Ich habe mir eine Talentshow im Todestrakt angesehen

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit The Marshall Project veröffentlicht.

“Das kann ja was werden”, sagte ich zu Big Lee, neben dem ich beim Mittagessen saß. “Die haben im Gang eine Teilnehmerliste für eine Talentshow aufgehängt, in die man sich eintragen kann.”

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“Ja?”, grinste er abfällig. “Also, ich trage mich da auf keinen Fall ein, aber ich weiß schon wer …”

Ich auch. Wir waren etwa 140 Männer in North Carolinas Todestrakt und die meisten von uns waren schon 15 oder 25 Jahre hier. Man kennt sich. Und Jimmy Jam war schamlos süchtig nach Anerkennung. Keine Frage, er würde bei der Talentshow dabei sein.

“Warum machen wir überhaupt eine Talentshow?”, fragte ich. “Es ist ja nicht so, als hätten wir hier Zugang zu irgendwelchen Hilfsmitteln. Keine Stereoanlage oder Keyboards oder …

Sonst fiel mir nichts ein. Ich hatte noch nie eine Talentshow gesehen.


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“Die Leute lieben es, einem schwarzen Bruder dabei zuzuschauen, wie er steppt, jongliert und sich zum Affen macht”, sagte Big Lee, eine absolute Kante von einem Typen, der seine geringe Körpergröße mit Muskelmasse ausglich. Für ihn war Rassismus der heimliche Beweggrund für so ziemlich alles.

Nach dem Essen warf ich einen Blick auf die Liste. Acht der zehn eingetragenen Namen hatte ich erwartet. Jimmy Jam war auch dabei – natürlich. “Ich singe und tanze und rappe und jongliere – alles auf einmal”, hatte er neben seinen Namen geschrieben. Ich rollte mit den Augen.

Als ich abends wieder auf den Aushang schaute, waren ein paar Namen hinzugekommen, andere waren aber energisch durchgestrichen worden. Die hatten wahrscheinlich keinen Bock darauf, mit Jimmy Jam auf einer Bühne zu stehen.

In den folgenden zwei Wochen sprach kaum jemand ein Wort über die Veranstaltung. “Gehst du zur Talent …” versuchte ich vorsichtig zu fragen, bevor ich mit einem vehementen Kopfschütteln unterbrochen wurde: “Alter, die Scheiße tue ich mir nicht an.”

Eigentlich ist der Todestrakt eine Anstalt – bei den allermeisten von uns wurden psychische Störungen diagnostiziert. Dementsprechend gelten auch viele unserer Aktivitäten als “Therapie”. Die Schreibtherapie hilft uns dabei, uns kohärent auszudrücken, und die Meditationstherapie hilft uns dabei, mit dem inhärenten Stress des Gefängnislebens umzugehen. Aber eine Talentshow? Wozu soll die bitte gut sein?

Ich fragte unseren Chefpsychologen, Dr. Kuhns, einen schlaksigen Mann mittleren Alters. “Es ist eine gemeinschaftsbildende Aktivität”, sagte er nur. Na ja.

Ich war skeptisch und auch sonst standen die Zeichen nicht gut. Das Gefängnispersonal hatte eine “Einladungsliste” für die Veranstaltung aufgehängt. Offensichtlich hatte man Angst, dass die “Talente” vor leeren Sitzen auftreten.

Als unsere Theater-Therapie-Gruppe Die zwölf Geschworenen aufführte, mussten wir fünf oder sechs Vorstellungen geben, weil so viele Insassen, Schließer und selbst Delegationen von anderen Gefängnissen kamen, um sich unser Stück anzusehen. Die Talentshow hingegen schien das reinste Desaster zu werden.

Ich wusste, dass mein Name auf der Liste steht. Das hat man wohl davon, wenn man sich für Therapieprogramme stark macht. Juhu.

“Ms. Jordan meinte, dass ich mitmachen muss, weil sich nicht genug gemeldet haben.”

Als der Tag gekommen war, betrat ich den großen Raum, in dem die Show stattfinden sollte. 60 oder 70 Plätze gab es. Dr. Kuhns hatte eine Handvoll Kollegen und Praktikanten mitgebracht. Sie alle saßen beieinander in der vorderen linken Reihe.

Wir Häftlinge – inklusive “Talente” etwa 30 Mann – nahmen die ersten drei Reihen auf der rechten Seite in Beschlag.

Jetzt konnte es losgehen. Dr. Kuhns trat vor das versammelte Publikum. Er trug seine übliche Khaki-Hose und Weste-Hemd-Kombination. “Herzlich willkommen”, sagte er, “bei der allerersten Talentshow im Todestrakt! Wir haben heute sieben großartige Aufführungen für Sie.”

Aber da war noch mehr. “Ihnen wird aufgefallen sein, dass ich Instrumente verteilt habe: ein paar Plastik-Rasseln, ein paar Mini-Bongos und ein Tamburin. Um hier jeden Künstler gebührend zu begrüßen, machen wir ORDENTLICH KRACH. Und nach dem Auftritt bedanken wir uns … mit NOCH MEHR KRACH!”

“… bitte keinen Krach während der Auftritte.”

“OK! Als Erstes kommt Terrance!”

Dr. Kuhns Stimme hallte im spärlich gefüllten Saal nach.

Stille.

“Ich bin mir sicher, dass ich ihn vorhin noch gesehen habe …”, sagte Dr. Kuhns. “Terrance? Hat irgendjemand Terrance gesehen?”

Nichts. Alle sahen sich fragend um.

“Hm, na gut. Unser nächstes Talent iiiiiisst … Cerron! Cerron, kommen Sie bitte nach oben.”

Ein kleingewachsener Mann, der aussieht wie 15, in Wahrheit aber etwa 40 ist, erhob sich von seinem Stuhl und schlurfte nach vorne. In seinen Händen hielt er eine etwa 25 mal 35 Zentimeter große Leinwand.

“Lasst uns Cerron willkommen heißen!”, rief Dr. Kuhns, offensichtlich erleichtert.

Plötzlich brach die Hölle los. Es war, als würden Stammeskrieger einen Sieg feiern. Die Rasseln verwandelten sich in eine Grube voll wütender Klapperschlangen und die Bongotrommeln schickten Donner durch den Saal. Beton, Stahl und Plexiglas des Gefängnisses bildeten die perfekte Echokammer.

Dr. Kuhns scannte mit seinen Blicken das Publikum, als wolle er durch schiere Willenskraft für Ordnung sorgen. Nach etwa einer Minute nahm er seine Hände nach oben und brüllte. Es dauerte eine weitere Minute, bis der Krach langsam abgeklungen war.

“Das hat Spaß gemacht”, dachte ich mir.

Sichtlich unwohl klammerte sich Cerron an sein Bild. Schließlich sagte er: “Ähm, eigentlich habe ich mich hier gar nicht angemeldet, aber Ms. Jordan meinte, dass ich mitmachen muss, weil sich nicht genug gemeldet haben.” Anklagend richtete er seinen Zeigefinger auf die Frau, die neben Dr. Kuhns saß.

“Egal. Ich habe dieses Bild mitgebracht. Hier”, sagte er und gab die Leinwand an jemanden in der ersten Reihe. “Ihr könnt es ja rumreichen.” Schon machte sich Cerron auf den Weg zurück zu seinem Platz.

Ms. Jordan fing plötzlich an, wild zu gestikulieren. “Cerron! Erzählen Sie doch, was es ist!”

“Die können doch selbst sehen, was es ist!”

“Sagen Sie ihnen, was es bedeutet! Sie haben zehn Minuten!”

“Zehn Minuten?! Sie meinten, ich muss nur …”

“Cerron. Sagen. Sie. Ihnen. Was. Es. Bedeutet … Jetzt.”

Cerron blieb kurz stehen. “Ähm. Also … Es ist die Black-Lives-Matter-Bewegung.” Nach diesen Worten setzte er sich trotzig auf seinen Platz.

Ohne weiteres Aufhebens eilte Dr. Kuhns wieder nach vorne. “Danken wir Cerron – mit nur 30 Sekunden Krach – dafür, dass er seine TOLLE Zeichnung mit uns geteilt hat.”

Und wieder ging das Tosen los. Als unsere Zeit abgelaufen war, hob Dr. Kuhns die Hände. “OK, jetzt bitte nur klatschen, um Jerzy, unser nächstes Talent, zu begrüßen.”

Es klatschten vielleicht vier Leute.

Jerzy bezeichnet sich selbst als vieles: genialer autodidaktischer Universalgelehrter, 500-Pfund-Gorilla, Virtuose und Frauenheld. Er dürfte um die 60 sein. Gedrungene Schultern, seine Haut grau und verwittert. Auf seiner halben Nase sitzt eine Brille mit glasbausteindicken Linsen. Die andere Hälfte wurde ihm vor Jahren bei einem Kampf abgebissen.

Er stellte sich in einer klassischen Jazz-Lounge-Stimme vor: “Ich bin ein Impresario, ich werde also historische Figuren imitieren, Zitate und Liedzeilen …” Mit den Begrifflichkeiten hatte er da vielleicht etwas durcheinander gebracht, aber nun gut.

Jerzy begann damit, ein paar Zeilen Frank Sinatra und Fats Domino zu singen, dann “imitierte” er Winston Churchill und Martin Luther King Jr. – OK, eigentlich trug er nur bekannte Zitate von ihnen vor. Alle berühmten Stimmen waren unverkennbar seine eigene, rau und schief wie eh und je. Immerhin stimmten die Texte, soweit ich das beurteilen konnte.

Nach einer Handvoll solcher Darbietungen grinste er uns an und stand still und erwartungsvoll auf der Bühne.

Wir schauten uns an und kicherten, bis Ms. Jordan ein anerkennendes “Oh!” von sich gab und klatschte.

“Vielen Dank, vielen Dank, vielen Dank”, sagte Jerzy, während er sich zu allen Seiten verbeugte. In seinen Augen waren ziemlich deutlich Tränen zu sehen.

Ich fragte mich, ob es der nostalgische Gehalt seines Programms oder dieses Minimum an menschlicher Zuwendung war, das ihn so gerührt hatte. Jerzy hatte immerhin Jahre in Einzelhaft verbracht. Mit Unterbrechungen zwar, aber trotzdem.

“Sit yo ass down!”

Als Nächstes war ein großer Typ mit schweren Dreadlocks dran, die ihm bis zur Hüfte gingen. Er sang eine selbst geschriebene Ballade, die davon handelte, ins Gefängnis zu kommen und sein Mädchen zu verlieren.

Schmachtend und ziemlich mitreißend singend schwebte er zu drei Psychiaterinnen rüber, die bei Dr. Kuhns saßen. Dabei hielt er mit einer Hand ein imaginäres Mikrofon, während er sich mit der anderen Hand ans Herz griff. Er sah den drei Frauen tief in die Augen, während sie so taten, als würden sie dahinschmelzen. Viele von uns standen den Tränen nah, als wir an unsere Frauen und Freundinnen denken mussten.

Aber Schlangen und Donner trösteten uns über den Schmerz hinweg. Dr. Kuhns gab uns ein paar Extra-Minuten.

Dann wurde Jimmy Jams Name aufgerufen.

Jimmy Jam, ebenfalls über 60, trug ein zerlumptes grünes Jackett über seinem verblassten roten Overall und dazu einen passenden grünen Hut. Er sah aus wie ein Clown ohne Schminke. “Ich bin Jimmy Jam of the Morgan Fam und ich rappe und singe und tanze”, sagte er und ließ dabei anzüglich seine Hüften kreisen. “Und ich JONGLIERE!”

Aus dem Nichts zauberte er drei angegammelte Orangen hervor, die er wahrscheinlich aus dem Speisesaal geschmuggelt hatte. Ihrem zerdellten Äußeren nach zu urteilen, hatte er in den vergangenen Tagen fleißig damit geübt.

Während er unbeholfen jonglierte und zappelte, rappte er: “I once met James Brown / when he came to town / because my cousin Juanita / and him slept around.”

“Sit yo ass down!”, ergänzte einer aus dem Publikum.


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“Hey you clown / don’t tell me to sit down / I got ten minutes/ I’m gonna use ‘em… / If you don’t like Jimmy Jam / you kiss Jimmy Jam’s ass!”, rappte er zurück, ohne dabei auch nur einen Beat oder Hüftschwung auszulassen. Eine Orange musste dran glauben.

Lässig nahm er seinen Hut ab, legte ihn auf seinen Schuh, kickte ihn in die Luft und fing ihn mit seinem Kopf – und all das, während er mit weit offen stehendem Mund weiter die Hüften rotieren ließ und klatschte.

Der ganze Saal lachte hysterisch. Das war SEIN Augenblick.

“Mein Gott”, dachte ich mir nur, “Jetzt wird er jahrelang damit angeben.”

Unsere Krach-Zeit war mittlerweile schon auf drei oder vier Minuten verlängert worden. Schlangen und Donner waren wieder zum Leben erwacht.

Dieses Mal geschah aber etwas. Die Bongotrommeln synchronisierten sich, der Beat ebbte auf und ab, während die Rasseln und das Klatschen zur Unterstützung ineinandergriffen. Wir waren eins geworden.

Die nächste halbe Stunde lang machten wir richtige Musik, wir pochten und pulsierten mit ihr, der Saal wogte im Takt. Wir hatten eine Art heiliges Feuer entdeckt, um das wir uns versammelten, tanzten und grinsten. Worte waren überflüssig.

Als ich zu Dr. Kuhns blickte, schaute er mich nur an und nickte – als würde er mir bestätigen, dass all das von vornherein sein Plan gewesen war.

George T. Wilkerson, 36, sitzt im Todestrakt des Central Prison in Raleigh, North Carolina. Dort wartet er auf seine Hinrichtung für zweifachen Mord. Er wurde 2006 verurteilt.

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