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Mein Mittelfinger, eine Line Koks, eine Zigarette und ein Shot Whiskey. Das wäre meine Antwort gewesen, wenn du mir vor fünf Jahren gesagt hättest, dass ich eines Tages ein leidenschaftlicher Yoga-Lehrer sein würde. Aber was soll ich sagen, es ist genau so gekommen.
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Manchmal hat man das Gefühl, immer die Arschkarte gezogen zu haben. Damit muss man dann klarkommen. So wie meine Eltern. Meine Mutter war immer mal wieder im Gefängnis, weshalb meine beiden Geschwister und ich die meiste Zeit bei meinem Vater lebten, der die meiste Zeit nicht zu Hause war. Schon als Kind musste ich mich also um mich selbst kümmern. Rückblickend klingt das alles sehr extrem, aber für mich war das jahrelang ganz normal.
Ich hatte keine leichte Jugend – und das nicht nur, weil ich mich in meinem eigenen Körper nicht wohlfühlte. Ich bin schon immer sehr dünn gewesen und wusste von Anfang an, dass ich schwul bin. Das machte mich zu einem einfachen Ziel: Ich wurde von mehreren Familienmitgliedern und einer Babysitterin sexuell missbraucht. In der Schule waren mir gute Noten anfangs noch wichtig, aber irgendwann wollte ich nur noch so viele Freunde haben wie möglich. Deswegen fing ich schon früh mit Alkohol und Marihuana an. Zwar dauerte es dann noch ein wenig bis zu den harten Drogen, aber die Grundlage war geschaffen.
Mit 16 outete ich mich vor meinem Vater. Er kam nicht so gut damit klar. Weil meine Mutter zu diesem Zeitpunkt wieder hinter Gittern saß, zog ich zu meiner Schwester. Ich besorgte mir einen gefälschten Ausweis und zwei Jobs, um selbst für mich sorgen zu können. Neue Freunde arbeiteten in einer Bar und zusammen feierten wir bis zum Umfallen. Mein Trink- und Partyverhalten geriet in dieser Zeit schnell außer Kontrolle.
Mit 21 leitete ich dann selbst eine Bar in San Diego. In meiner Jugend hatte ich mich immer als Außenseiter gefühlt, jetzt war ich plötzlich wichtig. Das gab mir Aufwind und ich fing langsam mit härteren Drogen an. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie viel ich mit 25 gekokst habe. Dazu trank ich täglich, das gehörte einfach dazu. Jeder in der Bar trank, warum also nicht ich auch?
Dann starb mein Partner an AIDS. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich jemanden verloren. Ich war völlig am Ende und ging direkt in die Bar, rief meinen Dealer an und sagte, dass ich mehrere Gramm Koks bräuchte. Dann schüttete ich alles in mich rein und nahm so viele Drogen, wie ich nur konnte.
In den darauffolgenden drei Tagen übernahm meine Sucht die Kontrolle. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich zu Hause in der Küche alle Teller und Vasen kaputt gemacht habe. Meine Mitbewohnerin packte mich, brachte mich ins Bett und am nächsten Tag führten wir eine lange Unterhaltung. Sie erklärte mir, dass sie so nicht mehr länger mit mir zusammenwohnen könne. Daraufhin dachte ich mir: “Jetzt habe ich gar nichts mehr. Was mache ich noch hier? Warum will ich überhaupt noch leben?”
Ich wollte wirklich sterben. Ich überlegte mehrere Male, mich selbst umzubringen, und habe es einmal sogar versucht. Ich brach das Ganze jedoch ab und fing an zu weinen. Für mich war alles nur noch schmerzvoll und scheiße. Ich musste mich irgendwie betäuben, aber der Alkohol und die Drogen schafften das nicht mehr. Ich konnte nicht mehr wegrennen.
Meiner Mitbewohnerin und mir selbst zuliebe musste ich mein Leben irgendwie zum Besseren wenden. Sie riet mir, in das neue Yoga-Studio um die Ecke zu gehen. Mit 18 hatte ich mich schon mal mitläufermäßig für Yoga interessiert, es aber nie für voll genommen. Jetzt war das anfangs ähnlich, weil ich eigentlich gar keine Lust auf den Kurs hatte. Und trotzdem war meine Yoga-Lehrerin total nett und mitfühlend. Das gab mir eine ungewohnte Sicherheit.
Yoga entschleunigte mein Leben. Ich konnte nicht mehr so viel Party machen, weil ich sonst zu fertig für den Kurs gewesen wäre. Und wenn ich nicht mehr zum Yoga gegangen wäre, hätte ich kein Dach mehr über dem Kopf gehabt. Das war die Abmachung. Anfangs machte ich nur stumpf die Bewegungen nach. Als ich mich dann aber immer mehr auf die ganze Sache einließ, erkannte ich die Vorteile des Trainings und bekam den Kopf frei.
Schließlich gab ich den einen meiner beiden Bar-Jobs auf, bei dem ich am meisten gefeiert hatte. Es wurde einfach zu viel. Leider brach dadurch auch ein Teil meines Einkommens weg und ich musste meiner Yoga-Lehrerin sagen, dass ich mir das Training nicht mehr leisten konnte. Sie bot an, mir kostenlose Stunden zu geben, wenn ich dafür die Klos des Studios putze. Ich willigte sofort ein. Die Leute dort taten mir so gut, dass ich für sie wahrscheinlich sogar die Hundescheiße unten auf der Straße aufgesammelt hätte. Irgendwann wurde ich zur führenden Putzkraft. Ein Schritt nach dem anderen. Und dann stieg ich zum Mann für alles auf, checkte Mitglieder am Empfang ein und sorgte dafür, dass alle nötigen Dinge immer vorrätig waren.
Irgendwann sagten die Betreiber der Studios zu mir, dass ich nicht mehr für sie arbeiten könne. Wenn ich weiter Yoga machen wolle, müsse ich eine Lehrerausbildung absolvieren. Mir war das damals gar nicht bewusst, aber sie drängten mich sanft dazu, mehr aus mir zu machen. Ich dachte mir nur: “Scheiße, OK, wenn es nicht anders geht!” Ich hatte die Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen, als ich in meinem Studio schon den ersten Kurs geben sollte. Ich sagte, dass ich eigentlich kein Lehrer sein wolle. Die Antwort: “Alles klar, du übernimmst den Samstagmittag.”
Nach dem Kurs war ich so high wie noch nie.
Als ich zum ersten Mal vor den Kursteilnehmern stand, wurde mir fast schwarz vor Augen. Ich zitterte am ganzen Körper und brachte kaum ein Wort raus. Ich meinte nur: “Leute, ich bin total nervös, weil ich hier zum allerersten Mal einen Kurs leite. Aber ich bin froh, dass ihr das mit mir durchzieht.” Alle lächelten und feuerten mich an, so nach dem Motto “Ja Mann, wir schaffen das!”. Nach dem Kurs war ich so high wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Mir war endlich klar, zu was ich alles fähig war. Diese Erkenntnis tat unglaublich gut.
Nachdem Yoga nun einen so wichtigen Platz in meinem Leben eingenommen hatte, trank ich neun Monate lang keinen Alkohol mehr. In diesem Zeitraum konnte ich klarer denken denn je. Ich wusste plötzlich, dass ich kein Barkeeper mehr sein wollte, und zog nach San Francisco, um alles über Yoga zu lernen.
Dort angekommen, arbeitete ich allerdings doch wieder in einer Bar und war neun Monate lang erneut in meiner alten Alkohol- und Drogenroutine drin. Eines Morgens wachte ich extrem verkatert auf und verspürte die gleichen Angstgefühle wie vorher in San Diego. Eine radikale Veränderung musste her.
Ich fing an, in einem winzigen Yoga-Studio unweit von meinem Zuhause entfernt als Aushilfslehrer zu arbeiten. Yoga bestimmte von da an mein Leben, für Alkohol gab es keinen Platz mehr. Und das veränderte alles. Meine Angstzustände gingen weg. Ich konnte endlich eine Therapie beginnen und mich intensiv mit meiner Vergangenheit und meinen mentalen Gesundheitsproblemen auseinandersetzen. Ich hatte bis zur Diagnose zum Beispiel keine Ahnung, dass ich wirklich an einer Angststörung litt.
Früher deutete alles in meinem Leben darauf hin, dass ich entweder im Knast oder als Junkie enden würde. Ohne Yoga wäre ich auch nie von diesem Pfad abgekommen. Dank des Sports kannte ich nun aber die Werkzeuge und Techniken, um nicht wieder abzudriften.
Mediation ist die stärkste Droge der Welt. Durch sie steht alles still. Für die meisten Menschen bedeutet Meditation, ruhig dazusitzen und absolut nichts zu denken. Dabei ist es nicht möglich, keinen einzigen Gedanken im Kopf zu haben. Meditation verschafft einem lediglich die nötige Klarheit. Man gibt seinem Gehirn die Aufgabe, sich auf die Atmung zu konzentrieren. Dadurch rücken die unwichtigen Gedanken irgendwann in den Hintergrund und man versteht die wichtigen plötzlich besser.
Ich wollte nicht missbraucht werden.
Yoga hat mich gerettet. Immer wenn ich das Studio betrete, sind meine Probleme, meine Vergangenheit, mein Trauma und meine Sexualität egal. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich an einem Ort wohl, wo nicht getrunken und gekokst wird. Wenn ich Yoga mache, gibt es nur mich, meine Matte und diesen inneren Frieden. Dabei muss ich nicht mal die ganzen schweren Übungen machen oder mit geschlossenen Augen dasitzen.
Früher habe ich mich für meinen Werdegang geschämt. Jetzt weiß ich, dass ich nie um all das gebeten habe. Ich wollte nicht missbraucht werden oder eine schwere Kindheit haben. Mittlerweile gibt es diese Schamgefühle nicht mehr. Wenn ich so offen mit meiner Vergangenheit umgehe, dann realisieren andere vielleicht, dass es auch für sie Hoffnung gibt und dass auch sie ihr Leben zum Positiven verändern können. Wenn meine Geschichte auch nur einen Menschen davon abhält, sich nicht umzubringen, den Drogen abzuschwören oder den nächsten Shot doch nicht zu trinken, dann hat sich alles gelohnt.