Es ist Samstag, die Sonne scheint und es ist endlich Frühling. Trotzdem ist der kleine Veranstaltungssaal in Berlin-Friedrichshain brechend voll. Dutzende junge Menschen starren aufmerksam Richtung Bühne, viele von ihnen halten alles, was passiert, in Insta-Storys fest. Sie alle besuchen die Junge Islam Konferenz, und den erklärten Stargast der Veranstaltung, Jilet Ayse, will niemand verpassen. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich die Comedian Idil Baydar, die mal laut, mal herzlich mit den Vorurteilen zwischen Migranten und “Almanis” aufräumen will. Ihr Programm soll nicht nur unterhalten, es ist klar politisch. Sie spricht über Diskriminierung und erklärt schließlich: “Ich bin heute hier, um euch zu sagen: Wir übertreiben nicht!” Das Publikum klatscht, mehrere junge Frauen rufen laut “Danke!”.
Was man Baydar nicht anmerkt: Vor wenigen Tagen bekam die 44-Jährige Morddrohungen. Anonyme SMS, in denen Unbekannte ihr androhten, sie und ihre Mutter “abzuknallen”. Die Absenderinnen oder Absender beriefen sich in ihren Nachrichten auf den Terroranschlag auf zwei Moscheen in Neuseeland, unterzeichnet waren sie zum Teil mit “SS-Obersturmbannführer”. Erst als wir uns nach ihrem Auftritt in einen Nebenraum zurückziehen, um über die Drohungen zu sprechen, zeigt sich, wie sehr sie die letzten Tagen mitgenommen haben.
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VICE: Wie fühlt es sich an, Nachrichten zu bekommen, in denen du so bedroht wirst?
Idil Baydar: Wenn im Internet jemand schreibt “Ich töte dich”, fühle ich mich nicht bedroht. Wenn auf mein Handy eine Drohung kommt, wird es aber physisch. Das ist eine Nummer, die ich dir geben muss. Die steht nicht irgendwo. Auch dass der Name meiner Mutter in den Nachrichten auftaucht, heißt, dass derjenige sich explizit mit mir beschäftigt hat. Er ist an mir dran. Hier versucht mir jemand offensichtlich Schaden zuzufügen und wie weit das geht, kann ich nicht einschätzen. Deswegen muss ich zur nächsten Instanz, die das zumindest festhält, falls mir was passiert. Das war auch einer der Gründe dafür, dass ich das auf Facebook veröffentlicht habe: Die Leute sollten zumindest schon mal wissen, dass jemand an mir dran war, falls mir etwas passiert.
Wie lief das ab, als du mit den Nachrichten zur Polizei gegangen bist?
Sie haben mir gesagt: “Frau Baydar, wir müssen Sie aufklären, wahrscheinlich werden wir denjenigen nicht finden. Fühlen Sie sich denn bedroht?” Eine Straftat ist es schon, jemandem abknallen zu wollen. Aber das Bemessen, ob es eine tatsächliche Bedrohung ist, hängt nicht davon ab, ob ich bedroht werde, sondern ob ich es als Bedrohung empfinde. So wurde mir das zumindest gesagt. Bei der ersten Nachricht war das noch nicht der Fall, da war ich halt irritiert. Ich wusste nicht so richtig, was das jetzt soll. Spätestens als mir gedroht wurde, dass man mich abknallen will, habe ich mich bedroht gefühlt, ja.
Weswegen du dann zur Polizei gegangen bist. Das macht man ja nicht aus Spaß.
An dem Tag kam dann übrigens noch eine dritte Nachricht. Eine beleidigende. “Widerstand gegen die fette So-und-so”. Die erste und die dritte Nachricht haben sich geähnelt, nur Nummer zwei fiel raus und hatte den Bezug zu Neuseeland. Deswegen glaube ich nicht, dass das derselbe Täter war. Aber ich wusste ja schon, dass die Polizei nichts machen kann. Man hört ja auch immer wieder: Die Frau wurde ermordet, obwohl sie schon fünfmal wegen Körperverletzungen bei der Polizei war. Dann sagen die: “Ja, wir können aber nichts machen, bevor nichts passiert ist.” Mir ist in dem Moment klar geworden: Selbst wenn sie wollen, werden sie nichts machen. Aber eventuell wollen sie ja auch gar nicht, und das ist auch meine Realität. Wenn ich mir angucke, dass 38 Beamten bei den Drohungen gegen Seda Başay-Yıldız mit drinhängen …
Du sprichst von den rassistischen Drohungen gegen die NSU-Anwältin Seda Başay-Yıldız. Ich finde es absurd, dass es über den Islam als angebliche Bedrohung Dutzende politische Talkshows gibt. Aber wenn Menschen, die dieser Religion angehören, Opfer von rechtem Terror werden, wie in Neuseeland, dann scheint das kein diskussionswürdiges Thema zu sein.
Nach Neuseeland haben viele Leute in den sozialen Netzwerken Maischberger und Co. direkt angesprochen und gefragt: Warum macht ihr eigentlich keine Sondersendung? Warum wird nicht berichtet über diese Sachen? Das hat meiner Meinung nach viele verschiedene Ebenen, das kann man nicht eindimensional erzählen. Aber meine Antwort ist: Weil Migranten medial missbraucht werden. Das wissen die Medien. Du willst kein Täter sein, du willst niemanden missbrauchen. Du weißt aber, dass das passiert. Ich bin überzeugt davon, dass die Leute, die bei großen Medien arbeiten, wissen, dass es falsch ist zu sagen: Migration stellt ein Problem dar. Ich denke nicht, dass alle glauben, dass das die Wahrheit ist. Sie müssen es aber trotzdem so berichten.
“Ich habe angefangen mit der Erzählung von dem, was mich zum Opfer macht. Jetzt bin ich bei der Erzählung davon, was Solidarität ist.”
Warum “müssen” sie das deiner Meinung nach?
Der Quotendruck ist unglaublich hoch. Seitdem es Facebook und Co. gibt, brauchst du Journalisten quasi nur noch als qualitative Aufarbeitung, nicht mehr für die Erstberichterstattung. Den Anspruch zu haben, als Erste zu berichten, bringt eine Dynamik in die mediale Aufarbeitung, die es nicht zulässt, qualitativ zu arbeiten. Anspruch und Qualität brauchen Zeit. Angst bringt Klickzahlen, Angst machen bringt Quote. Und deshalb wird es auch weiter gemacht.
Ein Medium, bei dem man diesen Mechanismus besonders deutlich sieht, ist die Bild. Bereust du aus heutiger Sicht, dass du vor ein paar Jahren eine Videokolumne auf Bild.de hattest?
Nein. Damals war Julian Reichelt noch nicht verantwortlich, ich war Manfred Hart unterstellt. Der wollte eine andere Richtung einschlagen und die Bild-Zeitung öffnen, damit sie von mehr Migranten gelesen wird. Manfred Hart ist jemand, der sehr zukunftsgerichtet ist und weiß, was kommt. Wenn ich sage “Wir werden mehr”, dann ist das kein Spaß. In 20 Jahren ist das eine Tatsache. Also gab es den Versuch, mit einer Jilet Ayse einen anderen Weg zu gehen. Natürlich kann ich da sitzen und sagen: “Bild ist scheiße!” Ich kann aber auch hingehen und versuchen, etwas zu ändern. Für mich war es damals auch wichtig, weil ich noch unter Beweispflicht stand. Was ich am meisten über meine Arbeit höre, ist, dass ich übertreibe und dass das nicht stimmt, was ich sage.
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Wer sagt, dass du übertreibst? Von wem hörst du das?
Meistens von Deutschen, die nicht so viel mit der ganzen Thematik zu tun haben. Jeder geht von seinem eigenen Erleben aus. Sie erleben es nicht, also ist es übertrieben. Der Grund, warum Deutsche nicht gerne mit Migranten abhängen, ist nicht, weil sie uns nicht mögen, sondern weil sie dann auf einmal spüren, welche Rolle sie haben – die des Täters. Wenn wir die Opfer sind, muss es auch einen Täter geben. Man muss aber auch verstehen, dass man nicht wählen kann, auf welcher Seite man steht, und darüber sind sich Deutsche ganz oft nicht bewusst. Deswegen habe ich vorhin auf der Bühne gesagt, dass sich keiner seine Rolle aussucht. Auch der Weiße sucht sich nicht aus, Weiß zu sein, aber er profitiert davon. Und auch ich profitiere davon.
Wenn ich zwischen Weißen sitze, bin ich das Opfer, weil die mehr Macht haben. Sitze ich aber zwischen Menschen, die dunkelhäutiger sind als ich, bin ich ein Täter. Es kamen schon Schwarze Mädchen zu mir, die meinten: “Was du machst, ist White Pleasing.” Das trifft mich, das macht was mit dir, wenn dir jemand so was sagt. Wenn jemand zu dir sagt “Du bist ein Rassist”, passiert ein emotionaler Vorgang, der heftig ist – und ich bin davon nicht ausgenommen.
Wie hast du auf den Vorwurf reagiert, deine Arbeit sei “White Pleasing”?
Ich habe genau das gemacht, was jeder Deutsche bei mir macht: Ich habe relativiert, habe mich verletzt gefühlt, war empört. Ich bin sogar auf Klo gegangen und habe geheult, weil mich das so fertiggemacht hat. Weil ich nicht in meiner Rolle als die “Gute” erkannt worden bin. Das ist eine Dynamik, die überhaupt nichts mit Kultur zu tun hat, sondern nur mit Position. In welcher Position sitze ich? Bin ich mächtiger als du? Das ist ein Angriff auf die Macht. Und Macht wehrt sich, indem sie versucht, sich unsichtbar zu machen. Das war ein unglaublicher Bewusstseinsprozess und ich bin dadurch echt wach geworden. Ich habe angefangen mit der Erzählung von dem, was mich zum Opfer macht. Jetzt bin ich bei der Erzählung davon, was Solidarität ist.
Hast du Nanette von Hannah Gadsby gesehen?
Mega.
Da gibt es diesen Moment, in dem sie sagt, dass sie eigentlich keine Comedy mehr machen will. Dass das, worüber sie redet, eigentlich gar nicht lustig ist. Warst du auch schon mal an so einem Punkt?
Ich glaube nicht und ich sage dir auch warum. Ich bin jemand, der eine Absicht hat, und Menschen zum Lachen zu bringen ist eine sehr ehrenvolle Aufgabe. Dein Körper wird nachweislich gesünder, wenn du lachst, und vor allem kannst du eins nicht, wenn du lachst: Angst haben. Du sitzt also als Deutscher in meiner Show, um dich herum Migranten, mit denen du nie was zu tun haben würdest, und die du vielleicht in dieser Kopftuch-Debatte kritisierst – und ihr lacht gemeinsam. Meine Absicht ist nicht, den Kanacken zu spielen oder mich über Kanacken lustig zu machen oder Deutschen wehzutun. Meine Absicht ist, dass du dich herausgefordert, aber auch angenommen fühlst. Ich habe die Show von Hannah Gadsby geliebt, aber das ist nicht mein Film. Es geht auf der Bühne gar nicht um mich, das Thema ist größer als ich.
Was würdest du Leuten raten, die vielleicht nicht wie du in der Öffentlichkeit stehen, aber trotzdem rassistische, islamfeindliche Drohungen bekommen? Wie sollen die damit umgehen?
Ich würde ihnen raten, das öffentlich zu machen. Allein schon, um den anderen Menschen die Möglichkeit zu geben, zu sagen: “Wir stehen hinter dir. Wir lieben dich.” Ich kann mich nicht daran erinnern, in meinem Leben jemals so viel Solidarität erfahren zu haben. Jan Böhmermann hat es gepostet, Shahak Shapira hat es gepostet. Du darfst ja auch nicht vergessen, wofür die stehen. Böhmermann steht für den Deutschen, Shahak steht für den Juden, ich stehe für den Moslem – das ist zumindest unser Frame. Wenn du so willst, sind diese drei Elemente zusammengekommen und haben sich gegen etwas solidarisiert. Und zwar gegen Rassismus und Faschismus.
Ich habe herzzerreißende Nachrichten bekommen, und diese Liebe macht auch etwas mit mir. Mehr als die Angst. Ich habe mich zu Hause gefühlt, als ich diese Solidarität erfahren habe. Und das fühle ich mich hier normalerweise nicht.
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