Menschen

Ich kann keine tiefen Beziehungen aufbauen, weil ich keine eigene Persönlichkeit habe

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“Frag VICE” ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal, ob es sich um Beziehungsprobleme oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Dieses Mal hoffen wir, einer Person zu helfen, die das Gefühl hat, ihr wahres Ich nicht zu kennen.

Hi VICE,

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ich würde sagen, dass mein Liebesleben mehr als in Ordnung ist, vor allem verglichen mit anderen Menschen in meinem Umfeld. Jede Woche habe ich eine Verabredung und meistens landen wir zusammen im Bett. Und wenn nicht, finde ich im Club jemanden, mit dem ich die Nacht verbringen kann. Letztens habe ich sogar in einem Café jemanden kennengelernt.

Meine Dates sind selten One-Night-Stands, normalerweise freunden wir uns an. Das einzige Problem: Es wird nie ernster als ein paar Mal Sex. Ich glaube, das liegt daran, dass ich bei Dates nie wirklich ich selbst bin. Deshalb fühlt sich die Verbindung nie echt an.

Das ist für mich nichts Neues. Schon als Kind habe ich meine Persönlichkeit an die Leute angepasst, mit denen ich befreundet sein wollte. Meine Mutter ist auch so. Sie hat mir beigebracht, dass Menschen mit dir befreundet sein wollen, wenn sie dich mögen. Und sie mögen dich, wenn du so bist, wie sie es in dem Moment möchten. Genau so gehe ich Beziehung an: Ich finde heraus, was jemandem gefällt, und werde zu dieser Person.


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Das gilt besonders bei Dates: Bei manchen bin ich der Typ zynischer Intellektueller, bei manchen eher gelassener Kiffer und bei anderen der Typ zuverlässiger, pflichtbewusster Partner. Ich mag es, wenn mein Date so etwas sagt wie “Wo warst du mein ganzes Leben lang?”, dabei weiß ich nicht einmal, was ich für die Person empfinde. Das macht sich auch in meinem Sexleben bemerkbar. Wenn ich mit jemandem Sex habe, ist mein einziges Ziel, die andere Person zu befriedigen – ich denke nicht einmal darüber nach, worauf ich selbst Lust hätte. Deshalb bleibe ich im Grunde immer unbefriedigt. Das kann sich auch ziemlich einsam anfühlen.

Es klingt vielleicht dramatisch, aber je mehr Dates ich habe, desto mehr habe ich das Gefühl, zu verschwinden. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt eine Persönlichkeit habe. Ich weiß nicht, wie ich echte Beziehungen aufbauen kann. All das wirkt sich immer mehr auf mein Beziehungs- und Sexleben aus, obwohl ich mich so sehr danach sehne, mein Leben mit jemandem zu teilen. Wie kann ich herausfinden, wer ich wirklich bin – und auch, was ich im Bett mag?

Grüße,

C.


Hi C.,

zuerst einmal: Es ist nicht unbedingt ein Problem, wenn du noch nicht weißt, wer du bist. Es gibt keinen Zeitplan, der festlegt, wann man die endgültige Version seiner selbst sein sollte – falls man das überhaupt werden kann. In der Psychologie gibt es verschiedene Theorien darüber, wann genau man eine Persönlichkeit entwickelt. Aber unterm Strich ist es völlig normal, in verschiedenen Lebenslagen unterschiedliche Prioritäten zu haben und von seiner Umgebung, seiner Arbeit und sogar den Medien beeinflusst zu werden. Im Laufe des Lebens erlebt man neue Dinge und entwickelt sich auch als Person weiter.

Du schreibst jedoch, dass dich das stört. Du hast das Gefühl, dass du verschwindest, dass deine Beziehungen sich nicht aufrichtig anfühlen und dass Sex dich nicht befriedigt. Wie geht man diese Probleme am besten an? Laut dem Sexualwissenschaftler Yuri Ohlrichs gibt es in Beziehungen, egal ob lang oder kurz, oft ein Ungleichgewicht, weil sich eine Person eher anpasst als die andere. Manchmal ist das in Ordnung, aber für die Person, die sich anpasst, kann es mit der Zeit anstrengend werden.

“Es ist schön, dass du anderen gegenüber Rücksicht nimmst, ob in Beziehungen, beim Sex oder im Alltag”, sagt Ohlrichs. “Aber das Wichtigste ist, dass du auch selbst Spaß hast. Es ist auch wichtig, dass dein Glück und Selbstwertgefühl nicht von den Komplimenten anderer abhängen.” Kurz gesagt: Du solltest versuchen, dich mehr auf dich selbst zu konzentrieren.

Ein vielleicht offensichtlicher Weg dafür ist, darüber nachzudenken, wie du bist, wenn du allein bist. Denk nicht an klischeehafte Persönlichkeitstypen, sondern überleg, was du gerne machst, was dich entspannt, bewegt oder nachts wach hält. “Du kannst auch darüber nachdenken, was du einem deiner Dates gerne über dich selbst erzählen würdest oder was du an anderen Menschen attraktiv findest”, sagt Ohlrichs.

Diese Dinge definieren nicht unbedingt, wer du bist, aber sie können dir dabei helfen, ein klares Bild davon zu bekommen, was dir im Moment Freude und Energie bringt. Erlaube dir, auf die Suche zu gehen, auch was Sex betrifft. Masturbiere, probiere etwas Neues aus, informiere dich und hab keine Angst, das mit den Menschen zu besprechen, mit denen du Sex hast. Du musst nicht in allem direkt ein Experte sein, lass dir Zeit. 

Wie Ohlrichs betont, kommt niemand zu kurz, wenn du an dich selbst denkst. Schließlich hat man die wertvollsten Beziehungen (ob romantisch oder nicht), wenn man sich traut, authentisch zu sein. Dann zieht man Menschen an, mit denen man eine wirklich tiefe Bindung eingehen kann. Und obwohl eine heiße Nacht mit einer fremden Person sehr viel Spaß machen kann, stellt sich vielleicht heraus, dass die sexuelle Chemie mit Menschen, zu denen du eine tiefere Verbindung hast, besonders gut ist.

Es ist auch in Ordnung, nicht allen zu gefallen. Du hast geschrieben, dass du es magst, wenn dich jemand als idealen Partner ansieht. Wenn du aber echte Beziehungen erleben willst, musst du akzeptieren, dass du Dates mit Menschen haben wirst, mit denen du einfach nicht auf einer Wellenlänge bist.

“Wenn das passiert, solltest du das zu deinem Vorteil nutzen”, sagt Ohlrichs. “Durch den Kontakt mit anderen kannst du viel über dich selbst lernen. Warum passt es nicht? Was hätte mir anders besser gefallen? Warum mag ich eine Person? Warum mag ich jemanden nicht?” Je mehr du erlebst, desto genauer kannst du deinen eigenen Geschmack festlegen. Und das betrifft nicht nur Dates – du kannst es auf jeden Aspekt deines Lebens anwenden.

“Es ist schön zu hören, dass man die Person ist, die im Leben einer anderen gefehlt hat”, sagt Ohlrichs. “Aber besonders in einer langen Beziehung ist das nicht aufrechtzuerhalten. Es wird Zeiten geben, in denen ihr auch die unschönen Seiten aneinander entdecken werdet.” Wenn du erwartest, immer die perfekte Person zu sein, kann es besonders schwer sein, mit negativem Feedback umzugehen.

Es könnte auch nicht schaden, herauszufinden, woher dieses Verhalten kommt. Darüber könntest du mit einem Freund, einem Coach oder in einer Therapie sprechen. Vielleicht findest du zum Beispiel heraus, dass du Angst vor dem Alleinsein hast oder ein geringes Selbstwertgefühl, das dir das Gefühl gibt, nie gut genug zu sein. Vielleicht ist aber auch deine Vorstellung davon, was es bedeutet, “eine Persönlichkeit zu haben”, ein bisschen verdreht. Eine Persönlichkeit kann man nicht auf einen Typus wie “zynischer Intellektueller” oder “zuverlässiger Partner” reduzieren. Vielleicht wirst du zu sehr davon beeinflusst, was du in Filmen oder sozialen Medien siehst.

Vielleicht kommst du aber auch zu dem Schluss, dass du im Moment einfach dieses empathische Chamäleon bist: Jemand, der gerne neue Leute kennenlernt, der neugierig darauf ist, wie andere Menschen funktionieren und sich gerne immer wieder neu erfindet. Auch das ist in Ordnung. Solange du das Gefühl hast, dass du wirklich du selbst sein kannst, werden auch deine Beziehungen angenehmer und authentischer.

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