Am Tag vor unserem Treffen hat Ilse Simchen ihren 102. Geburtstag gefeiert. Die Presse und viele Freunde waren da – noch immer rufen verspätete Gratulanten an in ihrer modernen Zwei-Zimmer-Wohnung im fränkischen Städtchen Selb. Manche Anrufer überhäufen sie geradezu mit Lob zu ihrer außerordentlichen Persönlichkeit. Frau Simchen lächelt dann milde. Sie hat einen in mehr als 100 Jahren geschulten Bullshitradar. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlich sie als “Schwarzgeherin” zwischen den Besatzungszonen der Siegermächte hin und her, als würde sie nur Straßenseiten wechseln. Sie hat schon Grenzsoldaten ausgetrickst und Menschen von A nach B geschleust, als Trump noch ein wimmernder Säugling war. Von so einer Frau kann ich was lernen, dachte ich, also habe ich sie gefragt, was sie mir über das Leben beibringen kann.
VICE: Haus bauen, Baum pflanzen, Kind zeugen, alles Quatsch, oder? Was sollte ich im Leben wirklich einmal gemacht haben?
Ilse Simchen: Sie sollten vor allem immer geneigt sein, etwas zu lernen. Und Sie sollten machen, worauf Sie Lust haben. Ein Haus wollte ich aber nie bauen. Die ganzen Frauen im Altersheim müssen ihre großen Häuser billig verkaufen, weil sie sie nicht mehr brauchen. Und natürlich mag ich Kinder sehr. Aber weil ich selbst keine hab, erfreu ich mich an den anderen.
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Machen sich junge Leute zu viele Gedanken über solche Dinge?
Machen die sich Gedanken? Nein, verstehen Sie mich nicht falsch, es gibt auch viele nette junge Menschen. Sie sind ja auch ganz nett. Sind Sie eigentlich fertig mit dem Studium? Und wo wohnen Sie jetzt?
Ja, schon länger. Ich lebe in Berlin.
Ach, Berlin, da war ich auch schon mal. Vor dem Krieg, 1936 zu Olympia. Da stand ich auf dem Kurfürstendamm und habe den Fackelträger gesehen. So und jetzt können Sie ja mal jemanden suchen, der 1936 auch im Olympiastadion war. Wird schwierig. Und wissen Sie, wo ich zu Olympia in München war?
Na, wo denn?
Auf hoher See! Ich hab mit einer Freundin ein paar schöne Kreuzfahrten gemacht, auch später noch, als ich schon älter war. Mit 90 war ich bei den Pyramiden und habe die Sphinx gesehen. Auf den Schiffen haben wir uns auch schon mal verlaufen und nette junge Männer kennengelernt.
Haben Sie mit denen geflirtet?
Na klar! Das ist auch besser mit jungen Männern. Die alten, das ist ja nix. Wissen Sie, in meinem Alter muss man schon einen jungen Mann nehmen, damit man auch schöne Gespräche hat.
Wenn das hier ein Date wäre, was hätte ich Ihnen am besten mitgebracht?
Verständnis für meine Gedanken, das ist das Wichtigste. Aber ich möchte schon lange keinen Mann mehr haben. Ein Mann wäre ein Anhängsel. Früher, als ich jung war, habe ich das natürlich anders gesehen. Wissen Sie, ich war sehr sportlich und hatte immer Sportfreunde. Und ich kleide mich schon immer gerne schick.
Apropo schick, wie finden Sie meine Tätowierungen?
Grausam! Ich verstehe nicht, wie man so was machen kann. Sie kriegen das ja kaum runter. Stellen Sie sich mal vor, sie liegen im Grab und haben diese Dinger da drauf! Sehen Sie, da bin ich altmodisch. Vor allem, wenn sich Frauen so was dran machen. Und wenn Frauen auf der Straße rauchen, gefällt mir das auch nicht. Jetzt frag ich Sie mal was: Haben Sie eine Freundin?
Gerade nicht.
Sind Sie so wählerisch?
Vielleicht.
Ein bisschen wählerisch muss man sein. Aber schlussendlich muss man sich entscheiden. In Ihrem Alter könnten Sie schon mal eine Familie gründen. Sie würden mir ja auch gefallen, gell. Aber Ansprüche habe ich keine an Sie, keine Angst. Ich tu Ihnen nichts, haha. Wissen Sie, man muss sich auf die schönen Dinge konzentrieren. Alte Leute reden zu oft von ihren Krankheiten. Seien Sie lieber locker, rate ich Ihnen. Falls Sie sich jetzt fragen, ob ich betrunken bin: Ich habe heute nur Wasser getrunken und trinke auch sonst nur äußerst selten Alkohol.
Welchen Drink würden Sie mir empfehlen?
Na so einen kleinen Cognac. Es muss schon was Gutes sein. Mit 98 habe ich in einem Kurhotel ein Winzer-Ehepaar aus Mainz kennengelernt. Wir waren immer die, die an der Bar saßen.
Mit 98?
Ja und? Sie werden auch schon mal einen Schwips gehabt haben.
Ich war immer anständig.
Moment mal, ich war ja auch anständig. Ich habe immer bloß mal probiert. Wenn ich nichts probiere, kann ich ja nichts erzählen. Das war schon immer so in meinem Leben. Ich habe vor dem Krieg noch eine schöne Zeit erlebt, im Unterschied zu denen, die später aufgewachsen sind. Die hatten nichts von ihrer Jugend.
Gibt es Dinge, die ich ab einem bestimmten Alter nicht mehr machen sollte?
Ach nein, ich habe eigentlich immer so schön dahingelebt. Bis 95 bin ich noch Auto gefahren. Ich habe es ja auch noch gebraucht, weil ich da umgezogen bin und mein altes Zeug zum Wertstoffhof bringen musste. Gut, ich habe ihn dann doch abgegeben, den Führerschein, aber nur, weil ich mir gesagt habe: Du musst bei einem Unfall nicht schuld sein, aber wenn die Leute sehen, wie alt ich bin, dann bin ich automatisch schuldig.
Was wissen junge Menschen nicht über alte Menschen?
Ich denke, unsere Geschichte. Da wissen junge Leute zu wenig und könnten ruhig öfter mal fragen. Manchmal denke ich mir, die wollen das gar nicht wissen.
Was war die härteste Zeit in ihrem Leben?
Die Vertreibung aus dem Sudetenland und der Krieg. 1941 starb mein einer Bruder bei der Belagerung Moskaus. Der andere wurde zwei Jahre später ebenfalls in Russland erschossen. Mein Verlobter war Flieger und wurde abgeschossen, im Luftkrieg gegen England. Wir wollten nach dem Krieg heiraten. Das war alles zerstört. Der Schmerz war schlimm. Nach dem Krieg wurden wir aus dem Sudetenland vertrieben, da war ich 29. Mit meinen Eltern und einer anderen Familie sind wir aus meiner Heimat Leitmeritz [heute: Litoměřice] 180 Kilometer bis nach Leipzig gelaufen.
Wie durchsteht man solche harten Zeiten am besten?
Mir hat die Arbeit geholfen. Aber ich habe lange gebraucht. Ich konnte nicht mehr singen. Erst vor ein paar Jahren habe ich wieder angefangen. Wobei man das nicht Singen nennen kann, ich gröle ein bisschen mit.
Sollte man im Leben öfter was riskieren?
Na klar. Man muss ja auch was Spannendes erleben. Wobei es bei mir schon manchmal mehr als spannend war. Nach dem Krieg ging ich nachts oft heimlich von Leipzig in die englische Zone. Das machte mir Spaß und ich hatte nie Angst. Ich war eine Abenteurerin. Ich konnte ja nichts verlieren. Entweder kommste durch oder nicht. Sie brauchen ein bisschen Glück und das richtige Gefühl zur richtigen Zeit.
Wie kommt man am besten durch so ein langes Leben?
Schauen Sie: Ich bin Optimistin und ich habe eine Freundin, die Pessimistin ist. Das ist nicht so einfach, denken Sie jetzt. Aber ich streite mich einfach nicht mit ihr. Ich lasse sie bei ihrer Meinung. Deshalb ist sie meine Freundin. Aber mal eine andere Frage, was verdien’ ich denn jetzt hier?
Äh …
Sehn Sie, jetzt hab ich Sie gepackt. Ich bin schon eine Marke, gell?
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