Ich habe mir von einem Schamanen die Haare schneiden lassen

Spätestens seit Heidis “Määädchen” bei Germanys Next Topmodel in Tränen ausbrechen, sobald die Folge ansteht, in der ihre geliebten Haare abgeschnitten werden, dürfte klar sein, dass die eigene Frisur mehr als nur ein Accessoir ist. Das geht mir nicht anders. Beim Coiffeurbesuch vor meiner Hochzeit schnippelte die Coiffeuse mutig drauf los. So mutig, dass ich statt den Spitzen knappe zehn Zentimeter Haare lies. Die Coiffeuse – hipp gestylt und offensichtlich hirnverbrannt –- hatte den Nerv, mich mit den Worten: “So sieht das besser aus” zu verabschieden. Das bisschen Horn weniger hinterliess das ungute Gefühl, dass mir etwas gegen meinen Willen genommen worden war.

Haare spielen in diversen Kulturen eine wichtige Rolle. Es reichte beispielsweise, rote Haare zu haben, um als Hexe verbrannt zu werden. Hippies trugen ihre wilde Mähne, um ihren Freiheitsgedanken zum Ausdruck zu bringen. Menschen zu erniedrigen, indem man ihnen die Haare abschneidet, hat eine lange Tradition. Dieses Narrativ lässt Game of Thrones exemplarisch aufleben, als Cersei mit gestutzter Mähne ihren Marsch der Schande antreten muss. Selbst im Christentum wird Haaren göttliche Macht zugeschrieben. Im alten Testament wird die Geschichte vom Richter Samson erzählt, dessen langes Haar ihm übermenschliche Kräfte verlieh. Als seine Frau ihm während des Schlafs die Haare abschneiden liess, verlor Samson seine Kräfte und wurde zum Sklaven.

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Dass Haare mehr als tote Hornfäden sind, glaubt auch Roger Spiess. Er bietet sogenanntes “Hairbalancing” an. Diese Art des ganzheitlichen Haareschneidens wurde in den USA erfunden. Martin Burri brachte sie in die Schweiz, und Roger liess sich von ihm ausbilden. Hairbalancing beinhaltet Einflüsse von Craniosacral, Energiearbeit und Schamanismus. Haare werden hierbei als Verbindung der Seele zur Aussenwelt angesehen. Laut Roger Spiess ist das Ziel, die innere Schönheit so nach aussen zu tragen, dass eine natürliche und authentische Ästhetik entsteht. Das möchte ich ausprobieren und treffe mich deshalb mit Roger in seiner Wohnung in Zürich.

Ich möchte von Roger wissen, wie Hairbalancing funktioniert, und zücke meinen Notizblock. Als wolle seine Katze meine ungeteilte Aufmerksamkeit auf das Gespräch lenken, springt sie mir auf den Schoss und macht sich schnurrend auf meinen Notizen breit. Roger beginnt zu erklären: “Je nachdem, wo, in welche Richtung und wie die Haare wachsen, kann ich erkennen, wie stark man in seiner männlichen oder weiblichen Energie ist. Je nachdem kann ich dann den Haaren Signale schicken und ihnen sozusagen vorschlagen, in eine bestimmte Richtung zu wachsen. Durch mentale Kraft kann man Negatives in die Spitzen leiten, und ich schneide es dann ab. Das kann Erleichterung verschaffen.” Ich muss an zahlreiche Freundinnen denken, die nach ihren Trennungen als erstes einen Friseurtermin ausmachen.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Roger Spiess

Nachdem die Katze mich aus meiner Pflicht entlassen hat, beginnt Roger mit dem Lesen meiner Haare. Mit vorsichtigen Händen streicht er durch meine Strähnen, zieht mal hier und mal da, übt Druck auf meine Schädelplatte aus und erzählt mir, was er herausspüren kann. Er erzählt mir von meinen Charaktereigenschaften, davon, wie stark meine männliche und weibliche Seite ausgeglichen sind, und er merkt, dass eine wichtige Entscheidung bevorsteht. Grund zur Panik gibt es zum Glück nicht: Da mein Leben aber wohl grundsätzlich in einem grünen Bereich liegt, werde ich nicht viele Haare lassen müssen. Roger holt seine Schere. Einen Spiegel gibt es nicht. Ich beschliesse, Roger zu vertrauen und mich ganz darauf zu verlassen, dass er deutlich genug herausgespürt hat, dass mein Wesen nicht nach einem Vokuhila verlangt.

Das Haareschneiden wird zum Ritual. Mit Musik und Entspannungsübungen komme ich zur Ruhe und erreiche einen ruhigen, in mich gekehrten Zustand. Wer beim Friseur jeweils sehnsüchtig auf die Kopfmassage wartet, kann nachvollziehen, wie angenehm sich Rogers verstärkte Berührungen am Kopf anfühlen. Und wie sie den gesamten Körper entspannen. Halb weggetreten geniesse ich also den Zustand der Entspannung und die Gedankenfetzen, die vor meinem inneren Auge vorbeiziehen.

Anders als beim normalen Haareschneiden nahm ich die Tätigkeit meines Coiffeurs kaum wahr, da mein Bewusstsein auf mich selbst fokussiert war. Die Zeit verging schnell. Meine Umwelt war wie durch dichte Nebelschwaden nur noch sehr weit weg wahrnehmbar. Ich empfand das Ritual als unglaublich entspannend. Nachdem ich aus meiner Trance erwachte, vibrierte es in meinem ganzen Körper, und ich war froh, mit dem Velo nach Hause fahren zu können, um das Erlebte Revue passieren zu lassen.

Die Dauer und der Preis des Coiffeurbesuchs entspricht in etwa einem herkömmlichen Friseurbesuch. Wer sich allerdings eine haarlackfixierte Lockenfrisur erhofft, wird beim Haarbalancing nicht glücklich werden. Diese Erfahrung ist wohl auch nichts für Menschen, die Erfahrungen dieser Art von vornherein als esoterischen Schnickschnack abtun. Ich für meinen Teil ging um mehr als nur ein paar Haarspitzen erleichtert nach Hause.

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Titelbild von Mitya Ku | Flickr | CC BY-SA 2.0