Ich war auf der Chemtrail-Demo—als Pilot verkleidet

Ist euch auch schon aufgefallen, dass die Temperatur sinkt, wenn die Sonne untergeht? Und seid ihr auch nicht zufrieden mit der Erklärung, dass das eben daran liegt, dass die Sonne untergegangen ist? Dann solltet ihr euch dringend mit Chemtrails befassen.

Die Chemtrail-Bewegung ist ein kleine, aber sehr aktive Gruppe von Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass die Kondensstreifen von Flugzeugen, die man täglich am Himmel sieht, nicht einfach nur aus den kondensierten Abgasen der Triebwerke bestehen. Vielmehr handelt es sich dabei um die Sprühspuren von giftigen Chemikalien, die dunkle Mächte mithilfe von (auch zivilen) Flugzeugen auf der ganzen Welt verteilen lassen, um das Klima zu beeinflussen, Ernten zu vernichten und die Bevölkerung zu unterjochen. Das alles geschieht natürlich im Geheimen—deshalb hat es sich die Chemtrail-Bewegung zur Aufgabe gemacht, das ahnungslose Volk vor dieser globalen Verschwörung zu warnen.

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Zu diesem Zweck unterhalten die Volksaufklärer nicht nur zahlreiche Web- und Facebook-Seiten oder gründen Bürgerinitiativen mit Namen wie „Sauberer Himmel”, sondern sie versammeln sich auch einmal im Jahr zum „Global March Against Chemtrails and Geoengeneering [sic]”—so auch am letzten Samstag in Berlin. Weil ich diese Bewegung schon immer faszinierend fand—immerhin sind das Leute, die selbst von den Organisatoren der Montags-Mahnwachen für unangenehme Spinner gehalten werden—, wollte ich das auf keinen Fall verpassen. Um das ganze aber noch interessanter zu machen, beschloss ich, mich für den Umzug als Pilot zu verkleiden—denn wer muss dringender über die Gefahr von Chemtrails informiert werden als ein Pilot?

Übrigens der einzige „Chemtrail” an dem Tag.

1. Teil: „Das sollte Sie besonders interessieren!”

Es war allerdings gar nicht so einfach, an eine Piloten-Uniform zu kommen. Die echten Film- und Theaterverleihe behaupteten, keine realistischen Uniformen ausgeben zu dürfen—und mit so einer Karnevals-Uniform aus Polyester musste ich natürlich gar nicht erst auf der Demo auftauchen. Zum Glück fand ich in letzter Sekunde doch noch einen Kostümverleih, der Uniformen aus den Altbeständen einer bankrotten Fluggesellschaft auf Lager hatte („Die sind alle abgestürzt, aber wir haben die ordentlich reinigen lassen”). So kam es, dass ich kurz darauf in voller Montur in der S-Bahn auf dem Weg zum Alexanderplatz saß.

Hier überkamen mich die ersten Zweifel. Würden die misstrauischen Verschwörungstheoretiker mir die Maskerade abnehmen? Die Uniform passte zwar gut und sah auch relativ seriös aus, der Rest von mir aber leider nicht. Ich hatte es nicht mehr geschafft, mir einen korrekten Haarschnitt zu verpassen, selbst fürs Rasieren war keine Zeit gewesen. Und auch wenn sie es mir zuerst glauben würden—was würde passieren, wenn sie mich nach irgendwelchen technischen Details fragen? Mein Fachwissen über die Luftfahrt beschränkt sich auf die interessante Information, dass Tomatensaft in Flughöhe angeblich besser schmeckt als am Boden.

Versuchen musste ich es trotzdem, immerhin trug ich schon die Uniform. Mit dem Fotografen Jermain machte ich aus, dass ich mich einfach entlang der Marschroute an die Straße stellen und so tun würde, als wäre ich von der Demo völlig überrascht. Ich stand also planmäßig auf der Oranienburger Straße, schräg gegenüber der Neuen Synagoge, als der „March against Chemtrails” um die Ecke bog.

Angeführt wurde der Marsch von einem mit Transparenten beklebten Wohnmobil, auf dem ein Lautsprecher montiert war. Vor dem Wohnmobil liefen Leute mit Flyern. Bevor ich mir überlegen konnte, wie ich mit den besorgten Bürgern ins Gespräch kommen sollte, steuerte bereits eine ältere Dame auf mich zu und drückte mir mit den Worten „Das sollte Sie besonders interessieren!” einen Flyer in die Hand. Ich war natürlich sehr interessiert. Wenig später lief ich neben einer mittelalten Frau im Hippie-Look hinter dem Wohnmobil her.

Während ich mir gerade von der Frau erklären ließ, worum es eigentlich ging („Klima-Kriegsführung in Deutschland”), drängelte sich ein Mann dazwischen, den ich jetzt mal Klaus nennen will. Klaus freute sich enorm, einen echten Piloten über Chemtrails aufklären zu können. „Sie fliegen selber, vorne im Cockpit?”, fragte er mich aufgeregt, und meine Antwort, ich sei aber nur Kopilot, schien ihn völlig zufrieden zu stellen.

Klaus fing sofort an, mich ins Bild zu setzen. „Haben Sie mal gemerkt, dass die Flieger so nen Ausstoß haben hinten dran? Sehen Sie ja ständig, oder? Schonmal drauf gekommen, dass das auch künstlich gemacht werden könnte?” Von da an bombardierte er mich während des ganzen restlichen Marsches mit Fakten und Chemikalien, so dass mir der Kopf schwamm: US-Patente auf Aerosol-Ceilings, Geoengineering in der Stratosphäre, Welsbach-Partikel, Aluminiumoxide, Bariumsalz, solares Radiation Management, Alphastrahler—Klaus wusste alles, und er wollte mir alles mitteilen.

Während wir redeten, versuchte ich mir, so gut ich konnte, einen Überblick über meine Mitmarschierenden zu verschaffen. Um uns herum gingen ca. 150 Menschen, von denen manche relativ normal aussahen—soweit das eben möglich ist, wenn man als erwachsener Mensch mit Transparenten gegen „Wetterkontrolle” wedelt und dabei „Und wir fordern immer wieder: Stoppt doch diese Todesflieger!” skandiert. Aber es gab auch skurrilere Gestalten: Abgesehen von ein paar glatzköpfigen Jungs, die sich selbst T-Shirts mit russischen Buchstaben bemalt hatten—und von denen einer im Vorbeigehen lachend auf die Neue Synagoge zeigte und „Eigentlich müssten wir da reingehen” sagte—fiel mir vor allem ein älterer Herr auf, der seinen elektrischen Rollstuhl in eine Art Karnevalswagen für Reichsdeutsche verwandelt hatte: Hinten wehte die Reichskriegsflagge, in den Radnaben waren Eiserne Kreuze eingesetzt, und auf dem Schoß trug er einen Pudel mit echtem Reichskriegshalsband.

Mittlerweile hatte sich ein älterer Herr zu Klaus und mir gesellt, der mich unter anderem eindringlich warnte, mein neues Wissen ja nicht an meinem Arbeitsplatz preiszugeben. „Gehn Sie damit aber auf der Arbeit nicht hausieren, da verlieren Se den Job!”, warnte er mich. Und zu Klaus: „Musste den Leuten immer sagen, wenn du sie aufklärst!”, denn „Leute kriegen ihre Fahrerlaubnis weg, wenn die von Chemtrails sprechen! Das ist kein vom System erlaubtes Wort!”

Klaus war der alte Mann ein bisschen peinlich. „Hier laufen auch viele skurrile Typen mit, das ist das Problem”, sagte er leise zu mir. „Der da hat keine Zähne im Mund, das ist der Sache nicht förderlich—da denkst du gleich, das sind hier Spinner.” Da hat er wohl recht.

Zum 2. Teil: Reichsbürger, Montagsdemonstranten und Esoterik-Nazis

2. Teil: Reichsbürger, Montagsdemonstranten und Esoterik-Nazis

Ich wollte jetzt endlich wissen, wer uns eigentlich mit Bariumsalz vollsprühen will und warum. Da bewies Klaus eindrücklich, dass geistige Gesundheit nicht immer am Gebiss abzulesen ist: „Der Zweck ist … vielschichtig”, erklärte er kryptisch. „Die wenigen gegen uns. Wer betreibt denn das Schuldgeld?”, fragte er.

Auf meinen verständnislosen Blick hin belehrte er mich: „Die Regierungen leihen sich das Geld, von Rockefeller zum Beispiel, von Rothschilds und der Federal Reserve Bank. Die FED ist eine private Bank im District of Columbia, der gehört zum Königreich England. Das ist ein Staat im Staat. Die City of London ist ein Staat im Staat. Vatikanstadt ist ein Staat im Staat! Völlig autark, autonom. Aber wo kommt das Geldsystem her? Geld aus dem Nichts! Wer generiert denn das, wer gibt das aus, das ist die Systemfrage! Die, die das betreiben—seit mindestens 100 Jahren—, die würde ich als die verorten, die dahinter stecken. Es geht am Ende darum, die Menschen an die Kandare zu bringen!”

Ich behielt einfach mal meinen neutral interessierten Gesichtsausdruck bei. Was sollte ich auch sonst tun? Jetzt steckte ich hier drin, jetzt musste ich mir das auch bis zum Ende antun. Klaus regte sich gerade wieder auf, weil hier so viele „Spinner” rumlaufen würden und das alles scheiße organisiert sei, da hätte er gar nicht aus Jena kommen brauchen.

Immerhin war er stolz, dass Werner Altnickel dabei war, der vorne im Wohnmobil saß und gerade per Lautsprecher die Münzstraße in monotonem Norddeutsch über „Giftpartikel” aufklärte. „Der wurde bei Greenpeace rausgeschmissen, weil er von Geoengineering und Chemtrails gesprochen hat”, erklärte mein Begleiter. „Die fassen das Thema nicht an!”

Werner Altnickel

Was Klaus nicht erwähnte: Werner Altnickel, der Betreiber von chemtrails.de, lädt da nicht nur pseudowissenschaftlichen Unsinn über Nano-Partikel, sondern auch ganz gerne mal Nazi-Propaganda hoch—z.B. Texte über den „Bomben-Holocaust der Alliierten” in Dresden oder Zitate aus den „Protokollen der Weisen von Zion”. Mit dabei war auch ein weiterer Gründer der Gruppe „Blauer Himmel Berlin”: Claus Petersen, ein bekannter „Reichsbürger” und Holocaust-Leugner.

Claus Petersen (rechts, auf der Montagsdemo am 16. Juni in Berlin)

Später erkannte ich auf den Fotos sogar noch einen meiner persönlichen Favoriten: Dennis Ingo Schulz, der mich mit seinen Theorien über das Liebesvermögen der „Nordmenschen” zu einem Artikel über die besten Nazi-Theorien der Nullerjahre inspiriert hat. Ebenfalls dabei war sein Kumpel, der Reichsbürger Mario Romanowski—gäbe es einen Wettbewerb um den Titel „Deutschlands dümmster Nazi”, würden die beiden sich vermutlich ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen liefern.

Von links nach rechts: Dennis Schulz, der Elektro-Reichsbürger und Mario Romanowski.

Mittlerweile war ich relativ erschöpft von all den Informationen, mit denen Klaus mich berieselte wie mit Aluminium-Feinstaub. Auf einmal musste ich mich aber wieder voll konzentrieren, weil plötzlich ein zweiter Mann in einem Pilotenkostüm auftauchte und mich mit einem schelmischen „Hallo, Kollege!” begrüßte. Sein Kostüm war zwar nicht so schick wie meins, und er gab auch sofort zu, „nur Schauspieler” zu sein—schaute mich dann aber prüfend an und fragte „Vielleicht bist du ja auch nur’n Schauspieler, was?” Tief gekränkt verneinte ich und erklärte, ich müsse auch gleich wieder nach Düsseldorf, was ihn zufriedenstellte. „Sensationell. Du könntest eigentlich der erste Whistleblower werden!”

Dummerweise fingen Klaus und er dann an, über Flughöhen zu fachsimpeln. „Ihr fliegt ja immer so auf …”, wollte Klaus wissen. „8.000 Meter …?”, versuchte ich zu raten, sozusagen in den blauen Himmel hinein. Falsch. „Echt? Ich dachte eigentlich, immer so zwischen 10.000 und 13.000 Meter”, meinte mein „Kollege” skeptisch. Klaus war verwirrt, so dass ich hastig „Na ja, ich flieg ja nur innerdeutsch, da ist das immer niedriger” einwarf, was beide dann zufrieden wiederholten. „Klar, innerdeutsch! Da bleibste immer unterm Aerosol-Schild!” Die Gefahr war fürs Erste vorbei.

Klaus und der Pilot schwadronierten also fröhlich weiter über „krepierende Bäume” und die Aluminiumpartikel, die von Monsanto ausgebracht werden, um sich die Kontrolle über die weltweite Getreidewirtschaft zu sichern. Und plötzlich hatte ich die Nase voll. Klaus war zwar irgendwie sogar ein netter Typ, der oft so wirkte, als versuchte er, sich selbst genauso zu überzeugen wie mich, aber meine Toleranzschwelle für Schwachsinn war einfach erreicht.

Noch irgend so ein Reichsbürger

Außerdem hatten wir den Alexanderplatz erreicht und näherten uns der Abschlusskundgebung, wo sich dann alle im Kreis versammeln würden. Ich war mir nicht so sicher, dass die echten Nazis—von denen mir mehrere schon misstrauische Blicke zugeworfen hatten—sich genauso leicht von meiner Kompetenz als Flugkapitän überzeugen lassen würden, und ich wollte es lieber nicht ausprobieren. Ich murmelte also irgendwas von meinem Flug, wedelte Klaus und Käptn Balu zum Abschied mit meinen Flyern zu und verdrückte mich zum Alexanderplatz.

Jermain kam etwas später dazu und erzählte mir, wie ein paar der aggressiveren Demonstranten bei der Abschlusskundgebung noch einen Typen in die Mangel genommen hatten, der mit einem Aluhut zwischen ihnen herumlief, während mein Freund Dennis die Journalisten abfilmte und als „Schwuchteln” beschimpfte. Ich war also ziemlich froh, dass ich mich rechtzeitig verdrückt hatte.

Als später einem Kollegen von meinem Tag erzählte, schüttelte er nur den Kopf und meinte: „Was für Trottel. Ich habe noch nie einen Piloten mit Brille gesehen.” Tatsache, daran hatte ich nicht gedacht—die Chemtrail-Genies gottseidank aber auch nicht.