicht kenne—wenn es eine Sache gibt, wegen der ich mir wirklich Sorgen mache, dass ich sie nicht kenne, dann ist das Tropical House. Ja, was zur Hölle ist eigentlich Tropical House? Ich musste es einfach herausfinden. Ich musste Tropical House lernen. Ich musste eins mit Tropical House werden.
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Tropical House, so wurde es mir jedenfalls erklärt, ist „ein Subgenre des Deep House, das Anfang oder Mitte 2010 auf den Plan trat”, und von dem australischen DJ und Produzenten Thomas Jack berühmt gemacht worden war. Gut, dass war schon mal ein denkbar ungünstiger Anfang. Ich hatte auch noch nie von Thomas Jack gehört. Also machte ich mich über Thomas Jack schlau und fand heraus, dass Thomas Jack neben seiner Eigenschaft als australischer DJ und Produzent auch noch ein 20 Jahre alter australischer DJ und Produzent war, der anscheinend in seinen späten Teenagerjahren ein ganzes Musikgenre aus dem Ärmel gezaubert hat. Als ich 20 war, hatte ich es gerade mal geschafft, weiße von bunter Wäsche zu trennen und halbwegs essbare Nudelgerichte zu kochen. Ich lernte außerdem, dass „seine Sets voll von Spaß und Freude sind. Saxophone, Flöten, Trompeten, alles was du dir denken kannst—Thomas bringt sogar das Jazz Orchester für seinen einzigartigen, massentauglichen Stil mit ein. Als Künstler entwickelt er sich ständig weiter und Thomas wird weiter wachsen und uns täglich aufs Neue überraschen.” Ja gut, das jetzt nicht Nichts.
Aber es reichte ja nicht aus, bloß über Tropical House zu lesen. Ich musste Tropical House erfahren und das auf die einzige, dem Jahr 2015 angemessene Art. Ich musste mich durch Stunden von YouTube-Mixen klicken, die es anscheinend nur in Kombination mit Hochglanzfotos von Strandschönheiten gibt. Das hier, liebe Leserinnen und lieber Leser, war das Kreuz, das ich zu tragen hatte. Hier könnt ihr lesen, was ich auf meiner sonnig, seichten Strandodyssee herausgefunden habe.
TROPICAL HOUSE KLINGT NICHT WIRKLICH WIE DEEP HOUSE
Meine erste Station war dieser bescheiden betitelte Best Of Tropical House Music 2015 Mix. Ich dachte mir, dass es, wenn ich mich mit einem unbekannten Genre vertraut machen will, wahrscheinlich am sinnvollsten sei, bei dem neuen, heißen Scheiß anzufangen. Man muss ja den Finger am Puls der Zeit haben—und, um ehrlich zu sein, ist diese ganze Verehrung der Vergangenheit eine der schädlichsten und rückschrittlichsten Angewohnheiten im Bereich der elektronischen Musik. Nicht alles, was du 1989 in einem Club in Chicago gehört hast, ist zwangsläufig gut.
Die Sache ist nur die, dass ich genau diesen Deep House mag, der sich anhört, als hätte er auch 1989 auf einer Party in Chicago laufen können—ich erwartete also irgendwie, dass sich Tropical House auch ein bisschen so anhört, schließlich waren in den ganzen Texten auch immer Vergleiche zu Deep House gezogen worden. Das hier hatte allerdings mit dem Deep House, den ich kannte, so gar nichts zu tun. Dieser Mix klang nicht wie Ron Trent oder Larry Heard oder Kerri Chandler. Diese Musik hier brachte mich nicht gleichzeitig zum Tanzen und zum Heulen. Hier fehlte einfach das ganze Fundament, diese Seele, dieses Gefühl der schweren Traurigkeit und Sehnsucht, das anscheinend nur der beste Deep House schafft, in einem auszulösen.
Stattdessen hörte sich das hier ein bisschen wie dieser Standard-House, den man im Urlaub manchmal im Lokalradio zu hören bekommt: kitschig, voll von geheuchelter Euphorie und ziemlich ‚Plastik’. Das war Musik, die vielleicht im Hintergrund zu ertragen ist, während du es dir in einem preiswerten Restaurant auf Plastikstühlen bequem machst, das preiswerte Menu del Dia bestellst und den total adäquaten Ausblick auf den total adäquaten Hafen genießt. Oh, und einen „Empire of the Sun” Remix kam ebenfalls darin vor, ich bin mir also nicht ganz sicher, wie akkurat der Titel des Mixes wirklich ist.
DIE TROPICAL HOUSE SZENE WIRD VON LEUTEN DOMINIERT, VON DENEN ICH NOCH NIE GEHÖRT HABE
Da ich natürlich einen Scheiß über die Szene wusste, war ich jetzt nicht wirklich davon ausgegangen, dass ich mich einfach in jeden beliebigen YouTube-Mix einklinken kann und sofort weiß, was Sache ist. Ich hatte aber immerhin gedacht, dass ich vielleicht mal beiläufig ein paar der Acts aufgeschnappt haben könnte. Immerhin habe ich einen nicht gerade geringen Teil meines Lebens damit verbracht, nach Dingen Ausschau zu halten, die mir tierisch auf den Geist gehen. Ich dachte mir also, dass ich vielleicht in einem Prozess selbstzerstörerischer Osmose ein paar der größeren Tropical House-Acts in meinem Hirn abgespeichert hatte. Aber nein. Wer ist Nicolas Haelg? Gibt es Felxprod wirklich? Habe ich Starix, Dan Bravo und Kungs nur für diesen Artikel erfunden? Ich wünschte wirklich, es wäre so.
TROPICAL HOUSE FUNKTIONIERT IM KONTEXT WAHRSCHEINLICH BESSER
Du brauchst nur das Wort „Tropical” zu sagen und sofort bin ich in Gedanken in einer Welt voller Schwimmbecken, Wasserrutschen, keimbefallener Umkleideböden, Tellern voll mit labbrigen Pommes, die man mit lauwarmer Limo runterspült und ein See von Frauen mittleren Alters, die mit dem Kopf über Wasser gemächlich ihre Bahnen ziehen. Wenn du etwas nachhakst, fange ich vielleicht noch damit an, von Softdrinks zu schwärmen oder erzähle dir von der Mango, die ich mir vor ein paar Jahren gekauft habe und die sich traurigerweise als ziemliche Enttäuschung herausgestellt hatte. Das ist Tropical für mich. Dieses Zeug hier, Tropical House, klingt aber gar nicht so Tropical. Geschenkt, dass ich hier in einem Büro sitze und aus Gründen des Nähr- und Unterhaltungswertes auf einem Stift rum kaue, anstatt es mir auf einem Handtuch mit einer nackten Frau drauf an einem Strand von Bali gemütlich zu machen—aber ich fühle mich einfach so gar nicht Tropical. Tatsächlich habe ich es irgendwie hinbekommen, mir den kompletten Tropical House & Deep House Summer Mix 2015 #47 | New Deep & House Music-Mix anzuhören, während ich über Kontoüberziehungen, Clubschließungen, Ofenreiniger, Bausparverträge und KFZ-Steuer nachgedacht—eine Kombination, die wahrscheinlich nicht weniger Tropical sein könnte.
TROPICAL HOUSE IST FÜR MENSCHEN, DIE AUF FESTIVALS MIT SCHLAPPHÜTEN RUMRENNEN
Auch du kennst die Sorte Mensch: furchtbare Lache, bezeichnet Freunde gerne als „BFF”, arbeitet als Junior Account Manager bei einer unbedeutenden PR-Firma, erlaubt sich Freitags einen verwässerten Gin Tonic und gönnt sich Sonntags die verbotene Pizza vom Lieferdienst. Ich meine diese Sorte Person, die dir allein durch ihre bloße Existenz deinen kompletten Tag versauen kann, wenn du im öffentlichen Nahverkehr unvermittelt auf sie stößt. Das sind die Leute, die auf Festivals gehen, um einfach mit besagten BFFs abzuhängen und sich voll darauf freuen, Lindsey Stirling auf der Mainstage zu sehen. Diese Gattung Mensch trifft man in VIP-Bereichen an, wo sie an ihren Proseccos nippen, die Arme mit Armbändern übersät—Zeugnisse ihrer Exklusivität. Tropical House ist die Art von Musik, zu der sie bei der Arbeit mit den Köpfen wackeln. Sie tut keinem weh, ist leicht verdaulich und voller 90er Jahre R’n’B-Hit-Samples. In Verbindung mit etwas Pulled Pork und der Aussicht auf ein kleines Näschen später klingt das doch super, oder?
TROPICAL HOUSE HAT EIN SEXISMUSPROBLEM
Jetzt mal ehrlich, liebe Tropical House DJs, muss das wirklich sein? Ich habe Stunden damit verbracht, mich durch die Untiefen des Internets zu wühlen und auf so ziemlich allem, was mit Tropical House zu tun hatte, prangte ein Frauenhintern—nackte Hintern, Hintern in Bikinis, sandige Hintern—Pobacken so weit das Auge reicht. Echt jetzt?
War ich meinem Ziel jetzt näher gekommen? Vielleicht. Hatte ich verstanden, was den Anreiz von Tropical House ausmacht? Nicht wirklich. Hatte ich eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, was Tropical House ist? Ja. Es scheint eine endlose Flut lahmarschiger, hingerotzter und seelenloser Pophit-Remixe zu sein, die ausschließlich existieren, um im Mittagsprogramm von DJs in Clubs mit Hotelanbindung gespielt zu werden. Es ist Musik, die einfach da ist und einem in ihrer nichtssagenden Beschaffenheit schon fast Angst einjagt. Tropical House will nichts und Tropical House tut nichts. Endlich bin ich mal froh, über etwas hinaus zu sein und in meinem Leben wird es wahrscheinlich keine Sekunde mehr geben, in der ich an Thomas Jack einen weiteren Gedanken verschwenden werde.
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