Es ist ein winterlicher Sonntagabend in Wien und ich schleppe mich durch dunkle Straßen, auf denen der Schnee schon längst zu braunem Matsch geworden ist. Eigentlich hätte ich Lust, nach Hause zu fahren, Kakao zu trinken und dabei Serien zu bingen. Mit einem wildfremden Mann bei engstem Körperkontakt zu rangeln, während uns 30 Menschen dabei zusehen, steht eigentlich nicht an der Spitze meiner Bedürfnispyramide. Aber genau das habe ich an diesem Abend vor. Denn ich bin auf dem Weg zu einem Playfight.
Playfights sind spielerische Kämpfe, die erotisch sein können, aber nicht notwendigerweise sein müssen. Meine Vorstellung davon, wie Playfights ablaufen könnten, war immer ziemlich vage. Meine Phantasie tat zwar das ihrige und stückelte wie von alleine verschwommene Bilder aus Eyes Wide Shut mit Szenen aus Fight Club zusammen. Das Resultat war so verrucht wie seltsam. Weil ich wissen wollte, was bei Playfights wirklich passiert, musste ich es mir selber anschauen.
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Darum stehe ich vor der Türe von Wiens einzigem Club dieser Art, er heißt “Die Schwelle”. Von außen ist kaum erkennbar, dass in diesem Kellerlokal etwas los sein könnte. Obwohl es mir tatsächlich ein wenig schwer fällt, durch die Türe zu gehen, nehme ich mir schon jetzt vor, mir jedes Wortspiel mit Schwellen und dem Darüberschreiten zu sparen.
Drinnen ist das Licht gedimmt. Ich stolpere ein paar Treppen hinunter in den Eingangsbereich. Hier werden die Schuhe ausgezogen. Im dahinter liegenden Raum ist die Garderobe, wo ich erste Blicke auf andere BesucherInnen werfen kann. Die Frage, wer wohl hier her kommt, beschäftigt mich schon die ganze Zeit. Sind es Creeps? Alte Leute? Junge? Alle?
Mein erster Eindruck beruhigt mich. Ich sehe vor allem junge Leute, die aussehen, als könnten sie meine Freunde sein. Sie stehen in Grüppchen zusammen und plaudern. Die Stimmung ist eigentlich wie in einem Yogastudio – und das nicht nur, weil alle wie Yogis angezogen sind.
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Rechts von der Garderobe weg erstreckt sich ein Gang durch ein gepflegtes Kellergewölbe aus orangem Ziegel. Der Boden ist aus Holz und die beiden großen Räume, die vom Gang wegführen, sind mit Kaminen beheizt. Nur die schweren roten Vorhänge und die relativ expliziten Fotos an den Wänden erinnern daran, dass das hier ein sexpositiver Club und kein Architekturbüro ist.
Ich gehe den Gang entlang zur Bar, um dort die 20 Euro Teilnahmegebühr für den Abend zu bezahlen. Dort entdeckt mich Jana Studnicka, die Obfrau des Vereins, der “Die Schwelle” betreibt. Ich hatte mich im Vorfeld als Erstbesucherin bei ihr angemeldet. Ob ich denn nervös sei, fragt sie mich. “Nein”, antworte ich und schaue dabei unwillkürlich Richtung Boden, wie meistens, wenn ich lüge.
Jana kommt ursprünglich aus Salzburg. Für ihr Medizinstudium ist sie nach Wien gekommen und hat hier “Die Schwelle” kennengelernt, die von dem Sozialtherapeuten Reinhard Gaida vor rund fünf Jahren gegründet wurde. Mittlerweile ist Jana nicht nur Doktorin der Medizin, sondern auch Vereinsobfrau der “Schwelle”. Der Job als Ärztin kann noch warten. Derzeit ist sie hier voll eingedeckt – und sie wirkt mehr als zufrieden damit.
Während wir uns unterhalten, wandern meine Augen immer wieder zu dem Raum, in dem gleich der Playfight stattfinden wird. Sechs Matratzen sind in der Mitte des Raumes zusammengeschoben und bilden ein kuschliges Feld. Rundherum liegen und sitzen schon einige TeilnehmerInnen auf Polstern und Matten. Manche von ihnen sitzen alleine, andere haben sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden. Sie kuscheln, streicheln und massieren einander.
Ist das hier der Beginn einer Orgie? Wird dieser Abend vielleicht meine persönlichen Grenzen überschreiten? Oder ist das, was ich sehe, einfach ungewohnt für mich?
Mir wird unwohl. Die verschlungenen Grüppchen wirken sektenhaft auf mich und ich denke unwillkürlich wieder an Eyes Wide Shut. Es fällt mir schwer, meine Eindrücke einzuordnen: Ist das hier der Beginn einer Orgie? Wird dieser Abend vielleicht meine persönlichen Grenzen überschreiten? Oder ist das, was ich sehe, einfach ungewohnt für mich? Ist es möglicherweise einfach die praktische Umsetzung von Sexpositivität?
Sexpositivität heißt im Wesentlichen, dass Menschen, die Sex haben wollen, ihn nicht nur haben, sondern auch genießen sollen. Voraussetzung dafür ist das Konsensprinzip. Wenn alle Beteiligten zustimmen, soll jede (legale) Sexualpraktik ohne Scham und Stigmatisierung gelebt werden können.
Sexpositivität geht davon aus, dass Sexualität in den meisten Gesellschaften entweder verdrängt oder entlang konservativ-bürgerlicher Moralvorstellungen in Hierarchien angeordnet wird. An oberster Stelle steht dabei der Sex zwischen heterosexuellen Ehepartnern. Das ist der “normale” Sex. Alles, was davon abweicht, wird gesellschaftlich mehr oder weniger sanktioniert – von Homosexualität über Gender-Diversität bis hin zu Sexualpraktiken wie BDSM.
Vor allem Frauen kommen dabei in der Artikulation ihrer sexuellen Bedürfnisse oft zu kurz. Hier setzt sexpositiver Feminismus an. Sexualität wird als etwas Politisches gesehen, weil sich darin die gesellschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegeln.
Sexpositive Räume wollen vor diesem Hintergrund vor allem Platz für die Frage schaffen: Welche Form der Sexualität möchte ich wirklich leben? Und erst in weiterer Folge wollen sie auch den Raum bieten, diese Sexualität auszuleben.
Ich komme mir ein bisschen fehl am Platz vor, wie eine Voyeurin ihrer Intimität.
Jetzt geht es los. Rund 30 Menschen sitzen an diesem Abend um das Matratzenlager in der Mitte des Raumes. Der Gründer der “Schwelle” erklärt zu Beginn den Ablauf des Playfights: Eine Person begibt sich in die Mitte und fordert von dort jemanden zum Kampf auf. Die geforderte Person entscheidet dann, ob sie die Einladung annimmt oder ablehnt. Ein Kampf dauert so lange, bis die beiden Beteiligten genug haben. Oder bis eine Person “Stopp” sagt. Wann auch immer, warum auch immer. Abgesehen davon ist alles, was im Kampf gewünscht ist, auch erlaubt.
Als erstes wagt sich ein Mann mittleren Alters in die Mitte. Er hat eine glänzende Glatze und wirkt in seiner Jogginghose irgendwie sympathisch auf mich. Er fordert eine junge Frau in meinem Alter mit einem Nicken zum Kampf heraus. Sie grinst breit und erwidert sein Nicken sofort. Die beiden scheinen einander schon zu kennen.
Sie setzen sich in der Mitte des Matratzenlagers voreinander hin. Langsam fangen sie an, sich zu berühren. Sie kommen sich näher, drücken die Köpfe aneinander, umarmen sich und bewegen sich dabei rhythmisch, fast als würden sie miteinander tanzen. Ich komme mir ein bisschen fehl am Platz vor, wie eine Voyeurin ihrer Intimität.
Plötzlich nimmt die junge Frau Schwung und wirft ihn nach hinten um. Er landet auf dem Rücken. Sie setzt sich blitzschnell auf ihn und fixiert seine Arme mit ihren Knien. Ein triumphales Lächeln huscht über ihr Gesicht. Aber im nächsten Moment hat er sie schon wieder abgeworfen und die beiden rangeln über die Matratzen. Mal hält sie ihn fest, mal er sie unter Kontrolle. Manchmal geht es sanft zu, im nächsten Moment wieder rough. Im einen Moment wirken die beiden wie blödelnde Kinder, im nächsten Moment wirkt es, als würden sie bei dem, was sie tun, gleich allein sein wollen.
Abwechslungsreich sind auch die Geschlechterkonstellationen, die in den Kämpfen aufeinander treffen. Männer kämpfen gegen Männer, Frauen gegen Frauen, Frauen gegen Männer und umgekehrt. Und auch die, die sich keinem Geschlecht zuordnen, kämpfen.
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Nach etwa drei Runden werde ich gefordert. Eine wildfremde Person setzt sich vor mich hin und will mit mir raufen. Er schaut mir direkt ins Gesicht und wartet auf meine Antwort. Aber nicht nur er, auch die anderen 28 Personen im Raum warten gespannt auf meine Reaktion. Ich spüre ihre Blicke, dafür brauche ich nicht einmal in die Runde zu schauen. Meine Hände fangen an zu schwitzen. Die Situation ist mir unangenehm. Ich habe keinerlei Bedürfnis, dieser Person körperlich nahe zu sein – im Gegenteil. Ich schüttle den Kopf: Nein, ich will nicht. Er geht zurück zu seinem Platz, das nächste Paar findet sich in der Mitte, ein neuer Kampf beginnt.
“Nein” sagen ist ein wichtiger Aspekt konsensbasierter Sexualität. Dass genau das aber in der Realität oft verdammt schwer ist, wurde zum Beispiel am Fall Aziz Ansari wieder einmal offensichtlich. In einem Artikel des Magazins Babe wird dem Comedian von einer jungen Frau vorgeworfen, bei einem Date sexuell fordernd gewesen zu sein, sowie die nonverbalen und verbalen Signale ihrer Unlust übergangen zu haben. Sie schreibt von einer traumatisierenden Erfahrung, er entschuldigt sich, ihre Zeichen falsch gelesen zu haben.
Viele argumentieren deshalb, es liege in der Verantwortung der Frau, “Nein” zu sagen und zu gehen, wenn sein Verhalten ihr nicht passt. Andere betonen, dass die Schwierigkeit, “Nein” zu sagen, sich auch daraus ergibt, dass Frauen immer noch dahingehend sozialisiert werden, die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen zu stellen. Unsere gesellschaftlichen Rollenbilder führen ihrer Meinung nach dazu, dass viele Männer das Gefühl haben, sie könnten Sex einfordern, während Frauen sich oft nicht einmal berechtigt fühlen, Dinge, die ihnen nicht gefallen, abzubrechen.
“Ich nehme das auch in meinen Alltag mit. Auch in der Arbeit oder im Privatleben sage ich jetzt viel öfter ‘Stopp’, wenn mir etwas zu viel wird.”
“Ich habe das Gefühl, erst hier richtig gelernt zu haben, wie man ‘Nein’ sagt”, erzählt mir Winnie in einer Pause. Winnie ist in ihren Zwanzigern und kommt seit etwa zwei Jahren zu den Playfights. Sie wirkt quirlig und aufgeweckt. “Ich nehme das auch in meinen Alltag mit. Auch in der Arbeit oder im Privatleben sage ich jetzt viel öfter ‘Stopp’, wenn mir etwas zu viel wird.”
Für das Leitungsteam des Vereins sind das wichtige Erfahrungen in einer Gesellschaft, die chronisch “oversexed but underfucked” sei, und deshalb Fragen nach Wünschen und Grenzen in der persönlichen Sexualität unterdrückt. Abseits der “Standardsexualität” gäbe es viel zu entdecken, sagt Jana Studnicka. “Aber dafür muss ich erst mal wissen was ich will, was ich nicht will, und wie ich das artikuliere.”
Insofern ist ein sexpositiver Club auch ein Safe Space, da neben dem Konsensprinzip auch ein hohes Maß an Sensibilität fürs Gegenüber herrscht, – und der dadurch zentrale feministische Forderungen erfüllt. “Das ist ein riesiger Unterschied zu einem Swinger Club, denn hier kommt niemand her, um Sex zu haben”, sagt Reinhard Gaida. “Natürlich kann es dazu kommen, es ist erlaubt. Aber niemand hat das Gefühl, Sex einfordern zu können, weil er Eintritt bezahlt hat.”
Auch ich bin an diesem Abend nicht in “Die Schwelle” gekommen, um Sex zu haben. Sehr wohl aber, um an einem Playfight teilzunehmen. Mittlerweile habe ich mich ein bisschen entspannt und auch meine Hände schwitzen nicht mehr so arg wie zuvor. Und eigentlich möchte ich wirklich wissen, wie es ist, sich mit einer vollkommen unbekannten Person über die Matratzen zu fetzen.
Der Kampf macht Spaß, ich versuche zu dominieren, mein Kampfpartner lässt sich überwältigen. Erotisch finde ich das Gerangel nicht.
Zum Glück werde ich ein zweites Mal zum Kampf gefordert und diesmal willige ich auch ein. Wir setzen uns in die Mitte, er streckt seine Hand nach mir aus und zieht mich sanft an sich. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter, rieche ihn unwillkürlich und freue mich, dass er nicht unangenehm riecht. Er schlingt seine Arme weiter um mich und streichelt meinen Rücken. Durchaus angenehm, denke ich mir, aber ich bin schließlich zum Kämpfen und nicht zum Kuscheln gekommen. Ich löse meinen rechten Arm, lege ihn ihm um Nacken und drücke ihn im Schwitzkasten in die Matratze.
Der Kampf macht Spaß, ich versuche zu dominieren, mein Kampfpartner lässt sich überwältigen. Erotisch finde ich das Gerangel nicht. Dafür bekomme ich Lust, mein lange vernachlässigtes Hobby Thaiboxen wieder aufzugreifen. Wie es meinem Kampfpartner dabei geht, weiß ich nicht.
Nach vier Stunden ist der Playfight-Abend vorbei. Es wird Essen bestellt, ich trinke ein Bier an der Bar und plaudere mit meinem Kampfpartner. Einige TeilnehmerInnen kuscheln sich derweil auf den Matratzen zusammen, plaudern oder schmusen. Mittlerweile irritiert mich die offene Intimität der Menschen hier nicht mehr. Ich habe mich ganz schön schnell daran gewöhnt.
Als ich mich auf den Heimweg mache, fragen mich ein paar Leute, ob ich vor habe wiederzukommen. “Ich weiß noch nicht”, sage ich und mein Blick wandert Richtung Boden. Denn ich habe es eigentlich nicht vor. Ich fühle mich sehr wohl mit meiner klassischen Zweierbeziehung. Gelernt habe ich an dem Abend trotzdem viel: dass man “Nein” sagen trainieren kann, dass Sexpositivität und Feminismus gemeinsame Ziele verfolgen und dass eigentlich viel mehr grauft gehört.