Foto von Björn Kietzmann
Seit Samstagfrüh wohne ich in einem Gefahrengebiet und mit mir Tausende weitere Anwohner in Teilen von St. Pauli, Altona und Sternschanze. Das hat die Polizei Hamburg an diesem Wochenende entschieden. Jeder, der hier durchspaziert, einkauft, zur Arbeit will oder einfach einen Kaffee trinken möchte, muss damit rechnen, von der Polizei angehalten zu werden und sich auszuweisen—ohne Grund, einfach weil sie es dürfen. Schuld sind wiederholte Angriffe auf Polizisten, heftige Krawalle während großen Demos sowie Attacken auf Polizeireviere, wie etwa die Davidwache am Kiez, in den vergangenen Wochen.
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Ein Schritt vor die Tür und ich stehe mitten drin im Gefahrengebiet. Hier soll der Ausnahmezustand herrschen.
Ein kühles Lüftchen weht mir um die Nase, ein paar feuchte Blätter und matschiger Silvesterdreck liegen hier rum. Das einzige, was ich höre, ist die Straße und die übliche Geräuschkulisse des Hafens, in dem Container gelöscht werden. Keine Parolen, keine Sirenen, keine Knaller oder ähnliches. Ich fühle mich weder gefährlich noch gefährdet. Vielleicht muss ich mich ein wenig durch das Viertel bewegen, um etwas zu erleben.
Ich gehe runter zur Großen Elbstraße, rein in die Haifischbar. Die ist leer, aber Mirko steht hinter dem Tresen. Ich setzte mich zu ihm. „Ich finde die Ausrufung zum Gefahrengebiet gut“, sagt er: „Wie sollen die Polizisten denn sonst die Angriffe effektiv abwehren?“ Er spricht vor allem über den Samstag vor Silvester. Etwa 30 bis 40 Vermummte sollen vor der Davidwache am Kiez Parolen gerufen und anschließend Steine auf die herauskommenden Polizisten geworfen haben. Dabei hätte ein Stein einem Beamten den Kiefer und die Nase gebrochen. Der Medienrummel danach war enorm. Überall wird nur noch von Gewalt an Polizisten geredet. Die Facebook-Seite: „Solidarität mit den Beamten der Davidwache“ findet großen Zulauf—inzwischen über 55.000 Fans. „Ich bin auch Fan von dieser Seite“, sagt Mirko: „Steinewerfer sind Arschgesichter.“
Ich frage ihn, was er davon hält, dass der Anwalt Andreas Beuth behauptet, die Angriffe hätte es so gar nicht gegeben, denn inzwischen gibt die Polizei selber zu, dass es etwas anders gelaufen sein könnte. Mirko schüttelt den Kopf. Sein Kollege hatte in dieser Nacht Tresendienst und erzählte ihm von ein paar jungen Leuten—vermutlich Studenten—die an diesem Abend an einem seiner Tische saßen. „Die haben damit geprahlt, Steine geworfen zu haben“, erzählt der 27-jährige: „Sie haben sich darüber unterhalten, was sie gerade gemacht haben. Mann, wenn ich da gewesen wäre. Ich hätte sie mir selber vorgenommen.“ Er ist überzeugt, dass es in den 60ern/70ern anders abgelaufen wäre. Damals hätten die Luden das geklärt. „Das ist hier ja alles St. Pauli“, erzählt er: „Ich bin ja dafür, dass die Rote Flora bleibt, aber das ist keine Art.“
Das letzte Jahr lief nicht gut für die Hamburger Politik hier im Bezirk: Flüchtlinge aus Lampedusa, die hier gestrandet, aber unerwünscht sind, die Esso-Häuser auf dem Kiez stürzen fast in sich zusammen, weshalb die Bewohner nun kein Zuhause mehr haben und ein Investor droht, die Rote Flora, das Hauptquartier der autonomen Szene, zu kaufen und abzureißen. Letzteres sorgt hier am meisten für Brennstoff. Autonome und Polizisten scheinen einen immer kürzeren Geduldsfaden zu haben.
Deshalb eskalierte die große Demo am 21.12. zum Thema: „Selbstorganisierung statt Repression! Refugee-Bleiberecht, Esso-Häuser und Rote Flora durchsetzen!”
Foto von Björn Kietzmann
Warum die Polizei den Aufzug nach wenigen Metern schon stoppte, warum sie so hart vorgegangen ist, obwohl unter den etwa 7.300 Teilnehmern viele Familien mit ihren Kindern waren, darüber kann man nur spekulieren. Viele reden davon, dass die Polizei diese Bilder, die brennenden Mülltonnen, die Vermummten vor der Flora extra provozieren wollte.
Dieser Meinung ist auch Timo. Der 36-Jährige arbeitet im Club der Seemannsmission, genau neben der Haifischbar. Ich sitze bei ihm am Tresen, hinter mir auf einer Bank sitzen Matthias von der Rezeption und José aus Costa Rica. „Sie hätten die Steinewerfer rausziehen sollen und den Rest weitergehen lassen“, sagt Timo: „Angeblich war es ja auch geplant von der Polizei, uns keinen Schritt gehen zu lassen.“
Er findet es für eine Demokratie nicht passend, dass die Polizei überhaupt ein Gefahrengebiet ausrufen darf—faschistoid. Insbesondere weiß keiner, die Polizei selber nicht, wie lange das Gefahrengebiet bestehen soll. Seiner Meinung nach sollte sowas höchstens ein Richter entscheiden dürfen, Gewaltenteilung und so. Seit 2005 besitzt die Polizei in Hamburg die gesetzliche Möglichkeit, Teile der Stadt anlassbezogen dementsprechend auszuweisen. An diesem Wochenende sind bereits mehr als 400 Menschen kontrolliert, etwa 90 Aufenthaltsverbote und 8 Platzverweise ausgesprochen sowie 45 Personen in Gewahrsam genommen wurden.
Auch Matthias findet die Zone scheiße: „Sie ist viel zu weit. Die haben sie doch nicht mehr alle.“ Timo beschreibt das Ganze so: „Die haben angefangen, jetzt knüppeln wir alles nieder.“
Matthias meint, es gäbe Provokateure auf beiden Seiten. Beide wollen nur ihre Gewalt loswerden, einfach zuschlagen. Nach dem Vorfall an der Davidwache redet aber kaum noch einer über das Fehlverhalten der Polizei. „Wobei, gerade die Davidwache anzugreifen, finde ich nicht gut“, sagt Timo. Sie kümmere sich um den Kiez. Er hätte es eher verstanden, wenn eine Polizeiwache angegriffen worden wären, die für Rassismus bekannt ist. Mit ihren Ansichten über die Rechtswidrigkeit des Gefahrengebiets sind die beiden nicht alleine, auch im Hamburger Senat gibt es erhebliche Zweifel aus den Fraktionen.
Ich gehe weiter die Straße runter. Es windet, und ich ziehe meine Kapuze über den Kopf. Bin ich jetzt vermummt?
Polizei sehe ich hier aber keine. In der Elbperle rede ich kurz mit Ben, der jetzt in seiner Kellnerkluft vor mir steht. Noch wurde er nicht kontrolliert: „Ich habe aber einen schwarzen Pulli, eine schwarze Jacke und eine schwarze Mütze dabei“, sagt der 31-Jährige: „Lange werde ich wohl nicht warten müssen.“ Die Gewalt gegen die Polizei findet er gut, endlich gehen die Deutschen auch mal auf die Straße. Woanders wäre dies schon lange passiert. Vielleicht auch deshalb warnt die Polizei vor weiteren Anschlägen, die US-Botschaft warnt sogar vor Reisen nach Hamburg.
Als ich die Reeperbahn betrete, habe ich große Hoffnung, vielleicht komme ich jetzt wirklich ins Gefahrengebiet. Meine Kapuze lasse ich natürlich auf, vielleicht hätte ich mir noch einen Schal umwickeln sollen. Aber gebracht hätte es wohl nichts, ich begegne keinen Kontrollen. Nur ein kleiner Polizeibus fährt vorbei, und die Insassen schenken mir keine Beachtung. Ich bin ein bisschen beleidigt. Vielleicht hätte ich doch nicht die blauen Chucks mit den orangenen Schnürsenkeln anziehen sollen.
Auf meinem Weg von der Reeperbahn zur Schanze begegne ich Tim*, 20, und Schmiddi, 18. Beide sehen aus wie das typische Klischee des linken Autonomen—schwarze Hose, schwarzer Pulli, schwarze Jacke, sogar Schmiddis Katze Acid ist schwarz. Nur Tims Haare sind blau, oder auch grün. „Wir spielen ein Spiel. Die Regeln stehen bei Facebook“, erklärt mir Tim. „Fünf Punkte gibt es für eine Polizeikontrolle, zehn für ein Aufenthaltsverbot und fünfzehn für einen Platzverweis.“ Um die Polizisten bei der Kontrolle noch mehr zu ärgern, präparieren einige ihre Rucksäcke mit kleinen Plastiktütchen, in denen etwa Petersilie oder Zucker drin ist. Zusammen haben sie jetzt schon zehn Punkte. Aber sie wollen natürlich mehr. „Nachher gibt es hier aber auch eine unangemeldete Spontandemo“, erzählen mir die Jungs. Während wir reden, fährt ein Polizeibus an uns vorbei, hält kurz an und fährt dann doch ein Stück weiter. „Uuh … die steigen aus und ziehen ihre Helme an. Lass mal da hin, ein paar Punkte sammeln“, sagt Tim. Und schon rennen sie los.
Als die beiden weg sind, unterhalte ich mich mit Jonathan* und seiner Freundin. „Dieses Gefahrengebiet ist faschistisch. Es ist nicht im Sinne der Anwohner dieses Viertels“, sagt er: „Keiner hier hat ein Interesse daran, eine Scheibe einzuschmeißen. Die Gefahr geht nicht von uns aus.“ Mit diesem Verhalten würden sie nur den Zusammenhalt der verschiedenen Initiativen aus dem Viertel fördern. Natürlich lässt er auch kein gutes Haar an unserem Bürgermeister Olaf Scholz. „Der ist ja für seine harte Politik bekannt. Aber hier hat er die Büchse der Pandora geöffnet“, sagt er. Über Tim und Schmiddi muss er lachen. Diese Realsatire ist für ihn eine Form, das Unerträgliche erträglich zu machen. So sehen das viele andere auch. Es gibt bereits mehrere Facebook-Seiten, zahlreiche Bilder und Veranstaltungen, die das Gefahrengebiet ins Lächerliche ziehen. Es wird auch zu Spaziergängen im Gefahrengebiet aufgerufen—in entsprechendem Outfit natürlich.
Ich gehe eine Ecke weiter, dort soll der Treffpunkt für die Spontandemo sein. Tatsächlich stehen hier schon einige Leute herum. Etwa Madeleine, die mir erzählt, wie lächerlich sie die Kontrollen findet. Als sie heute Morgen zum Arzt musste, hatte sie ihren Ausweis vergessen. Wäre sie abgefangen worden, hätte sie wahrscheinlich noch auf das Revier gemusst. Am Sonntagabend wurden ihre Freunde kontrolliert. „Ich stand etwas abseits, weil wir ein Kind dabei hatten. Aber die drei standen in einem Kreis von 15 Polizisten“, erzählt sie. Alle drei hatten noch ihren Döner in der Hand, nach einer Durchsuchung der Taschen und einer halben Stunde Gerede gab es dann für alle drei einen Platzverweis.
Ein großer, vollbesetzter Polizeibus fährt vorbei. Die inzwischen etwa 200 Leute begrüßen ihn freudig. Dann geht es los—wir gehen ein Stück die Straßen runter, zwei Böller knallen. Ich mache ein paar Fotos, fummel kurz am Blitz rum, schaue wieder auf und sehe, dass der Aufzug wieder zurückkommt. Das Ende der Straße ist schon von einer Polizeikette gesperrt. Ich drehe mich um, aber auch hier ist der Rückweg schon dicht.
Das ging ja schnell. Wir sind eingekesselt. Tim und Schmiddi kommen auf mich zugerannt. „Wir haben jetzt 25 Punkte. Wir haben einen Platzverweis bekommen“, Tim ist offensichtlich stolz. Vielleicht holen sie sich so den Tagessieg. „Ich hab auch schön mit meiner Katze gewunken“, sagt Schmiddi. Fürs eingekesselt werden, gibt es leider keine Extrapunkte.
Während wir zwischen den Uniformierten stehen, ein Bierchen trinken und uns unterhalten, nutzt Rita, 78, die Gelegenheit. Sie wohnt im Hochparterre, öffnet ihr Fenster und hält einen selbstgestrickten St.-Pauli-Schal heraus. „Ich verkaufe die Schals und auch Mützen. Puppenkleider stricke ich aber auch.“ Arne* ist begeistert von diesem Schal und kauft ihn Rita gleich ab. „Ach, und die Polizisten stehen hier auch umsonst rum“, sagt sie. Nach einer halben Stunde dürfen alle den Kessel verlassen—brav der Reihe nach. Und trotzdem wollte immer noch keiner meine Personalien sehen.