Softshelljacken, Trekkingschuhe, Edelweiss-Hemden und Bauernhoftiere. Wo bei vielen ein Heimatgefühl aufkommt, stelle ich mich als linkes Stadtkind normalerweise oppositionell gegenüber. So wär ich wohl zu Lebzeiten nie auf die Idee gekommen, nach St. Gallen an die Schweizer Messe für Landwirtschaft und Ernährung aka Olma zu gehen, die dieses Jahr zum 75. Mal eröffnet wurde. Weil ich aber ein weltoffener Mensch bin und das Thema in der Redaktion aufkam, habe ich mich mit einem Freund aus Zürich an den Fixpunkt in jedem St. Galler Kalender gewagt.
Guter Dinge steigen wir am Freitagnachmittag zwischen Kindergruppen und Grosseltern in den Zug von Zürich Richtung St. Gallen. Mit der Einstellung möglichst schnell und vor allem günstig voll zu werden und um die Zugfahrt ein wenig angenehmer zu gestalten, fangen wir bereits in Zürich mit dem Trinken an. Statt uns zwischen die Kinderwagen und Pendler zu quetschen, setzen wir uns kurzerhand in der ersten Klasse in den Gang. Dank dem stets zuverlässigen und pünktlichen Bahnanbieter der Schweiz steckt unser Zug kurze Zeit später nur gefühlte fünf Stunden irgendwo im Nirgendwo fest. Natürlich wird uns das Rauchen und Verlassen des Zuges während der Wartezeit untersagt, also müssen wir uns weiterhin mit Trinken beschäftigen. An diesem Punkt ein Dank an die junge Kontrolleurin, die keinen Fuck gegeben hat, dass wir in der ersten Klasse im Gang sassen.
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Bereits am Bahnhof St. Gallen beschleicht uns das Gefühl, dass der Abend doch ein bisschen anstrengender werden könnte als gehofft. Das erstes Bild, welches sich uns beim Aussteigen bietet, ist ein 16-Jähriger, der komplett wasted auf einer Bank liegt und versucht, seinen Kopf zu bewegen – es ist übrigens 17 Uhr. Das gelingt ihm, wie erwartet, nicht besonders gut – und wir sind froh, dass wir nicht gleich von einem Kotzstrahl begrüsst wurden. Dieser Anblick ist trotzdem das erste eindeutige Zeichen, dass wir noch zu nüchtern sind und definitiv zu wenig Alkohol dabei haben. Also machen wir uns auf die Suche nach etwas Hochprozentigem und einem Bankautomaten. Nachdem wir zuerst ziemlich lange einen Bankautomaten gesucht haben, werden wir von eine Postomat erlöst, bei welchem wir unser Budget für den Abend abheben – 50 Franken pro Person werden reichen, wir sind ja schliesslich nicht in Zürich. Als nächstes steuern wir den Coop an, um weiteres flüssiges Gold zu kaufen. Um unser Landjugend-Feeling noch etwas zu verstärken, kaufen wir neben dem obligatorischen Bier auch noch Smirnoff-Ice in Dosen. Das trinken die Kids hier, oder? Auf dem Weg zum Bus kommen uns mehr Olma-Besucher in allen Formen und Farben entgegen und auch die Landjugend ist schon reichlich vertreten. Ich kann nur daran denken, wie Landi, Chicoreé und Jack Wolfskin mit diesen Jugendlichen einen ziemlichen Umsatz machen: Die besten Trekkingschuhe, Softshell-Jacken in jeglichen Neon-Farben und Jeans wurden montiert – und natürlich dürfen die oft getragenen Dad-Caps und die Kuhgürtel nicht fehlen. Kaum aus dem Bus bei der Olma ausgestiegen, merken wir schon wieder, dass unsere Biervorräte nicht ausreichen werden, da sich die Besucher der Landwirtschaftsmesse schon reichlich Vorsprung angetrunken haben. Unsere Laune wird aber schnell wieder angehoben, da vor uns das grosse Schild der Degustationshalle nach wie vor grün blinkt und uns quasi “Hier gibt’s gratis Alkohol” ins Ohr flüstert.
Wir mischen uns unter die Menge und bahnen uns den Weg in die Degustationshalle. Drinnen angekommen merken wir, dass diese Halle zum Verweilen einlädt, so wie die Besucher schwanken. Also probieren wir uns durch die 2cl-Gratisproben von heimischen Weinen und Schnäpsen und zeigen den Verkäufern unsere nicht vorhandenen Weinkenntnisse. Nachdem wir uns einmal quer durch die Halle getrunken haben und die Standbetreiber uns nichts mehr rausrücken wollen, schliesst die Degustationshalle auch schon. Also gehen wir zum angrenzenden Herbstjahrmarkt. Bis jetzt wurden wir trotz all unseren Anstrengungen von der Landjugend noch kritisch beäugt. Wir kommen uns vor, als wären wir immer noch am falschen Ort, was der Olma-Stammgast sicher am Angstschweiss des Stadtzürchers riecht. Eventuell hätten wir aber auch einfach unsere Kleider eher aufs Wandern abstimmen sollen anstatt aufs Feierngehen.
Im Strom der Betrunkenen laufen wir an den verschiedensten Ständen vorbei. Von der legendären Olma-Bratwurst über Gemüseschäler bis zu Holzschnitzereien findest du hier alles, was wir Schweizer so produzieren. Nur das Alkoholangebot hält sich in Grenzen – obwohl jede zweite Person mit einem Bier in der Hand durch die Gegend spaziert, scheint es uns unmöglich, ein Bierzelt zu finden. Ich fühle mich ein wenig wie ein Touristin in einem fremden Land. Als dann endlich ein weisses Partyzelt am Horizont auftaucht, können wir es gar nicht mehr erwarten, mit der Dorfjugend anzustossen und unsere Promillezahl ein wenig nach oben klettern zu lassen. Und wieder haben wir uns zu früh gefreut. Das Partyzelt ist praktisch leer, Schlagermusik dröhnt uns vom Eingang entgegen und der Eintritt kostet zehn Franken – fast schon Zürcher Verhältnisse. Nun beginnt erstmals der Kampf mit der Resignation.
Doch dann kommt ein unbekannter Held daher getorkelt und verrät uns den Standort der nächsten Bar. Und tatsächlich finden wir die “Bar” auch sofort. Wir fühlen uns ein bisschen in der Zeit zurückversetzt: Für unsere 15-jähriges Ichs wäre die Olma sicher ein cooler Event gewesen. Aber jetzt stehe ich in diesem alten Zirkuswagen, der als Bar dient, und versuche die Musik zu ignorieren und mir gleichzeitig nicht den Kopf anzuschlagen. Anständig wie wir sind, stehen wir an der Bar an. Aber es ist dann eben schon schwierig, angetrunken anständig zu bleiben, wenn du beim anständigen Anstehen von ein paar alten betrunkenen unanständigen Männern angerempelt wirst. Mit der Entschuldigung “So sind wir halt” drückt sich das Duo an uns vorbei in den vollen Wagen, um dort weiter zu pöbeln und zu trinken. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir endlich an der Bar an. Die Kellnerin war schon sichtlich genervt von unserer Bekanntschaft von vorhin, da diese Sprüche fallen liessen, die sich zum Teil auch auf die Hautfarbe der Barkeeperin bezogen. Schlussendlich können wir trotzdem das lang ersehnte Bier bestellen. Während wir darauf warten, dass die Kellnerin ein frisches Schützengarten zapft, greift mir jemand noch kurz an den Arsch und untermalt seine schöne Anmache mit den Worten “Hey Schätzchen”. In meinem inneren Auge drehe ich mich um, um dem Typen mein frisches Bier inklusive Glas über den Kopf zu schmettern. Da ich im Moment aber an meinem inneren Seelenfrieden arbeite, atme ich tief durch und verlassen den Wagen ohne dem Typen klarzumachen, dass er ein Arsch ist. Meinem Kumpel erzähle ich erst davon, als wir uns von der Bar entfernt hatten, weil er sehr wahrscheinlich nicht so ruhig wie ich reagiert hätte.
Um uns schauend wird uns einmal mehr bewusst, dass wir zu wenig Alkohol intus haben und so leert sich das Bier immer schneller und die Besuche in der “Bar” häufen sich. Nach mehreren Runden durch die Messe kommen wir zur Erkenntnis, dass eigentlich nichts mehr zu retten ist. Die Teenager werden immer betrunkener genauso wie die Erwachsenen, die Boxkastenunfälle häufen sich, genauso wie die Kotzereien. Die betrunkenen Kinder vermehren sich wie die Karnickel und die leeren Bierbecher in unseren Händen tun es ihnen gleich – die Stimmung wird langsam immer lockerer. Vor allem habe ich an diesem Abend viele Gespräche mit betrunkenen Frauen auf der Toilette. Was ich dazu gelernt habe, ist, dass die St. Gallerinnen verdammt stolz sind, wenn sie in einer Guggenmusik-Kapelle spielen und ihre Vereins-Softshelljacke im “Ausgang” tragen. Die Jacken werden dann meistens auch noch mit individuellen Spitznamen auf den Jackenärmeln ergänzt, um den Style noch zu vervollständigen. Und ich habe immer gedacht, die Leggings mit Rissen sind langsam aus der Mode, aber vielleicht sind diese Trends schon so alt, dass sie schon wieder in Mode sind – Trash-Lifestyle halt.
Gegen 23 Uhr liegen die ersten Alkoholleichen in der Gegend herum und unser Pegel ist auch anständig gestiegen. Als dann so ziemlich jeder Gast anfängt, sein Getränk zu verschütten und in aller Selbstverständlichkeit mich über seine Melkmaschine vollzuquatschen, ist es für uns das Zeichen, zu gehen. Also bewegen wir uns durch die Masse in Richtung Bus. Was ich mir auf dem Heimweg nicht verkneifen kann, ist, an einem Olma-Bratwurst-Stand zu fragen, ob sie etwas Veganes hätten und ob ich Senf dazu haben könne. Die Angestellten antwortet zuerst selbstsicher: “Ja, das Bürli.” Überlegt dann nochmal kurz und fügt an: “Ah nein, das ist auch nicht vegan.” Auf dem Weg Richtung Zürich erleben wir noch mehr volle Büsse und Züge mit betrunkenen Menschen. Ich bin sichtlich froh, wieder in die Stadt zu kommen, die mich mit hochstehenden Drinks, dreckigem Techno und veganem Essen warm hält.