Heute ist gefühlt der erste richtige Sommertag dieses Jahr. Der erste Tag, an dem die Temperaturen so hoch sind, dass man sich mit gutem Gewissen darüber aufregen kann, wie unglaublich heiß es ist, und sich gleichzeitig heimlich darüber freuen. Es ist erst kurz nach 10 Uhr. Ich stehe im Skatepark Hasenheide in Berlin und die Hitze hängt schon klebrig und schwer zwischen dem Manual Pad und den Rampen.
Ich schwitze mir die Sonnencreme vom Gesicht und wünsche mich auf die andere Straßenseite ins Freibad. Trotz der Hitze trage ich eine lange Jeans, weil ich Angst davor habe, mir die Beine aufzuschlagen. Auf einen Thrasher-Pulli habe ich verzichtet, damit kein weißer Skater mit Dreads mich der Cultural Appropriation bezichtigt, wenn ich den Kickflip dann nicht lande.
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Für eine Weile stehe ich am Eingang und schaue den sechs Männern dabei zu, wie sie über und um die verschiedenen Hindernisse rollen. Ich frage mich, wie viele von ihnen zu Hause wohl ein Bett aus Paletten haben. Vergeblich suche ich nach einem, der wackliger auf dem Brett steht als die anderen. Sie sehen alle so aus, als würden sie die wichtigsten Tricks beherrschen. Ollie, Kickflip, Bindungsängste. In einem Versuch, mich auf mein eigenes Board zu wagen, lasse ich es auf den Boden scheppern. Ein Typ kommt neben mir zum Halten. Außer Atem geht er leicht in die Hocke und stützt die Hände auf seinen Knien ab. Sein T-Shirt ist am Halsausschnitt völlig durchnässt mit Schweiß.
Ich setze zu einer Frage an. Es fühlt sich an, als würde ich meine Stimmbänder verknoten. Er schaut erwartungsvoll zu, wie ein anderer Skater über das Rail gleitet, während er darauf wartet, dass seine Fahrbahn frei wird. Irgendwann traue ich mich: “Es kostet mich gerade so viel Überwindung zu fahren. Ich stehe seit Jahren das erste Mal wieder auf dem Board.” Und es kostet mich gerade auch sehr viel Überwindung, den Mund aufzumachen. Bitte, kickflipt mich einfach ins Jenseits.
Überrascht dreht er sich zu mir um und nickt mir ermutigend zu: “Einfach machen. Das hier ist sowieso gerade die Ü30-Truppe.” Er lacht. Ich bin überrascht und schaue mir die Skater genauer an. Schlecht sitzende Hosen, sichtbare Boxershorts, Vans. Er hat recht. Sie alle haben erwachsene Köpfe, geschraubt auf Teenie-Körper.
Ich will sagen: “Ich bin eine von euch. Ich habe mir auch schon mal auf LSD mein Handgelenk verstaucht. Halt mit dem Fahrrad, aber das gilt oder?” Irgendwann stelle ich meinen linken Fuss auf das Deck und trete mit dem anderen auf den Boden. Ich fahre rüber zum kleinen Dach auf der anderen Seite des Platzes. Dort stelle ich meine Tasche ab. Ein Typ dreht sich eine Zigarette.
Mit zehn stand ich das erste Mal auf dem Skateboard. Meine Mutter hatte es mir in der Sportabteilung des nächsten Supermarkts gekauft. Dazu ein Skatehelm, weil ein Fahrradhelm der Streetcred schadet, fand ich. Auf dem Gabbeh-Teppich in unserem Wohnzimmer übte ich Ollies. Mit dem Skaten angefangen hatte ich, weil ich möglichst cool sein wollte. Das hieß in meinem Fall: möglichst nicht wie ein Mädchen. Aufgehört hatte ich, weil mir Fussball irgendwann gewinnbringender vorkam. Und weil sich mein Grundschullehrer von den Jungs in meiner Klasse, die in unserem Quartierverein spielten, duzen ließ.
Eine Weile stehe ich daneben und schaue ihnen zu. Bis ich all meinen Mut zusammennehme und das Board auf das Manual Pad stelle. Dort stoße ich mich zweimal vom Boden ab. Kurz vor Ende des Manual Pads hebe ich kurz die Nose des Skateboards an, um auf den Asphalt zu fahren. Genau so wie ich es früher auf einer Treppenstufe vor der Kirche in meinem Viertel geübt hatte, bis ich mir den Knöchel verstauchte. Ich will dazugehören. Ich mache ihnen alles nach. Unter einem kleinen Dach cremt sich einer der Typen mit Sonnencreme ein. Ich mache das auch. Als es kurz anfängt zu nieseln, stellen sich alle unter. Ich auch. Wegen des Kugellagers, das weiß ich. “5 Minuten”, sagt einer der Typen, während er den Deckel von der Wasserflasche schraubt.
“Woher weißt du das?” Ein etwa zehnjähriger Junge, der gerade mit seiner Oma im Park angekommen ist, wirft ihm einen beeindruckten Blick zu. Der Typ zeigt auf die Wolken. Als der Regen aufhört, wechsle ich zum Skatepark auf dem Tempelhofer Feld. Auf dem Weg begegnen mir Longboarder, doch zu denen gehöre ich nicht. Longboarden ist Origami-Kranich-Tattoo und “Beste Leben”-Instagram-Bildunterschrift. Auf dem zweiten Skatepark bin ich fast alleine. Zwei Frauen fahren mit Ohrstöpseln durch den Park. Hier spüre ich nicht dieselben Hemmungen wie beim anderen Park.
Als ich mich als Teenagerin irgendwann wieder meinem Skateboard zuwandte, waren einige Jahre vergangen. Weil das Lächeln eines Boybandherzensbrechers stärker ist als jeder patriarchale Zwang, weibliche Interessen zu unterdrücken, hatte ich in der Zwischenzeit angefangen, meine internalisierte Misogynie abzulegen. Diesmal skatete ich aus anderen Gründen. Meine Skatetrick-Compilation für Instagram hätte ich mit 15 wohl mit “No Waves” von FIDLAR untermalt. Diese Band war Teil des Grundes, warum ich überhaupt anfing zu skaten. 2013 klammerte ich mich an die Absperrung vor einer Festivalbühne. Eine Teenagerin mit Gesichtszügen, die noch nicht zusammenpassten. Eine zu große Nase für ein Kindergesicht. Ich schwitzte unter meiner Regenjacke. Es war mein erstes Festival. Am Tag zuvor hatte ich Wodka-Apfelsaft aus einer PET-Flasche, die mir Freunde von Freunden angeboten hatten, getrunken und es nach einem Schluck bereut. Aber so läuft das. Den anderen, die sich neben mir an die Absperrung lehnten, waren FIDLAR egal. Sie sicherten sich einen Platz, weil später Biffy Clyro und Macklemore spielen sollten. Irgendwann fing das Konzert an und ich war verwirrt. Der Sänger sang kaum, sondern drehte sich wild um sich selbst und verteilte dabei seine chemischen Ausdünstungen wie ein Rasensprinkler auf der Bühne. Ich versuchte meine Verwirrung zu überspielen und dem Spektakel mit Gelassenheit zu begegnen. Das müssen die so machen. Rock’n’Roll, ist doch klar. Ich war 15 und wollte gerne alles verstehen. Das Leben fühlte sich an wie ein Talkshow-Fernsehstudio. Ich saß im Publikum und schaute anderen dabei zu, wie sie ABC-Rülpsen als Hidden Talent verkauften, und wollte endlich nicht mehr nur zuschauen. Ungeduldig wartete ich darauf, dass das Leben endlich bei mir Halt machte und mich einsteigen ließ. Ich war 15 und verwechselte einen Schluck Wodka-Apfelsaft mit dem Leben.
Als ich nachmittags zurück zum Skatepark auf der Hasenheide komme, sind die Männer vom Morgen nicht mehr da. Eine neuer Skater grüßt mich, bevor er auf sein Brett springt, ein anderer macht ein Peacezeichen in meine Richtung. Während ich mich immer noch frage, ob ich hier richtig bin, ist es für die anderen klar. Ich habe doch ein Skateboard dabei. Im kleinen Häuschen reden zwei Typen über Bill Gates und kiffen und verwechseln es mit Rebellion.
Ich beschließe, am Rand des Parks Ollies zu üben. Ich mache jeden Schritt des Tricks einzeln. Mit dem rechten Fuß drücke ich den Tail nach unten und mit dem linken gleite ich in Richtung Spitze des Boards. Ich wiederhole die Schritte erst langsam und dann schneller. Ganz klappen will es noch nicht.
“Was geht?” Der Typ neben mir blinzelt in die Sonne, seine Schultern sind braun gebrannt und er hält sein verschwitztes Tanktop in der Hand. Kurz bin ich verwirrt, ob er gerade mich anspricht, und dann, weil ich nicht genau weiß, was ich darauf antworten soll.
Ich erzähle ihm, dass ich Journalistin bin und heute das erste Mal seit langem wieder auf dem Brett stehe. “Mein Vater war auch mal Journalist”, antwortet er. “Und jetzt ist er rechts.”
Dann fügt er hinzu: “Du trägst die falschen Schuhe. Also die sind von der richtigen Marke, aber kauf mal die mit einer dünneren Sohle, damit du das Board besser spürst.”
Meine Skatevergangenheit besteht eigentlich nicht aus Ollies üben. Sie besteht aus Meine-Heimatstadt-hassen und dem Endlich-gehen-wollen. Aus fast leeren Konzertsälen, in denen Bands Songs sangen, in denen es machmal ums Skaten geht und die auch so klingen, als hätten sie die auf einem Skateboard aufgenommen, in voller Fahrt. Death Grips. Gnarwolves. Ho99o9. Ich weiß nicht, ob ich die Musik wirklich mochte, aber es fühlte sich erwachsen an, diese Musik zu hören. Es war ein bisschen so wie das erste Mal Kaffee trinken.
Auf dem Manual Pad fahre ich auf und ab und übe einen fließenderen Übergang auf den Asphalt. Es scheint, als möchte der Sommer die verpassten Tage heute alle nachholen. Meistens lässt mich Hitze schon nach einigen Runden auf die Steine unter dem kleinen Dach sinken. Dort machen mir die anderen Typen Mut.
“So ist das immer am Anfang.”
Der Typ mit den Tanktop-Bräunungsstreifen sagt zu mir: “Man sieht, dass du keine Anfängerin bist, weil du ja schon fahren kannst.” Und das reicht schon für ein bisschen Stolz.
Als Teenagerin skatete ich in einem Alter, in dem man glaubt, dass ein Kaugummi sieben Jahre im Magen bleibt, wenn man es runterschluckt – aber auch, dass die Welt untergeht, wenn man im Kiffkreis an der Reihe ist und husten muss. Der Skatepark in meiner Heimatstadt liegt hinter dem Bahnhof und neben einer Autobahneinfahrt. Oft war ich nachts dort, damit mich die Profiskater im Grundschulalter nicht beim Scheitern beobachten konnten. Um diese Zeit war ich dort nämlich meist alleine. Nur ein Typ Mitte zwanzig saß manchmal auf einer Bank zwischen zwei Bowls, weil er irgendwo in Ruhe Gras rauchen und Death Metal hören wollte. Von Zeit zu Zeit begleitete mich ein Freund, der mir zwischen Drop-ins erklärte, dass es Sexismus nicht gebe, und immer “Skate and Commit” rief, wenn ich mich nicht traute.
Früher verbrachte ich Zeit auf dem Skatepark, weil ich endlich erleben wollte, was die Kinder in diesen Coming-of-Age-Filmen erlebten, wenn sie mit ihren Fahrrädern gen Sonnenuntergang fuhren. Etwas, was sich verbotener und echter anfühlt, als die Bravo Girl. Ich wollte ausbrechen und “Das wird unser Sommer”-Freiheit. Doch während ich damals nur endlich erwachsen sein wollte, steht hier alles still. Hier trägt man noch Element-Tanktops.
Gegen Abend füllt sich der Park mit Teenagern, die unglaublich cool aussehen und nebenbei betont lustlos von den Rampen springen. Oder mit Typen, die aussehen, als hätten sie ihre Skateridentität irgendwann mit einem Werbeagenturjob und Kindern ausgetauscht. Morgens schrauben sie wohl die cockblocking Kindersitze von ihren Fahrrädern, damit sie auf dem Büroparkplatz Praktis anflirten können.
Ein Mädchen auf Inline-Skates trägt ein Prinzessinnenkleid und ich bereue meine eigene Outfitwahl direkt.
Der zehnjährige Junge von heute Morgen ist zurück und schaut mir kritisch dabei zu, wie ich versuche zwei Schrägen, die spitz zulaufen, mit dem Skateboard zu überqueren.
“Du brauchst mehr Schwung. Schau”, sagt er und macht es mir vor. Ich versuche es wieder. Mit mehr Schwung, aus einem anderen Winkel, mal verlagere ich mein Gewicht, wenn ich auf der anderen Seite runterfahre, oder gehe etwas in die Knie, bis es klappt. Und dann freue ich mich über den Muskelkater, meinen Sonnenbrand und über meine Fingerkuppen, die rau sind vom Griptape. Keine Ahnung, ob sie das ist. Die Zugehörigkeit. Vielleicht spüre ich die auch erst, wenn ich mit 40 in einem Element-Tanktop auf einer Bank neben dem Skatepark sitze. Dort bringe ich die Kinder zum Staunen, wenn ich ihnen zeige, dass ich eine Ausbuchtung am Ellenbogen habe, weil meine Skateverletzung von vor 20 Jahren nicht richtig verheilt ist. Trotzdem ist sie da, die Zugehörigkeit, denn irgendwie reicht es, einfach nur hier zu sein und sich trauen. Vielleicht ist es diesmal aber auch egal, denn es geht mir das erste Mal nicht darum, auszubrechen, sondern einfach nur ums Skaten. Vor ein paar Wochen habe ich Freunden erzählt, dass meine Autobiografie, sollte ich jemals eine schreiben, “Schlechte Laune, gutes Wetter” heißen würde. Und ausnahmsweise sind sie gerade beide gut. Meine Laune und das Wetter. Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Vielleicht zum Kaffee trinken oder Kaugummi runterschlucken. Zuerst bestelle ich mir aber Schuhe mit dünnen Sohlen.
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