“Frag VICE” ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal, ob es sich um nicht erwiderte romantische Gefühle oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Dieses Mal hoffen wir, einer Leserin zu helfen, die den Kontakt zu ihrer Mutter abbrechen möchte.
Achtung: Dieser Text enthält Darstellungen psychischer Gewalt.
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Liebe VICE,
ich kann nicht gerade behaupten, dass ich eine schöne Kindheit hatte. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen, mein Vater hat nie eine Rolle gespielt. Weil es nur uns beide gab, war unsere Beziehung immer sehr intensiv. Für meine Mutter war jede außenstehende Person automatisch unser Feind. An einem Tag konnte sie superlieb sein, mich fast mit ihrer Liebe ersticken, nur um mich am nächsten zu terrorisieren. Sie sagte mir all die Dinge, von denen sie wusste, dass sie mir am meisten wehtun würden.
Ein paar Beispiele: Ich habe schon früh unter einer Essstörung gelitten. Einmal, als es mir besser ging, aß ich ein paar Chips. Sie lachte mich aus und sagte, dass sie sich super vorstellen könne, wie sie in meinem Magen einen großen Fettklumpen bilden. Meine Mutter sagte auch, dass mich niemand jemals wirklich lieben werde und dass Menschen dazu da seien, ausgenutzt zu werden. Das würden sie schließlich auch mit uns machen.
Sie machte sich anonyme Instagram-Accounts, um meine Freundinnen und Freunde zu beschimpfen. Sie sagte allen um mich herum, dass sie Dreck seien – oft genug war ich selbst Dreck. Manchmal, wenn ich mich verzweifelt in mein Bett verzog, um dort zu weinen, setzte sie sich neben mich und schaute mich angewidert an.
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Als ich acht war, sagte sie zu mir, dass alle sehen würden, dass ich ihr das Leben schwer mache. Immer wenn ich mich emotional von ihr abwand, konnte sie mich im Handumdrehen zurückgewinnen, indem sie mich umarmte, mit Geschenken überhäufte und mir sagte, dass niemand mich so sehr liebe wie sie. Lange Zeit glaubte ich ihr das.
Meine Mutter hatte viele toxische Beziehungen. Entsprechend häufig wurde bei uns zu Hause geschrien. Manchmal gab es sogar körperliche Gewalt.
Mit 18 bin ich ins Ausland gezogen, auch um Distanz zwischen ihr und mir zu schaffen. Etwa zum gleichen Zeitpunkt begann ich eine Therapie, bei der ich dann auch erkannte, dass mich meine Kindheit schwer traumatisiert hat.
Mein Therapeut sagte, dass meine Mutter wahrscheinlich auch eine schädigende Kindheit gehabt habe und ich den Kontakt zu ihr reduzieren sollte. Ich folgte seinem Rat. Die wenigen Male, die ich sie noch sehe, verhält sie sich furchtbar. Ich habe eine schöne Beziehung, ein gemütliches Zuhause und einen guten Job, aber laut meiner Mutter ist mein Leben immer noch ein einziger Witz. Selbst eine einfache Textnachricht von ihr kann mein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Sie weiß immer genau, was sie sagen muss, um Selbstzweifel in mir zu säen.
Heute ist mir klar, was sie macht: Sie will, dass ich mich klein fühle, damit ich sie brauche. Verschiedene Leute haben mir gesagt, dass ich den Kontakt zu ihr komplett abbrechen soll. Manchmal blockiere ich sie ein paar Monate, aber nach einer gewissen Zeit nehme ich den Kontakt wieder auf, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Dann kriege ich von ihr Dutzende unzusammenhängender Nachrichten, in denen sie Sachen schreibt wie: “Ich werde wahrscheinlich alleine sterben und du wirst es nicht mal mitbekommen.” Das trifft mich. Trotz allem liebe ich sie und will nicht, dass sie einsam ist.
Ich weiß auch, dass ich sie endgültig blockieren sollte. Unsere Beziehung macht mich kaputt. Aber es gibt so viele Menschen, die nicht alle Einzelheiten aus meinem Leben kennen und mich verurteilen würden. Für sie ist es so etwas wie Hochverrat, die eigene Mutter aus dem Leben zu löschen.
Was soll ich tun? Wie erkläre ich anderen, dass ich das tun muss, ohne mich wie ein egoistisches Monster zu fühlen? Wie werde ich diese schrecklichen Schuldgefühle los?
Mit freundlichen Grüßen
K.
Hi K.,
du bist kein egoistisches Monster. Und du bist auch bei Weitem nicht die einzige Person, die sich dazu entscheidet, den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen. Grobe Schätzungen gehen von etwa 100.000 erwachsenen Menschen in Deutschland aus, die jedwede Verbindung zu ihren Eltern gekappt haben. Laut Expertinnen und Experten nimmt die Zahl der betroffenen Familien zu. In Großbritannien soll sogar jede fünfte Familie betroffen sein. Trotzdem ist das Thema noch immer ein großes Tabu. Deine Schuld- und Schamgefühle sind also sehr verständlich.
Mirjam Schneider arbeitet als Betreuerin bei der niederländischen Organisation MIND Korrelatie, die professionelle psychologische und psychosoziale Hilfe anbietet. Bei ihrer Arbeit hat sie immer wieder mit schwierigen Verhältnissen zwischen Eltern und ihren Kindern zu tun. Auch wenn jeder Fall anders sei, sagt sie, gebe es einige wiederkehrende Emotionen: Trauer und unbewältigtes Trauma, aber auch Schuldgefühle.
Schneider sagt, dass du dir als erstes bewusst machen solltest, wie weit du es geschafft hast. Man merke daran, wie du über die Dynamik zwischen dir und deiner Mutter sprichst, dass du eine sehr gute Beobachtungsgabe hast und ein hohes Reflektionsvermögen. “Du kannst eindeutig beschreiben, was für eine Rolle deine Mutter in deinem Leben gespielt hat und welchen Einfluss das auf dich hatte”, sagt sie. “Du zeigst mehr gesunden Menschenverstand, als deine Mutter dir gezeigt hat. Das hilft dir, vor Augen zu führen, wer du bist und wer deine Mutter. Allein wie du über die Situation redest, zeugt von großer Stärke.”
Außerdem seien beide Entscheidungen – den Kontakt zu deiner Mutter weiter zu reduzieren oder sie komplett aus deinem Leben zu streichen – total gerechtfertigt, sagt Schneider. Leichter fallen sie dir dadurch allerdings nicht. “Egal, wer deine Eltern sind, Kinder bleiben oft denjenigen loyal, die sie erzogen haben”, sagt sie. “Das macht es so schwer, sich zu lösen, selbst wenn die Beziehung ungesund ist.”
Ähnlich wie du erwartet Schneider auch, dass nur sehr wenige Außenstehende deine Entscheidung wirklich verstehen werden. Wenn man bedenkt, dass deine Mutter dich in der Vergangenheit ständig an deiner Wahrnehmung zweifeln lassen hat, ist es kein Wunder, dass schlechte Erinnerungen in dir aufkommen, wenn Menschen deine Entscheidung hinterfragen.
Deswegen empfiehlt Schneider, nicht zu viel zu erwarten, wenn du mit Leuten darüber sprichst, die dich nicht gut kennen. Und wenn du doch Selbstzweifel bekommst, solltest du dich fragen: “Weiß ich noch, warum ich mich zu diesem Schritt entschieden habe? Wie würde sich der Kontakt mit meiner Mutter auf mein restliches Leben auswirken, auf meine Arbeit, meine Beziehungen?”
Wenn man sich anschaut, wie ihr beide in den vergangenen Jahren miteinander kommuniziert habt, scheint offene und ehrliche Unterhaltung mit deiner Mutter nicht möglich zu sein. Wie du ja selbst erkannt hast, ist die Gefahr groß, dass deine Mutter sich bei dir meldet, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Andersherum sei es vollkommen OK, Mitleid mit ihr zu haben, deine Mutter habe schließlich Probleme mit derartigen Gefühlen. “Aber es liegt in ihrer Verantwortung, sich damit auseinanderzusetzen”, sagt Schneider. “Es ist sehr wichtig, dass du verstehst, dass du deine Mutter nicht ändern kannst. Das sollte auch gar nicht dein Ziel sein.”
Ohne psychologische Hilfe wird ein Elternteil wie deine Mutter niemals seine Verhaltensmuster durchbrechen können. Es gibt also nichts, was du tun kannst, um die Situation zu ändern. “Du kannst das Muster allerdings erkennen und den ersten Schritt machen, dich davon zu lösen”, sagt Schneider. “Das Muster wird sich dadurch nicht ändern, aber du kannst dafür sorgen, dass es dich nicht länger runterzieht.”
Wenn du das Muster einfach weiterlaufen lässt, könnte das negative Auswirkungen auf dein Leben haben – das war ja in der Vergangenheit schon so, etwa bei deiner Essstörung. Dieses Phänomen hat Schneider schon oft beobachtet. “Man sieht immer wieder, dass sich Menschen in solchen Familiensituationen nach einem Kontrollgefühl sehnen. Eine Essstörung kann eine Art sein, diese Kontrolle zu erlangen”, sagt sie. “Es ist eine komplizierte Form der Kontrolle, aber sie kommt relativ häufig vor.”
Zum Glück bist du jetzt erwachsen und somit Herrin über dein eigenes Leben. Du kannst nicht kontrollieren, was deine Mutter macht, aber du kannst entscheiden, wie du auf sie reagierst und wie nah du sie an dich heranlässt.
Wenn du für dich mit der Sache abschließen und mit deiner Entscheidung – welche auch immer das sein wird – in Frieden leben möchtest, empfiehlt Schneider einen Brief an deine Mutter zu schreiben. Du musst ihn auch gar nicht abschicken. “Auf diese Weise kannst du deine Gedanken sortieren und hast das Gefühl, sie ausgedrückt zu haben, ohne dafür bestraft zu werden.”
Solltest du dich dazu entscheiden, weiter Kontakt mit deiner Mutter zu haben, darfst du nicht zu streng mit dir sein. “Gib dir nicht die Schuld dafür, wenn du ‘wieder auf sie reingefallen bist’”, sagt Schneider. “Sich aus einer ungesunden Familiendynamik zu lösen, ist ein langsamer Prozess. Mach dir klar, dass du jetzt die Erwachsene bist, die das Kind in dir beschützen kann. Leider geht das manchmal nur, wenn man jeglichen Kontakt abbricht.”
Erkennst du Anzeichen einer Essstörung bei dir oder einem nahestehenden Menschen? In Deutschland bekommst du Hilfe unter der Nummer 0221 89 20 31 und bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. In der Schweiz informiert die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen und bietet Hilfe an. In Österreich findest du Expertinnen und Experten über dieses Suchtportal.
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