“Ich möchte für das Schlechte stehen” – Männer müssen endlich über ihre Depressionen reden

Der Autor liegt deprimiert auf dem Sofa

Der Himmel war klar und die Rodelbahn vereist. Ich hatte meine Liebsten um mich, es war der letzte Tag des Jahres 2017. Ich rodelte so schnell wie noch nie und plötzlich flog ich mit gefühlt 60 Stundenkilometer durch die Luft. Ich merkte nur, wie meine Brille sich verabschiedete. Ich landete mit dem Gesicht am vereisten Boden. Ich sah nichts. Ich schmeckte nur Schnee, Schweiß und Blut.

Nur eine leichte Gehirnerschütterung, erklärten sie mir im Krankenhaus. “Ruhen Sie sich ein bisschen aus.” Wenn die Schmerzen in ein bis zwei Wochen nicht besser werden, sollte ich noch einmal kommen. Das war vor neun Monaten. Und nach wie vor wache ich fast jeden Tag mit Kopfschmerzen auf. Als ich von der Rodel flog, stürzte ich nicht nur auf den Boden, sondern auch in ein Loch.

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Die Vorgeschichte

Um es gleich vorweg zu sagen: Es fällt mir extrem schwer, diese Geschichte aufzuschreiben. Ich hatte noch nie solche Angst, meinen Namen unter einen Artikel zu setzen (und ich war bereits mit Schmiss am Akademikerball und unangemeldet bei Treffen von Rechtsextremen, Staatsleugnern und verschwörerischen Handy-Strahlen-Gegnern). Ich habe Angst, mich mit diesem Text selbst zu stigmatisieren, mich zu blamieren.


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“Zuzugeben, etwas nicht zu können, lag mir fern.”

Vor allem junge Männer kennen diese Angst wohl gut. Ich bin ihr jedenfalls schon öfter begegnet. Als ungefähr 13-Jähriger etwa verschlechterten sich meine Schulnoten drastisch, weil ich aufgrund meiner Kurzsichtigkeit die Zeichen an der Tafel nicht mehr erkennen konnte. Ich verheimlichte das in meinem Freundeskreis, erklärte meinen Eltern, dass ich keine hässliche Brille brauche und dachte nicht daran, mich von der letzten in die erste Reihe zu setzen. Zuzugeben, etwas nicht zu können – auch, wenn es eine sehr verbreitete, ziemlich harmlose körperliche Einschränkung ist –, lag mir fern.

Heute will ich darauf scheißen. Ich habe keine Lust mehr, das Negative in mir für mich zu behalten. Ich habe keine Lust mehr, auf Hauspartys eine geile Geschichte nach der anderen zu erzählen, wenn das Gegenüber eigentlich wissen will, wie es mir geht. Ich habe keine Lust mehr, die lächelnde Fassade zu wahren, um meine Außenwelt mit meiner Wirklichkeit zu konfrontieren. Ich schreibe diesen Text, weil ich weiß, dass der gegenwärtige Umgang mit psychischen Krankheiten eine Depression noch beschissener macht als sie ohnehin schon ist.

Texte zum Thema Depression werden fast ausschließlich mit Illustrationen oder Stockfotos bebildert. Auch das zeigt: Das Thema ist noch immer ein Tabu. Ich möchte für das Schlechte stehen – und habe deswegen beschlossen, hier mein Gesicht zu zeigen.

Kurz ein Gedanke für die Leute, die diesen Artikel gerade wegklicken wollen, weil sie keine psychische Krankheit haben und sich gut gerüstet fühlen, im Fall der Fälle mit einer Depression umgehen zu können: Bis vor einem Jahr war ich einer von euch. Ich dachte, es reicht, ein bisschen auf die eigene Work-Life-Balance zu achten und mit Kritik und Rückschlägen umgehen zu können. Ich dachte, es reicht, mit dem drückenden Gefühl der Unsicherheit umgehen zu können.

Ich habe gedacht, dass jedes Hindernis mit der richtigen Portion Willensstärke zu bewältigen sei. Ich weiß noch, wie ich als Junge beim Fußballspielen erst so richtig in Fahrt kam, als einige Kollegen schon aufgegeben hatten. Einen 5:0 Rückstand aufzuholen, das war die beste Voraussetzung für mich. Ich hatte Tränen in den Augen als der FC Liverpool im Champions-League-Finale 2005 einen 0:3 Rückstand gegen den AC Milan aufholte. Die Heldengeschichten meiner Kindheit waren fast alle nach diesem Muster gestrickt. Sie sind ein Grund, warum ich mit der Depression so schlecht umgehen konnte.

Der Kampf

Nach meinem Unfall und dem Krankenhaus-Aufenthalt freute ich mich fast ein wenig darauf, die ärztliche Erlaubnis zu haben, mich auszuruhen. Für mich bedeutete das, die Zeit für Sachen zu nutzen, die ich schon lange auf die lange Bank geschoben hatte. Es war die Zeit, die man mit “wenn ich mal Zeit habe” herbeisehnt. Ich las endlich die Sachbücher, die sich bei mir gestapelt hatten, probierte neue Rezepte aus, kaufte ein Fahrrad und schraubte daran rum, machte Sport, traf mich mit Freundinnen und Freunden und versuchte im Serien-Smalltalk-Game aufzuholen. Ich wollte die Wartezeit produktiv nutzen.

Meine Kopfschmerzen wurden aber nicht weniger, sondern mehr. Ich konnte das weder verstehen noch akzeptieren. Ich konnte nicht verstehen, dass ich mich um 10 Uhr komplett “gesund” fühlte und um 12 Uhr meinen Kopf unter kaltes Wasser halten musste, weil ich dachte, er würde gleich explodieren. Die ersten Wochen konnte ich nicht glauben, dass an sich harmlose Aktivitäten meine Kopfschmerzen verstärken. Ich konnte nicht glauben, dass der Schmerz fünfmal so stark geworden war, nur, weil ich 10 Minuten lang auf dem Handy etwas nachgeschaut hatte. Ich konnte nicht glauben, dass der Schmerz schon in der Früh da war, nur, weil ich zwei Stunden weniger als sonst geschlafen hatte.

“Du musst jetzt irgendwie zehn Stunden rüberbringen, bis du wieder schlafen kannst.”

Es war ein ständiges Hin und Her, das ich nicht begriff. Es war die Unvorhersehbarkeit der Schmerzen, die mich so fertig machte. Von “Endlich genesen!” über “Ich halt das nicht mehr aus!” bis hin zu “He, bildest du dir die Schmerzen vielleicht einfach nur ein?” vergingen oft nur ein paar Stunden. Als es mir ein paar Tage lang besser ging, kehrte ich in die Arbeit zurück und erzählte stolz und etwas entschuldigend, dass ich jetzt wieder einsatzfähig sei. In der Nacht nach meinem ersten Versuch, wieder zu arbeiten, biss ich mir unbewusst in die Lippen. Beim zweiten Versuch zu Arbeiten zerkratzte ich mir im Schlaf den Unterarm. Und ja, ich habe es auch ein drittes Mal probiert. Es dauerte gut drei Monate, ehe ich einen Zusammenhang zwischen meinem Lebensstil und den Kopfschmerzen sehen konnte.

Diese Erkenntnis forderte meinen Ehrgeiz heraus: “Ha, diese Krankheit glaubt, sie kann mir was anhaben! Dich lösch ich aus.” Ich hatte endlich einen konkreten Feind, meinen Lebensstil, den ich bekämpfen konnte. Ich reduzierte meine Handy-Zeit von sechs Stunden pro Tag auf unter eine Stunde. Ich tauschte mein Streaming-Abo gegen ein Hörbuch-Abo und meine fast ausschließlich digitale Arbeit gegen eine analoge Bildungskarenz auf der Uni Wien (den Laptop braucht man dort immer noch nur für die Anmeldung zu Lehrveranstaltungen).

Als die Krankenkasse mir andeutete, ich tue zu wenig für meine Genesung, ließ ich ein Röntgen und ein MRT machen. Zwei Monate später noch einmal. Ich ließ ein EEG, ein CT und eine Ultraschalluntersuchung der Halswirbel machen. Ich ging zur Neurologin, zum Orthopäden, zu einem Epilepsie-Spezialisten, zum HNO-Arzt, zum Zahnarzt, zur Osteopathin und sogar zu einer Masseurin. Ich kaufte zwei dicke Schinken zum Thema Kopfschmerz. Ich startete ein Schmerz-Tagebuch in einer Migräne-App. Darin sammelte ich immer mehr potentielle Trigger, die den Schmerz eventuell schlimmer machten: Stress, Schlafmangel, Hitze, Wetterumschwung, Alkohol, Koffein, vergessenes Magnesium – die Liste wurde unglaublich lang. Aber es geht nur so, dachte ich. Wenn ich besser auf meinen Körper höre, finde ich alle Trigger und damit das Ende der Schmerzen.

Die Ratschläge

Während der Schmerz sich monatelang kaum veränderte, wurde der Druck größer, wieder gesund zu werden. Die Ärzte konnten mir keine klare Diagnose geben. Alle gingen davon aus, dass der Schmerz bald verschwinden werde. Wenn ich wollen würde, meinten sie, könnte ich ein paar Dinge probieren, mit denen es vielleicht etwas schneller geht. Mein Umfeld meinte es gut mit mir und wollte helfen:

“Wann kommst du endlich wieder? Wir vermissen dich”, schrieben meine Arbeitskollegen.

“Das kann doch echt nicht sein! Es muss doch irgendwas geben, was dich wieder gesund macht”, meinten meine besorgten Eltern.

“Du musst wieder gesund werden”, wünschte sich meine damalige Freundin.

“Dir ging es sogar schon mal im Jänner gut. Es liegt an dir, dass es wieder gut wird”, schrieb ich im Mai auf ein Post-It, das ich in meine Geldtasche legte.

“Lernen Sie, langsamer auszuatmen”, sagte ein Therapeut, der meine Körperfunktion mittels Biofeedback analysierte.

“Lass dir noch einmal den Rücken anschauen. Ich glaub, da ist etwas”, sagte meine damalige Freundin.

“Fang an, Briefmarken zu sammeln. Das entspannt”, meinte mein Bruder.

“Mach Akupunktur”, sagten dann meine Eltern.

“Nimm mit mir Ayahuasca! Das startet den Kopf neu”, schlug ein Freund vor.

“Kiff ein bisschen! Das hilft super gegen Schmerzen. Ich hab’ eine super Doku dazu gesehen”, meinte ein anderer Freund.

Der Schmerz

Ich war so verzweifelt, dass ich vieles davon ernsthaft in Erwägung zog. Ich arbeitete bereits hauptberuflich an meiner Genesung, gab über 1500 Euro für Ärztinnen und Ärzte aus. Ich war in meinem unbändigen Willen, dem starken Wunsch der Genesung und meiner ignorierten Depression gefangen. Ich probierte auch Cannabis gegen die Schmerzen. Das half extrem – für knapp zwei Stunden. Danach wurden die Schmerzen so schlimm, dass ich für zehn Stunden ins Krankenhaus musste.

“Ich würde an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch alles probieren.”

Die Ärzte gaben mir fünf verschiedene Schmerzmittel, die mich benommen machten. Der Schmerz verschwand aber nicht. Alle ein bis zwei Minuten durchfuhr mich an einer fingerbreiten Stelle ein Schmerz, der sich wortwörtlich wie ein Messerstich ins Gehirn anfühlte. Ich schrie. Ich wollte mir die Haare ausreißen. Und ich dachte an die Leute im Mittelalter, die sich bei Kopfschmerzen die Schädeldecke aufbohren ließen, damit die bösen Geister den Kopf verlassen können.

“Bohrt mir diesen Scheiß raus”, weinte ich. “Ich verstehe Sie”, sagte die behandelnde Neurologin, die meinen Schmerz als “suizidal” beschrieb. “Ich würde an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch alles probieren.”

Ich wollte ALLES, wirklich alles, nur nicht noch einmal diesen Schmerz erleben. Meine Suche nach potentiellen Triggern wurde fanatisch. Ich eliminierte gnadenlos alles aus meinen Leben, was auch nur irgendwie verdächtig war, Kopfschmerzen zu verursachen. Ich hatte so unfassbare Angst. Angst vor dem scheiß Leben. Und ich tat alles, um dieses Erlebnis zu vergessen. Selbst, wenn ich jetzt – mehrere Monate später – an diese eine Schmerzattacke denke, muss ich mir jedes Mal gequält an die betroffene Stelle greifen. Wie Harry Potter.

Der Rückzug

Ich glaubte aber noch immer, mich selbst motivieren und therapieren zu können. “Sieh es als Chance”, sagte ich mir. “Du nutzt jetzt einfach die Zeit, um endlich mit deinem Studium voranzukommen.” Die Partys, die Ausflüge und die Sachen, die ich in der Arbeit geplant hatte, seien nicht so wichtig, dachte ich mir. Das half tatsächlich. Während ich von Jänner bis März es an einigen Tagen nur für 10 Minuten – mit Sonnenbrille und Ohrstöpsel – ins Freie schaffte, hatte ich mit der Bildungskarenz wieder einen Alltag und einen Grund, morgens aufzustehen. Ich saß jeden Tag stundenlang in der Bibliothek und lernte.

Ein paar Wochen vor der Prüfungsphase stieg das allgemeine Stresslevel und ich konnte plötzlich nicht länger als 15 Minuten lesen, ohne dass sich die Kopfschmerzen drastisch verschlechterten. Ich ging eine Woche lang nicht mehr auf die Uni und war in meinen Gedanken gefangen: “Was machst du, wenn du nichts mehr lesen kannst?”, fragte ich mich. “Was machst du, wenn du nicht mehr vor einem Bildschirm arbeiten und nicht mehr studieren kannst?” Meine Lebensplanung war Schall und Rauch. Ich roch nach Sozialfall.

“Meine Lebensplanung war Schall und Rauch. Ich roch nach Sozialfall.”

Obwohl ich acht Tage nach der ersten lesegetriggerten Attacke wieder längere Sachen lesen konnte, war mein Vertrauen in mich nun ganz weg. Die Angst vor der wiederkehrenden Schmerzattacke und davor, mein Leben ohne meine Arbeit, die ich gern und gut mache, zu fristen, brach mich vollends. Ich hörte auf, mich mit Freunden zu verabreden, weil ich nicht wissen konnte, ob ich es am nächsten Tag überhaupt aus dem Bett schaffen würde. Ich hörte auf, meinen Wecker zu stellen, weil ich nicht zu wenig Schlaf (und damit eventuell stärkere Schmerzen) riskieren wollte. Ich beschloss, nur noch auf die Uni zu gehen, wenn ich mich gesund und sicher fühlte. Das waren die Tage, an denen ich irgendwann nachmittags aufwachte, sofort die Schmerzen überprüfte und dachte: “Scheiße. Sie sind immer noch da. Du musst jetzt irgendwie zehn Stunden rüberbringen, bis du wieder schlafen kannst.”

An besseren Tagen stand ich auf, zog mich an, packte mein Uni-Zeug … nur um es wieder auszupacken, mir wieder die Schlafsachen anzuziehen und durch die Wohnung zu rennen. “Soll ich auf die Uni? Soll ich nicht?” Ich ließ die Zeit verstreichen, bis es zu spät war, um noch rauszugehen. Dann hasste ich mich noch viel mehr. “Wieder einen Tag verschissen.” Ich wünschte mir so sehr, meine Probleme wie damals als 14-Jähriger lösen zu können, als ich mein Handy mit voller Kraft an die Wand klatschte, weil es sich beim Öffnen von Anwendungen aufhängte. Mein Kopf gegen die Wand – das hörte sich irgendwie gut an.

Die männliche Depression

Jetzt, mit ein paar Wochen Abstand, befremden mich meine damaligen Gedanken und Verhaltensweisen. Ich dachte tatsächlich, dass der Kampf alternativlos sei. Und wenn es nicht funktioniert, dann muss man eben stärker strampeln. In der Neuropsychiatrie geht man mittlerweile davon aus, dass es so etwas wie “Male Depression”, also eine männliche Depression, gibt. Die These: Bei Männern wird eine Depression oft nicht erkannt, weil sie unter anderen Symptomen leiden und sich depressiv anders als Frauen verhalten – vielleicht mit der Intention, die eigene Depression zu verheimlichen.

Auf das Thema aufmerksam wurden Forscher, als sie 1989 die niedergelassenen Ärzte der schwedischen Insel Gotland in den Themen Depression und Suizidprävention schulten. Die Suizidrate sank daraufhin – wie von den Fachleuten erhofft – signifikant. Allerdings nur bei den Frauen. Bei den Männern blieb die Suizidrate nahezu unverändert. Seitdem gibt es viele Theorien dazu.

“Depressive Frauen gehen zum Arzt, depressive Männer bringen sich um.”

Dr. Armand Hausmann von der Klinischen Abteilung für Allgemeine Psychiatrie an der Universität Innsbruck hat dazu einen lesenswerten Essay geschrieben: “Frauen suchen Hilfe – Männer sterben!”. Der zugespitzte Titel, der Suizid hauptsächlich als Folge von unbehandelter Depression sieht, hat einen faktisch wahren Kern. Laut Statistik Austria leiden Frauen zwei bis drei Mal häufiger an Depression als Männer. Die Suizidrate ist bei Männern allerdings zwischen drei bis zehn Mal so hoch wie bei Frauen. Hausmanns Schluss legt nahe: Depressive Frauen gehen zum Arzt, depressive Männer bringen sich um.

Dass eine Depression bei Männern seltener erkannt wird, liege an den typisch männlichen Zuschreibungen, vermutet Hausmann. Und zumindest ich finde mich in Hausmanns Aufzählung wieder. Zu jedem “männlichen” Punkt fällt mir mindestens ein Satz ein, den ich in den vergangenen Monaten so oder so ähnlich gedacht habe: Aggressivität (“Ich möchte meinen Kopf gegen die Wand schlagen”), Unabhängigkeit (“Ich brauche keine psychische Hilfe”), Dominanzstreben (“Ich will meine berufliche Position nicht verlieren”), Leistungsorientierung (“Wie kann ich diese Zeit möglichst sinnvoll nutzen?”), Kontrolle (“Krankheit, dich lösch ich aus”) und Unverletzbarkeit (“Krankheit du kannst mir nichts! Mein Wille ist stärker”).

Hausmann schlussfolgert: “Zu diesem männlichen Stereotyp gehört es auch, Gefahren zu meistern und die damit verbundenen Ängste und Leiden nicht wahrzunehmen.” Gleichzeitig würden die klassischen Symptome der Depression – Klagsamkeit, Gedrücktheit und Antriebslosigkeit sowie die metaphorisch aufgeladenen Begriffe von Schwäche und Hilfsbedürftigkeit – eher dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Deshalb seien Frauen besser darin, Stress und Schmerz zu bewältigen.

“Hilfesuche käme einem Statusverlust und einer Identitätsbeschädigung gleich”

Man könnte auch sagen: Ihnen wird mehr Raum für ihre Gefühle und emotionalen Schwächen zugestanden. Sie haben zum Beispiel kein Problem damit, sich bei Liebesg’schichten und Heiratssachen einen Mann zu wünschen, der sie beschützt (ich weiß, das sollten wir in einem anderen Kontext wohl auch diskutieren). Ein hilfsbedürftiger Mann hingegen gilt häufig immer noch als Weichei.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Männer seltener als Frauen medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Patienten würden sich anders als Patientinnen verhalten, sagt die australische Forscherin Dell Lovett: “Es gibt kein Land, in dem die Lebenszeit der Männer genauso hoch ist, wie die der Frauen, und das hat nicht nur etwas mit den Genen zu tun. Der klassische Australier geht mit einer ‘wird schon werden’- Mentalität durch das Leben, doch wenn sie sich früher in medizinische Behandlung begeben würden, würden sie länger leben.”

Das Unwissen

Ich fühle mich beim Lesen dieser Zuschreibungen ertappt. Ich war immer unglaublich stolz, seit meinem 18. Lebensjahr finanziell unabhängig von meinen Eltern zu sein. Mein Ego musste viel schlucken, um jetzt, nach acht Jahren auf eigenen Beinen, wieder Geld von ihnen annehmen zu können. Ich habe seit rund 15 Jahren keinen wirklichen Hausarzt mehr, weil ich gleich zu einem Facharzt oder einer Fachärztin gehe, wenn ich etwas brauche. Das mache ich wohl, weil ich zum einen nicht wegen einer “Kleinigkeit” zum Allgemeinmediziner will und zum anderen, weil ich damit Selbstkontrolle abgeben würde (“Ich weiß eh, ich muss zum HNO”). Und als Matthias Strolz bei seinem Rücktritt meinte, er wolle Pilot und nicht Passagier seines Lebens sein, bekam ich Gänsehaut.

“Aufgeben tut man einen Brief”, brüllte mich mein Fußball-Trainer an, wenn ich den Ball verlor und nicht versuchte, ihn zurückzuerobern. “Härter werden, Burschen”, appellierte mein Sportlehrer, wenn sich jemand leicht verletzte oder wegen Erschöpfung aufgeben wollten. Wir lernten so den Schmerz hinunterzuschlucken. “Härter werden”, sagte ich dann auch zu einem Freund, dessen Bein nach einer wilden Hockey-Partie blutete. “Ich kann alles schaffen, wenn ich nur hart daran arbeite”, bildete ich mir danach als Teenager ein. “Hilfesuche käme einem Statusverlust und einer Identitätsbeschädigung gleich, weil diese mit Inkompetenz, Abhängigkeit, Aufgabe von Autonomie und Selbstkontrolle in Verbindung gebracht wird”, schreibt Hausmann.

Mein Informationsstand über Depression und ihre männliche Besonderheit war bis vor Kurzem extrem gering. Ich hatte das Bild einer klinischen Depression im Kopf: Betroffene, dachte ich, sind von Ärzten umgeben, werden streng kontrolliert und leben in dauernder Suizidgefahr. Aber dieses dubiose Gefühl, das mich seit Monaten – auch an den guten Tagen – begleitete, war mir suspekt. “Ist halt grad stressig”, dachte ich, “einfach eine schlechte Phase.” Mal lachte ich und empfand Hoffnung. Fünf Minuten später verkroch ich mich im Bett.

Ganze 7,7 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind davon betroffen. Vor allem junge Menschen (und alte Männer) sind eine Risikogruppe: Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Depression bei Jugendlichen zwischen 10 und 19 Jahren die häufigste Ursache für Krankheit. Global gesehen soll die Depression bis 2020 die zweithäufigste Ursache für Krankheit sein; bis 2030 sogar die häufigste Ursache.

Es ist ziemlich absurd, dass ich, der in einer liberalen Zeit eine gute Schule mit Psychologie-Unterricht besuchte, so wenig über eine der häufigsten Krankheits- und Todesursachen weiß. Ich erinnere mich noch gut, als ich vor rund zehn Jahren meinem Vater erzählte, dass ich mir Sorgen um die psychische Gesundheit meines Bruders mache. Er lächelte verlegen. Seine Antwort lautete damals, etwas überspitzt: “Eh schön, dass sich Menschen mit dem Thema beschäftigen, aber ein bisschen komisch ist das schon, oder? Ich mein, psychische Gesundheit, was soll das sein? Wo soll einem denn was wehtun?”.

Sowohl die Angst, “aufzugeben” und mir Hilfe zu suchen, als auch diese Unwissenheit ließ mich so lange zögern, mich depressiv zu nennen. “Reichen meine Schmerzen wirklich aus, um mich in eine Reihe mit depressiven Menschen zu stellen?”, fragte ich mich. “Ist das den wirklich Kranken gegenüber nicht unfair?” Außerdem habe ich die typischen Symptome wie Appetitlosigkeit und Schlafprobleme ja gar nicht. Obwohl ich “Depression” schon im Februar gegoogelt hatte, traute ich mich erst im Juni, mich “depressiv” zu nennen. Später erzählten mir einige Freunde, dass sie auch schon mal so etwas Ähnliches erlebt haben, aber dass ihre Depression wohl auch “zu leicht” war, um den medizinischen Kriterien zu entsprechen. Auch deshalb schreibe ich diese Geschichte nieder. Damit alle, die an einer “leichten Form” leiden, sich nicht so fürchterlich alleine fühlen wie ich damals. Und damit alle anderen wissen, wie beschissen eine “leichte Form” der Depression für jeden von uns sein kann.

Die Genesung

Es war an einem heißen Nachmittag, an dem ich zuhause saß und die Kopfschmerzen unaufhörlich stiegen, obwohl ich nichts getan hatte, das die Schmerzen hätte triggern können. Die Grundlosigkeit des Schmerzes war schlimmer als der Schmerz selbst. Ich rannte in Jogging-Hose und Schlaf-Shirt raus und setzte mich in die U-Bahn. Ich weiß nicht mehr, wohin ich wollte. Ich sah abgefuckt aus und fühlte mich beschissen. Es war mir mittlerweile egal. Ich brach in Tränen aus und scherte mich nicht darum, dass mich die anderen Fahrgäste anstarrten. Ich genoss, wie die Tränen meine Wange runter auf das T-Shirt tropften. Ich überlegte, wer oder was mich glücklich machen könnte und mir fiel nichts ein. “Dir geht’s nicht gut”, sagte ich mir. “Du schaffst das nicht. Du schaffst das nicht. Du schaffst das nicht.” Das war der Tag, an dem meine Genesung begann.

Ich erzählte meiner Neurologin von meinen Ängsten. Die Gehirnerschütterung sei zwar der Auslöser, aber nicht mehr der Grund für die Schmerzen, meinte sie. Mein Schmerzgedächtnis sende aus Gewohnheit – nach über sechs Monaten könne das schon sein – Schmerzen aus. Das sei wahrscheinlich psychosomatisch bedingt. Sie empfahl mir einen Therapeuten.

“Dir geht’s nicht gut”, sagte ich mir. “Du schaffst das nicht. Du schaffst das nicht. Du schaffst das nicht.”

Nach dem ersten Termin schrieb ich meinen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen bei VICE, dass ich nicht wisse, wann ich wieder zurückkehren werde. Ich sagte alle Prüfungen an der Uni ab. Ich hörte auf, auf exotische Ärzte-Empfehlungen aus meinem Umfeld zu hören. Wenig später trennten sich meine damalige Freundin und ich. Ich brach den Kontakt zu Bekannten ab, denen ich eigentlich nur aus Höflichkeit zurückschrieb. Und ich entschuldigte mich bei ehemaligen Freundinnen und Freunden für mein Verhalten. Kurz: Ich tat mehrere Monate lang Sachen, von denen man während einer langen Dusche träumt.

Und an dieser Stelle möchte ich den chronologischen Erzählstrang abbrechen. Ich könnte noch viel erzählen – auch einiges über die Dinge, für die ich sehr dankbar bin und die mein Leben verändert und bereichert haben. Aber das zu erzählen, ist nicht mein Auftrag. Ich habe in den Tagen, die ich in Boxershorts verbrachte, Halt und Hoffnung in Literatur und Kunst von depressiven Menschen gesucht und wurde oft enttäuscht. Viele haben ihre Geschichte schön geschrieben. Sie alle haben entweder den wahren Sinn des Lebens gefunden oder ihre Liebe zur Natur entdeckt. In den Buchbeschreibungen gewann ich teilweise den Eindruck, die Depression oder das Burn-Out sei das Beste, was diesen Menschen je passiert ist.

Ich habe in einem Buch auch eine Liste von depressiven Menschen vorgesetzt bekommen, die “trotz ihrer Depression” Großartiges vollbracht haben. Sie soll wahrscheinlich einen Ausweg zeigen; Leute animieren, den Kopf nicht hängen zu lassen. Das mag einigen helfen, aber ich wünsche mir mehr Pluralität – sowohl in den Rollenbildern von Männern als auch im Umgang mit psychischen Krankheiten.

“Ich möchte für das Schlechte stehen. Ich glaube, wir haben zu viel davon aus unserer Gesellschaft verbannt.”

Ich verfluche diese Liste. Und ich verhexe alle Verlage, die aus einer schönen Leidensgeschichte einen inspirierenden Paulo Coelho basteln. Ich möchte keinen motivierenden Text schreiben oder jemanden inspirieren (zu diesem Thema empfehle ich den TED-Talk von Stella Young, “I’m not your inspiration“). Ich möchte für das Schlechte stehen. Ich glaube, wir haben zu viel Negatives, das zum Leben nunmal dazugehört, aus unserer Gesellschaft verbannt. Wir haben die stinkenden und blutverschmierten Schlachthöfe aus der Innenstadt in blickdichte Fabriken verfrachtet, Bettlern das Betteln in der Öffentlichkeit verboten, und dem Typen, dem es schlecht geht, haben wir alle schon mal gesagt: “Hör auf zu jammern. Das wird schon wieder.”

Das Problem an falschem Optimismus (ich würde ja eher Verdrängung dazu sagen) ist, dass es einen Teil der Wirklichkeit ausblendet. Eine Geschichte, die die Schwierigkeiten nur ganz kurz aufzählt, um dann über die Weisheit, die man daraus gewonnen hat, zu sinnieren, ist eine Pistole im Rücken all jener, die an der gleichen Krankheit leiden: Du musst etwas Positives aus dieser Zeit mitnehmen. Du musst etwas lernen. Du musst weiser und klüger werden. Du musst zumindest sportlicher oder dünner werden. Du darfst nicht einfach nur depressiv, schwach und unproduktiv sein. Ich sage: Doch, das darfst du.


Wenn es dir nicht gut geht, nimm Hilfe in Anspruch. Schicke diese Links einem Freund oder einer Freundin, wenn du glaubst, ihm oder ihr könnte das in der Situation als Betroffener oder Angehöriger helfen.

Kriseninterventionszentrum, finanziert durch öffentliche Stellen und Spenden: Montag bis Freitag, 10 bis 17 Uhr unter 01/406 95 95, sowie Beratung – persönlich oder via Mail – und psychotherapeutische Intervention unter www.kriseninterventionszentrum.at.

Telefonseelsorge der katholischen und evangelischen Kirchen in Österreich: Rund um die Uhr, gebührenfrei und vertraulich unter der Nummer 142 sowie www.telefonseelsorge.at.

Suizid-Prävention des österreichischen Gesundheitsministeriums: Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote in den Bundesländern unter www.suizid-praevention.gv.at.

Das Österreichische Bündnis gegen Depression setzt sich mit anderen, europäischen Vereinen für eine bessere Diagnose und Behandlung depressiver Menschen ein und versucht, das Bewusstsein in der Öffentlichkeit – im Sinne einer Entstigmatisierung der Betroffenen – zu verändern: www.buendnis-depression.at.


Eine gute Freundin erzählte mir vor Kurzem, dass sie der Newsfeed von Facebook und Instagram frustriert. Dort glänze alles. Die Fotos seien so schön, die Beziehungen so perfekt und der Urlaub immer ein Traum. Sie hingegen wisse nicht, was sie jetzt nach ihrem Studienabschluss machen soll und ist seit einem halben Jahr arbeitslos. Eine andere gute Freundin hat vergessen, den Studienbeitrag zu bezahlen und muss deshalb wahrscheinlich mindestens drei Jahre länger studieren. Es macht sie verrückt, auf Facebook ausschließlich erfolgreiche Studierende zu sehen. Ihre Kolleginnen und Kollegen halten alle ihre Zeugnisse ins Internet und niemand schreibt darüber, die Prüfung verkackt zu haben.

Wie wir das Tabu brechen können

Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Als mich das nächste Mal jemand fragte, wie es mir geht, sagte ich “scheiße”. Und das ist wahrscheinlich die einzige positive Erfahrung, die ich mit euch teilen möchte. Seit ich offen mit meiner Depression umgehe, von meinen Therapie-Einheiten erzähle, und meine Schwächen zeige, kommt viel von meinen Freundinnen und Freunden zurück. Einige meinten, sie hätten selten so offen und so tiefgehend mit jemandem reden können; sie hatten bisher immer Angst, sich zu blamieren.

Eine andere Bekannte meinte, dass sie nicht geglaubt hätte, mit einem Mann jemals über so etwas reden zu können. Zum Glück sind gesellschaftliche Normen aber nicht nur das, was uns Politik, Werbung und Kunst vorsetzen – sondern auch das, was wir für richtig halten, sagen und tun. Unsere “liberale Gesellschaft” existiert nicht einfach so, sondern nur deshalb, weil viele Leute – teilweise unter viel Kritik, Schmähung und gesellschaftlicher Ausgrenzung – so leben, wie sie es wollen. Wir sind nicht dank unserer späten Geburt fortschrittlicher als unsere Großeltern oder Eltern. Wir sind es nur, wenn wir Dinge ansprechen, die unsere Vorfahren und viele unserer Freunde nicht gerne ansprechen. Wenn wir uns mehr Verständnis für das Versagen wünschen, dürfen wir nicht nur Jubelmeldungen auf Facebook posten. Und ich, ich bin ein Mann, der gerade schwach ist.

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