Wenn ich betrunken bin, sehne ich mich nach körperlicher Nähe zu meinen Freundinnen und Freunden. Ich lasse sie beim Tanzen auf meinem Hintern trommeln, führe im Wohnzimmer meinen neuen Badeanzug vor (inklusive Umziehen vor Publikum) und rolle mich nach einer halben Flasche Wein wie eine aufdringliche Katze neben ihnen zusammen, um gekrault zu werden. Nüchtern ist mir der freundschaftliche Körperkontakt oft unangenehm: “Deine Umarmungen sind die schwächsten, die ich je bekommen habe”, sagte eine Kommilitonin fast zwei Jahre lang jedes Mal, wenn ich meine Arme zur Begrüßung phlegmatisch über ihre Schultern legte. Als ich mich mit einer Freundin zum Brustmassage-Workshop treffe, bin ich ziemlich aufgeregt. Nicht, weil sie meine nackten Brüste sehen wird – sie hat in meinem Handy oft ein Mal zu weit durch die Fotomediathek gewischt und durfte selbst meine Vulva schon live betrachten – sondern, weil sie meine Brüste an diesem Freitagabend auch in ihren in Babyöl getränkten Händen halten wird.
Der Workshop findet in den Räumen einer zum Yoga-Studio umfunktionierten Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg statt. Shiatsu-Behandler, “Sexological Bodyworker” und Kuschelparty-Veranstalter Volkmar Münz will uns in drei Stunden und 25 Schritten beibringen, wie wir unsere Brüste ehren und erforschen können. “Sensitivität und Fühlen, Genuss und Präsenz erhöhen sich”, hat er in der Facebook-Veranstaltung zum Workshop geschrieben, über 1.300 Menschen waren interessiert. “Dies bedeutet in der Konsequenz mehr Lust und intensivere Sinnlichkeit.” Mich mit mir und meinem Körper auseinanderzusetzen, finde ich wichtig, aber der sexbezogene Aspekt der Brustmassage – und die Tatsache, dass ich sie an meiner Freundin durchführen werde – bereiten mir schon Tage vor dem Seminar leichte Magenschmerzen.
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Am Workshop nehmen außer uns noch zwei Liebespaare teil
“Es ist individuell unterschiedlich, ob körperliche Nähe gern zugelassen wird”, erklärt die Sozialpädagogin und Tantralehrerin Ilka Stoedtner. “Wie alltäglich waren Berührungen in der Kindheit? Wie waren die bisherigen körperlichen Erfahrungen mit anderen Menschen?” Wie gerne man andere anfasst oder sich berühren lässt, hänge auch damit zusammen, in welchen Kreisen man sich bewege.
Als wir unsere Taschen gegen 19.30 Uhr in der abgedunkelten Küche der Yoga-Wohnung ablegen, sitzen dort bereits zwei Männer und zwei Frauen Mitte 30 und gießen sich gegenseitig Kräuter-Tee ein. Ich merke schnell, dass sie in Beziehungen miteinander sind und sich an diesem Abend wahrscheinlich nicht zum ersten Mal an die Brüste fassen werden – im Gegensatz zu meiner Freundin und mir. Zum Workshop kommen statt der 1.300 Interessierten nur wir sechs. “Wir machen zum ersten Mal bei einem solchen Seminar mit”, erzählt eine Frau mit einem Elfen-Tattoo auf dem Oberarm. Ihr Freund trägt ein T-Shirt mit einem Kater-Karlo-Print. Ob sie auch über uns denken, dass wir mit den neuen Massage-Techniken unser Sexleben bereichern wollen?
Wie wir uns fühlen und mit welcher Stimmung wir in den Workshop starten, sollen wir zunächst in einem Kennenlernkreis herausfinden, bei dem wir uns alle an den Händen halten. Die erste Anfass-Übung des Abends: Energien vom linken Nachbarn durch unsere Brust und unsere Arme an den rechten weiterleiten. Ich tue mich mit klischeehaftem Meditations-Kram schwer und bin fest überzeugt, dass die hermetische Schwitz-Schicht auf meinen Handflächen jeglichen Energiefluss verhindert. Kursleiter Volkmar stöhnt beim Ein- und Ausatmen auf, einige der Teilnehmer schaukeln etwas mit den Schultern. Ich stelle mir vor, wie ich mich in dem mit Futons ausgelegten Yoga-Zimmer der Erdgeschoss-Wohnung zwischen den Kerzen, Buddha-Statuen und den bodenlangen, weißen Vorhängen zusammenrolle und ewig schlafe. In der Luft hängt der süße Duft des Grapefruit-Massage-Öls, das meine Mutter früher auch benutzt hat – und ich fühle mich inmitten der tief atmenden und meditativ seufzenden Fremden trotz Berührungsängsten ziemlich wohl. Meine Träume enden, als Volkmar das Wort ergreift: “Hebt die Hand, wenn ihr die Energien der Person neben euch empfangen konntet.” Ein Blick durch die Runde verrät, dass ich die Einzige bin, die beide Hände in ihrem Schoß liegen lässt. Immerhin scheine ich trotz meiner abschweifenden Gedanken erfolgreich (und unbewusst) meine Chakra-Kräfte mit meinen Nachbarn geteilt zu haben.
Nach zwei Minuten stelle ich fest, dass ich den BH doch ausziehen muss
Dann leitet Volkmar die nächste Runde meiner persönlichen Körperkontakt-Challenge ein: “Versucht, herauszufinden, welche Berührungen euren Partnern und Partnerinnen gut tun”, sagt er fast flüsternd, “es gibt kein richtig oder falsch.” In unserer unsexuellen Konstellation fängt meine Freundin an, mich freestyle zu massieren: Ich lege mich hin und behalte mein schwarzes Trägertop vorerst an. “Auf geht’s, Rebecca”, sagt sie, während sie das Babyöl reibend in ihren Handflächen aufwärmt, und ich grinse peinlich berührt, als sie lachend nach meinen Brüsten greift.
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Eine Brust-Massage mit BH funktioniert allerdings so gut wie eine Fußmassage mit Holzschuhen, und es dauert etwa zwei Minuten, bis meine Freundin, die bei ihren ersten Knetversuchen ungefähr so gehemmt ist wie ich, mich zaghaft fragt, ob ich meine Unterwäsche nicht doch ausziehen könnte. Alle anderen sind obenrum bereits nackt, kurzentschlossen werfe auch ich meinen BH und mein Top in die freie Ecke des Raumes. Zwischen den beiden Paaren und Volkmar und der Yoga-Lehrerin Wiebke, seiner Assistentin für heute, wirken wir – das jüngste und einzige gleichgeschlechtliche Paar – wie kichernde, pubertierende Grundschulkinder beim Sexualkundeunterricht.
Unsere Reaktion sei nicht unnormal, erklärt Sozialpädagogin Stoedtner, als ich nach dem Workshop von dem unangenehmen Gefühl erzähle: “Zu einer Rückenmassage gehen die meisten ja gerne – eine Brustmassage ist aber viel intimer und betrifft mitunter auch eine erogene Zone. In diesen engen Kreis lässt man eben nicht jeden rein.”
Unsicher fummelt meine Freundin an meinen Brüsten herum, ihre Hände wandern über meine Brustwarzen Richtung Hals und über die Mitte meines angespannten Oberkörpers wieder hinunter zum Bauchnabel. Immer wieder fragt sie, ob sich die Bewegungen gut anfühlen. Meine Brustwarzen ziehen sich zusammen – ich halte die Frage damit für beantwortet. Als sie mit ihren Fingern an den Außenseiten meiner Brüste entlangdrückt, sage ich: “Meine Frauenärztin macht das auch so.” Sie lacht schon wieder: “Ich checke auch gerade, ob du keinen Knoten hast.” Während die Massage bei den anderen Paaren Teil einer sinnlichen Erkundungstour ihrer jeweiligen Sexualpartner ist, upgraden wir vor allem unsere Freundschaft. Volkmar scheint das gut zu finden: “Teilt eurem Partner mit, was euch gefällt”, sagt er, während er Wiebkes Brüste hält, und sofort fordert eine der Frauen ihren Kerl auf: “Ich mag das, mach weiter.”
Ich glaube, gesehen zu haben, dass die Frau neben mir ihrem Partner zwischen die Beine greift
Inzwischen habe ich meine Scham weitestgehend überwunden und freue mich darüber, nach der anstrengenden Arbeitswoche massiert zu werden. Eigentlich ziemlich cool, Freunde mit gewissen Massage-Vorzügen zu haben. Als wir die Position wechseln und ich anfange, an den Brüsten meiner Freundin herumzufingern, stelle ich überrascht fest, dass es mir Spaß macht, ihr diese Freude zurückzugeben – und dass ich zum ersten Mal in meinem Leben die Brüste einer anderen Frau halte. Die allgemeine Stimmung im Yoga-Zimmer lockert sich zunehmend auf. Die Pärchen tauschen verliebte Blicke aus und massieren zärtlicher als wir: Neben uns kniet ein Typ mit Drei-Tage-Bart am Kopf seiner blonden Freundin. Während er ihre Brüste massiert, beugt er sich mit dem Oberkörper dicht über ihr Gesicht. Als mein Blick nach rechts wandert, glaube ich zu sehen, dass sie ihm zwischen die Beine greift. Meine Freundin ernennt derweil “die Klavierspiel-Bewegung”, bei der ich mit zuckenden Fingern über ihren Oberkörper gleite, zu ihrem persönlichen Lieblings-Massage-Move, und alle imitieren lachend mein stummes Fingerspiel.
Die ersten eineinhalb Stunden des Workshops sind mittlerweile vergangen und Volkmar präsentiert uns an der Teilnehmerin mit dem Elfen-Tattoo sein 25-Schritte-Programm für eine exzellente Brustmassage. An der Wand sitzend beobachten wir ihn dabei, wie er mit beiden Händen ihre Brüste schüttelt, ihre Brustwarzen unter kreisenden Fingerkuppen reibt und beim “Octopus” die gesamte Brust durch seine fünf Krakenfinger gleiten lässt, bis er diese zum Abschluss an ihrem Nippel zusammendrückt und sanft wegzieht. Ich kann mich kaum entscheiden, ob ich über das absurde Bild lachen oder mich darüber ärgern soll, dass ich mir nach der anstrengenden Arbeitswoche nichts Spaßigeres als ein 25-Schritte-Brustmassage-Programm reinziehen kann. Mittlerweile ist es fast 22 Uhr. Die zweite Hälfte des Abends kreisen meine Gedanken nicht mehr um meine Scham vor Berührungen, sondern fast ausschließlich um Dinge, die ich gerade lieber tun würde: Dinner mit Freunden, Netflix und Chill, durch die Bars der Stadt ziehen.
Als wir die 25 Schritte an unseren Partnern und Partnerinnen durchführen, fühle ich mich fast wie eine der thailändischen Frauen, die mit geübten Händen Glückseligkeit und Entspannung in die Körper ihren Kunden und Kundinnen einarbeiten. Ich unterbreche meinen kurzen Höhenflug allerdings selbst, als ich beim “Octopus” unkontrolliert lospruste. “Ich liebe dich, aber an dieser Stelle setze ich aus”, flüstere ich meiner Freundin zu. Dann bin ich wieder dran, und während ich in den Genuss der unterschiedlichen neu erlernten Massage-Techniken komme (meine Freundin zieht den “Octopus” knallhart durch), gebe ich meinem Bedürfnis nach Schlaf nach und döse in Gedanken an Brüste und Frittiertes weg. Offenbar bin ich nicht die Einzige, deren Nirvana durch physische Triebe gestört wird: Auch aus den anderen Ecken des Zimmers dringen immer wieder vereinzelt Magenknurren und “Bist du noch bei mir?”-Nachfragen zu mir hindurch.
Der unharmonische Abschlusskreis, den wir am Ende des Workshops bilden sollen, setzt sich kurz vor 23 Uhr aus einem müden Haufen an trägen, aber entspannten Körpern zusammen. “Ich war erst skeptisch”, sagt der Typ mit dem Comic-Shirt, “aber ich habe mich von Anfang an wohlgefühlt und die Massage sehr genossen.” In seiner Zusammenfassung des Abends lobt er Volkmar für seinen ruhigen Esprit und den Rest der Gruppe für die angenehme Dynamik. Alle nicken und Volkmar bedankt sich schüchtern für das Kompliment. Es wirkt, als sei die herzensnahe Kommunikation, die er uns im Workshop nahegelegt hat, dem Brustmassage-Instructor selbst etwas ungeheuer. “Ich rede nicht so gerne vor Leuten”, gibt er zu, “aber ich danke euch für euer Vertrauen.”
Tatsächlich haben wir Volkmar und unseren Brüsten heute alle in irgendeiner Form Vertrauen entgegengebracht: das Paar, das zum ersten Mal einen sexpositiven Workshop besucht hat; die Frau, die sich erst daran gewöhnen musste, auch mal von anderen Menschen verwöhnt zu werden; ich, die realisiert hat, dass Körpernähe zu meiner Freundin auch ohne Wein und Gin Tonic ganz OK sein kann. Am Ende nehme ich mir vor, öfter leidenschaftliche Begrüßungsumarmungen zu verteilen und meine neuen Massageskills schon bald an einem Freiwilligen anzuwenden – vielleicht sogar, ohne beim “Octopus”-Kneifer zu kichern. Als ich kurz vor Mitternacht die Yoga-Wohnung verlasse, will ich aber nur noch zwei Dinge: mir das schmierige Babyöl von den durchgekneteten Brüsten waschen und schlafen.
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