Ich habe mir beim Vulva Watching fremde Pussys angesehen
Alle Fotos: Rebecca Rütten

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Sex

Ich habe mir beim Vulva Watching fremde Pussys angesehen

"Versuch, nicht zu lachen", sage ich mir, als ich selbst unten ohne auf dem Boden liege. "Nur keinen Augenkontakt herstellen. Hoffentlich sieht sie meine Menstruationstasse nicht."

"Ich kann Fremden zwar meine Muschi zeigen, aber über Gefühle reden finde ich schwierig", sage ich zu Jasmin. Ich sitze vor ihr im Schneidersitz, ohne Unterhose, im lichtdurchfluteten Wohnzimmer einer Dachgeschosswohnung in Berlin-Kreuzberg. Sie hat gerade fünf Minuten lang meine Vulva inspiziert, und ich soll ihr jetzt zwei Minuten lang erklären, wie ich mich dabei gefühlt habe. Dabei ist sie bis auf ein paar Armreife, ein Fußkettchen, ihre Ringe und eine Kette mit Unendlichkeitszeichen-Anhänger nackt.

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Jasmin macht gerade eine Ausbildung zur sexpositiven Fachreferentin in dem feministischen Sexshop Sexclusivitäten . Freitagabends halten sie und andere Referentinnen regelmäßig Salons und Workshops. An diesem Freitag ist zum ersten Mal Vulva Watching dran. Frauen sollen sich in Paarkonstellationen zusammenfinden und die Vulva der jeweils anderen begutachten.

"We will exchange the gift of being seen and heard with our beautiful and unique pussies", schreibt die Gastgeberin auf der Veranstaltungsankündigung auf Facebook.

"Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet", sagt eine Teilnehmerin, als wir uns zur Einführung vorstellen. Sie ist etwa Anfang 30, wie der Großteil der Frauen hier. Die Fotografin, die mich begleitet, und ich sind Mitte 20 und damit heute die jüngsten Teilnehmerinnen. Zu sechst sitzen wir auf dem Teppich im Wohnzimmer von Laura Méritt, der Inhaberin von Sexclusivitäten. Es ist warm, der Raum konserviert die Hitze des Sommertages, an der Decke surrt ein Ventilator, neben uns türmen sich Plüschvulven mit Katzenmustern, Capes und Volants, an der Wand lehnt Dian Hansons The Big Book of Pussy.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs befindet sich der Kaufladen, ein Zimmer voller Glasdildos, eiförmiger Auflegevibratoren, feministischer Pornos und lederner Strap-On-Gürtel. Aus dem Verkaufszimmer höre ich die gedämpfte Stimme eines männlichen Kunden. Er darf das Wohnzimmer nicht betreten: "Der heutige Freudensalon ist nur für Frauen", sagt Jasmin.

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Nackt-Yoga, Pornos und Squirting sollen Frauen ihre Vulven näherbringen

Viele der Themenabende drehen sich um Vulven, Vaginen und bodypositive Erfahrungen. Es gibt Nackt-Yoga, feministische Pornoabende, Vorträge und Workshops zur weiblichen Ejakulation ("Wir spritzen zurück") und Vulva-Massage-Workshops, eine überwindungstechnisch "härtere" Version dessen, was wir heute vorhaben: "In drei Etappen haben wir unsere Vulven kennengelernt", erklärt eine Frau, die schon beim Massage-Workshop dabei war. "Erst die Vulva anschauen, dann die Hand auf den Venushügel legen und schließlich mit den Fingern über die Schamlippen und die Klitoris streichen." Sie lässt sich wie Jasmin zur sexpositiven Referentin ausbilden.

Den heutigen Workshop hat Jasmin ins Leben gerufen, damit wir Frauen uns positiv mit unseren Körpern auseinandersetzen. Unsere Pussys sollen sichtbarer werden. "Ohne den Sex würden sich viele überhaupt nicht mit den Vulven ihrer Partnerinnen beschäftigen", sagt Jasmin. "Heute sollen die anwesenden Frauen gesehen werden."

Dass viele Frauen mit ihren Genitalien unzufrieden sind oder eine ungesunde Beziehung zu ihrer Sexualität haben, liegt ihrer Meinung nach an einer übersexualisierten Gesellschaft. Unsere Generation sehe Sex vor allem in Pornos, sagt sie: "Und dort lehrt man uns, wie eine perfekte Pussy auszusehen hat."


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Dass es ein Schönheitsideal für Vulven gibt, beobachtet auch die Soziologin Anna-Katharina Meßmer, die sich in ihrer Doktorarbeit mit Intimchirurgie in Deutschland beschäftigt hat. Die beliebteste Form der Vulva ist das "Brötchen", sagt sie: "Es geht darum, möglichst straffe, geschlossene, glatte Genitalien herzustellen, die keine Spuren von Alter, Geburt oder sexueller Erfahrung tragen."

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Laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Intimchirurgie und Genitalästhetik aus dem Jahr 2014 war rund die Hälfte der befragten Frauen mit ihrem Intimbereich unzufrieden. 26 Prozent der Studienteilnehmerinnen fanden ihre Genitalien "nicht so schön", 23 Prozent sogar "hässlich".

"Frauen sind mit ihrem Körper unzufriedener als Männer", sagt Sexualtherapeutin Andrea Bräu. "Das liegt zum einen an der Erziehung, in der altmodische Rollenverteilungen weitergegeben werden. Zum anderen tragen Männer ihr Genital dauernd vor sich her, Frauen tragen ihre Genitalien nach innen – nicht sichtbar. Das ist ein ganz anderes Gefühl."

Und eben diesem negativen Gefühl wollen die feministischen Workshops entgegenwirken. Um Sex geht es dabei auch, aber nicht ausschließlich: Die Frauen sollen lernen, den weiblichen Körper offen, selbstbewusst und abseits von Mainstream-Pornos und Geschlechter-Rollenbildern kennenlernen.

"Alles kann, nichts muss!", ruft die Verkäuferin des Sexshops lachend, bevor wir uns ohne sie zur Kennenlernrunde niederlassen.

"Ich habe mir meine Vulva noch nie wirklich lange angeschaut, und meine Partnerinnen haben sich außerhalb von Sex auch noch nie mit ihr beschäftigt", erzählt eine Teilnehmerin. Die anderen nicken zustimmend.

In einer Folge der Gefängnisserie Orange Is The New Black führt eine ähnliche Diskussion dazu, dass die Insassinnen nacheinander mit einem geschmuggelten Handspiegel in der Klokabine verschwinden, um ihre Vulva und Vagina umfassend kennenzulernen. Als ich in meinem Freundeskreis frage, wer schon mal seine Genitalien in den Spiegel gehalten und sich selbst erforscht hat, fragt eine Freundin entgeistert: "Warum sollte ich das tun?"

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"Die meisten Frauen werden nie dazu motiviert, sich ihre Vulva oder ihre Vagina anzuschauen", erklärt Sexualtherapeutin Andrea Bräu, "Anfassen und Anschauen wird von vielen Eltern schon in der Kindheit tabuisiert, das wirkt nachhaltig prägend. Viele Frauen tragen diesen Gedanken dann in ihre Beziehungen weiter."

Ich blicke durch die große Fensterfront, neben der ich sitze, und sehe, wie eine Frau und ein Mann auf dem Nachbarbalkon Holzdielen verlegen. Ob die Jalousien vor dem Vulva Watching wohl geschlossen werden? Sie bleiben offen.

Ich hoffe, dass meine Menstruationstasse im Verborgenen bleibt

Es dauert etwa zwei Minuten, bis die Erste aus dem Kennenlernkreis aufsteht und sich untenrum frei macht. Die anderen schließen sich an. Als ich meine Jeans und meine Unterwäsche runterziehe – ich stehe dabei genau vor der Fensterfront –, fühle ich mich wie bei meiner Frauenärztin. Das ändert sich auch nicht, als ich mit leicht gespreizten und angewinkelten Beinen vor Jasmin liege, mit der ich mich für die Session zusammengefunden habe.

"Ich habe meine Periode heute auch bekommen", sagt sie, bevor ich mich zögernd zurücklehne. Zwei Tage vor dem Workshop hatte ich ihr am Telefon gesagt, dass ich wegen meiner Menstruation vielleicht nicht mitmachen kann. Jasmin beruhigte mich: "Aber das ist doch etwas ganz Natürliches, und wir wollen im Workshop doch unsere Fotzen normalisieren." Recht hat sie.

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Mit verschränkten Händen auf dem Bauch starre ich die Deckenlampe über dem Esstisch an (erinnert mich an einen Operationssaal), betrachte die Wandfarbe (Terracotta) und denke über das Wetter nach (sieht nach Regen aus), bis glücklicherweise eine fette Fliege auftaucht, die ich bei ihrem lautstarken Kampf, die Glasscheibe zu überwinden, beobachten kann.

Meine Gedanken kreisen um den zwei-minütigen Monolog, den ich laut Plan nach den fünf Minuten Vulva Watching halten soll: Ernüchtert stelle ich fest, dass mir die Nacktheit wenig ausmacht. Ich mag und kenne meine Vulva, wir haben schon viele Spiegel-Dates zusammen erlebt. Wenn die anderen Teilnehmerinnen sagen, dass sich niemand ausführlich mit dem visuellen Aspekt ihrer Genitalien beschäftigt, teile ich die Erfahrungen nicht. Schon als Siebenjährige wollte ich genau wissen, was da unten so los ist, und auch meine Partner haben sich in langen, unsexuellen Erkundungssessions ausführlich mit meiner Vulva und ihren Superkräften auseinandergesetzt.

Warum sollte ich sie also nicht auch mal einer fremden Frau zeigen? Viel nervöser als das Vulva Watching macht mich die Tatsache, dass ich dieser fremden Frau gleich meine Gedanken und Gefühle offenbaren muss, ich würde die zwei Minuten viel lieber darin investieren, weiter breitbeinig in diesem fremden Wohnzimmer rumzuliegen.

Ich überlege, wie ich meiner Mutter den Workshop erklären soll, und muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht zu grinsen. Und ich denke: "Nur keinen Augenkontakt zu Jasmin herstellen. Hoffentlich sieht sie meine Menstruationstasse nicht."

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Wie erwartet habe ich Schwierigkeiten, zwei Minuten lang über meine Eindrücke zu sinnieren. Ein Blick auf die beiden Frauen neben mir zeigt, dass es ihnen ähnlich geht: Statt sich an die "Regeln" zu halten und sich einander abwechselnd das vaginale und allgemeine Wohlbefinden mitzuteilen, lachen sie über die Erfahrung.

Jasmin schaut mich weiter mit erwartungsvollen und aufmerksamen Augen an. Ich gebe zu: "Ich habe die meiste Zeit darüber nachgedacht, was ich sagen soll, und dabei ganz vergessen, dass du dir gerade meine Muschi anschaust."

Jasmin schließt ihre Zusammenfassung enthusiastischer ab: "Jede Pussy ist anders und doch sind sie alle wunderschön. Ich würde am liebsten alle meine Freundinnen fragen, ob ich ihre auch mal betrachten darf."

Dann wechseln wir uns ab. Jasmin stellt den Timer auf ihrem iPhone ein, lässt sich nach hinten auf ein großes Kissen fallen und schlägt voller Elan ihre Beine auseinander. Fünf Minuten lang sitze ich im Schneidersitz vor ihren Füßen und starre auf ihre Vulva. Ich bemühe mich, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren und nicht weiter über die Absurdität der Situation nachzudenken. Kann ich der Fotografin, die mich begleitet und gerade mit geöffneten Schenkeln neben mir liegt, am Montag im Büro noch in die Augen schauen?

Ich neige meinen Kopf zur Seite und komme zum Entschluss: Jasmins Vulva sieht in ihrer Form, Farbe und Größe tatsächlich ganz anders aus als meine. Weil wir das Gesehene aber nicht kommentieren sollen und ich meine zwei Minuten diesmal sinnvoll füllen will, denke ich im zweiten Monolog laut über die gesellschaftliche Position der Vagina nach. Obwohl ich in Pornos, in aktivistischer Vaginen-Kunst auf Instagram oder nachmittags im Fernsehen dauernd nackte Frauen sehe, habe ich mir noch nie eine andere Vagina als meine eigene angesehen. "Und im Fußballverein meines Ex' haben sie in der Umkleide Schwertkämpfe aufgeführt."

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Als wir uns zum Abschluss auf dem cremefarbenen Teppich im Kreis anordnen, blitzen zwischen angewinkelten Beinen und unter dem locker fallenden Stoff unserer Oberteile immer wieder unsere Vulven hervor. "Ich habe die Augen zugemacht und mich entspannt", resümiert die zweite Sexualreferentin gelassen, während sie ihre gebräunten, unrasierten Beine ausstreckt. "Am Anfang war es komisch, aber eigentlich ist Nacktsein gar nichts Schlimmes", sagt die Fotografin.

"Und trotzdem verbieten viele Eltern ihren Kindern Spiele, in denen sie ihre Körper erkunden", merkt Jasmin an. Wieder nicken alle.

Nach zwei Stunden ist das Vulva Watching vorbei. "Wir wollen sichtbar sein und gesehen werden", fasst Jasmin die heutige Mission zusammen. "Grenzen auszureizen, kann herausfordernd sein – aber auch heilend."

Unsere Grenzen haben wir heute alle anders ausgereizt. Für die einen war es das Nacktsein vor Fremden, für die anderen das minutenlange Gespräch über die eigenen Gefühle, und wieder andere taten sich schwer damit, die Augen offen zu halten und das Gegenüber anzusehen, während ihre Vulva inspiziert wurde. Unglücklich geht aber keine aus dem Workshop raus. Ich verstehe besser, worum es bei feministischen Projekten wie The Vulva Gallery geht und warum sie bunte Vulven mit Katzengesichtern zeichnen. Es ist ein elementares Gefühl: Alle Pussys sind schön und wir sollten sie wertschätzen.

Zufrieden stehe ich auf. Während ich am Fenster in meine Unterhose steige, hat der Nachbar seinen Balkon schon zur Hälfte mit Dielen ausgelegt. "Ich freue mich, dass wir uns näher kennenlernen konnten", sagt meine Kollegin und Fotografin, "wir sehen uns dann am Montag im Büro."

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