Die meisten Künstler verdienen ihren Lebensunterhalt damit zu malen, was sie sehen. Melissa McCracken malt hingegen, was sie hört. Die 26-Jährige aus dem amerikanischen Missouri wurde mit der neurologischen Wahrnehmungsstörung Synästhesie geboren, die so selten ist, dass lediglich vier Prozent aller Menschen davon betroffen sind. Vereinfacht gesagt bedeutet es, dass das Gehirn auf bestimmte Reize anders reagiert. als es sollte. So, als wären die Reizleitungen über Kreuz verdrahtet.
Es gibt verschiedene Formen von Synästhesie. McCracken leidet unter Chromästhesie, was bedeutet, dass sie Farben sieht, wenn sie Musik hört. Klingt spannend? Ist es auch. Wir haben uns mit der Künstlerin getroffen und uns erklären lassen, wie sich die Wahrnehmungsstörung auf ihr Leben und ihre Werke auswirkt – und ob bestimmte Musikrichtungen schöner aussehen als andere.
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Broadly: Wann hast du bemerkt, dass die meisten anderen Menschen keine Farben hören?
Melissa McCracken: Ich dachte immer, meine Synästhesie sei ganz normal. Jemanden zu fragen, ob er Farben hört, war für mich also in etwa so, als würde ich ihn fragen, ob er Kaffee riechen kann. Mit 16 Jahren habe ich dann festgestellt, dass es nicht normal ist. Ich war damals gerade dabei, mir einen neuen Klingelton auszusuchen. Mein Handy war blau, deswegen meinte ich zu meinem Freund, dass ich mir eine “orangefarbene” Melodie als Komplementärfarbe zu meinem Telefon aussuchen würde. Er reagierte ziemlich verwirrt und ich dachte anfangs, mit ihm wäre etwas nicht in Ordnung. Als ich in der Schule dann einen Psychologiekurs besucht habe, ist der Groschen endlich gefallen. Das war natürlich alles ziemlich schockierend, weil ich immer dachte, dass das alles ganz normal wäre.
Musst du deine Augen schließen, um die Farben sehen zu können oder erscheinen sie vor deinen Augen?
Synästhesie beeinträchtigt weder meine Sicht, noch löst sie Halluzinationen aus. Das Ganze ist in etwas so, als würde man versuchen, sich etwas vorstellen oder sich an etwas zu erinnern. Ich muss meine Augen nicht schließen, aber es hilft mir, die Farben besser zu visualisieren.
Warum hast du angefangen, deine Lieblingssongs zu malen?
Mit Farben zu arbeiten schien mir ganz natürlich. Das lag mir schon immer. Ich wollte allerdings einen abstrakteren Weg einschlagen und fing an, bestimmte Erinnerungen aus meinem Leben zu malen. Dabei habe ich mich an spezielle Songs erinnert, die ich damit in Verbindung bringe. Schließlich wurde meine Synästhesie zu meinem Kernthema, weil sich immer mehr Menschen dafür zu interessieren schienen.
Gibt es bestimmte Musikrichtungen, die schöner aussehen als andere?
Ich finde schon, ja. Expressive Musik wie zum Beispiel Funk ist sehr viel bunter. Die verschiedenen Instrumente, Melodien und Rhythmen ergeben einen sehr satten Farbton. Gitarren sind in der Regel golden und verwinkelt. Klaviermusik ist hingegen eher marmoriert und eckig, wegen der Akkorde. Akustische Musik male ich eher selten – vor allem, wenn dabei nur eine Person singt und Gitarre spielt. Country-Songs male ich per se nicht, weil ich dabei nur schummrige Brauntöne wahrnehme. Die Tonhöhe und die Klangfarbe spielen aber auch eine wichtige Rolle. Ich versuche deshalb einfach, den Gesamteindruck des Songs zu malen.
Sieht ein Song jedes Mal gleich aus, wenn du ihn dir anhörst?
Das hängt davon ab, worauf ich mich konzentriere. Wenn ich mich mehr auf den Bass konzentriere, den ich vorher nicht bemerkt oder beachtet habe, dann kann sich das gesamte Bild verändern. Im Großen und Ganzen sehen die Songs aber immer relativ identisch aus. Wenn ich versuchen würde, denselben Song zweimal zu malen, dann sähe das Ergebnis aber mit Sicherheit ganz anders aus, weil die Farbspritzer nie identisch sind.
Sehen Synästhetiker bei derselben Musik auch dieselben Farben?
Nicht immer. Ich habe mal eine andere Malerin mit Synästhesie kennengelernt, die auch “Little Wings” von Jimi Hendrix gemalt hat. Unsere Bilder sahen ganz unterschiedlich aus. Das zeigt, wie subjektiv das Ganze ist. Ich liebe zum Beispiel die Kunst von Kandinsky, weil er auch Synästhesie hatte. Seine Arbeiten sehen allerdings viel geometrischer aus.
Hast du auch schon mal Musikwünsche abgelehnt?
Ich möchte mir selbst als Künstlerin treu bleiben. Deswegen kann es schon vorkommen, dass ich höflich ablehne, wenn ich einen Song nicht visuell ansprechend finde oder keine Verbindung dazu habe. Die meisten Menschen verstehen das und zwingen mich auch zu nichts. Es kommt aber auch oft vor, dass ich über die Vorschläge anderer Leute ganz neue Bands entdecke.
Magst du Songs aufgrund dessen, wie sie aussehen oder sehen sie gut aus, weil du sie magst?
Was war zuerst da: Das Huhn oder das Ei? Ich habe mal gelesen, dass Synästheie sehr stark von den Assoziationen eines Menschen abhängt. Menschen deren Synästhesie dazu führt, dass sie Farben als Buchstaben wahrnehmen, stellen anscheinend häufig fest, dass die Farben mit den Magnetbuchstaben übereinstimmen, die an ihrem Kühlschrank hängen. Als Kind stand ich total auf Pink und Violett. Entsprechend waren auch meine Lieblingslieder damals vor allem pink und violett. Ich bin nicht sicher, ob ich mir das so ausgedacht habe oder ob ich einfach viel von Pink und Violett umgeben war. Vielleicht ist es aber auch ein bisschen von beidem.
Malst du ausschließlich Musik oder malst du auch andere Geräusche?
Geräusche sind nicht so kontrastreich wie Musik. Meistens sind Geräusche nur eine kurze Farbwelle, die gleich wieder abebbt. Allerdings habe ich meiner Mutter zum Geburtstag auch mal ein Bild von dem Geräusch ihrer Schritte gemalt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es sich angehört hat, wenn sie nach Hause kam. Als Kind hatten ihre hohen Absatz einen beruhigenden (violetten!) Klang.
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Hast du schon mal jemanden kennengelernt, der eine andere Form von Synästhesie hatte?
Im Studium habe ich ein Mädchen kennengelernt, die Formen sehen konnte, wenn sie Stimmen gehört hat. Die Stimme ihres Vaters war zum Beispiel dreieckig. Außerdem konnte sie Tonhöhen schmecken. Eine Banane war ein hohes C oder so etwas in der Art. Es war total komisch, mich mit ihr darüber zu unterhalten, denn obwohl ich das Konzept total nachvollziehen konnte, hat ihre Synästhesie in meinen Augen überhaupt keinen Sinn gemacht.
Sowohl Pharrell als auch Kanye West und Lady Gaga haben vor Kurzem öffentlich darüber gesprochen, dass sie Synästhesie haben. Findest du es positiv, dass das Bewusstsein für Synästhesie gestärkt wird?
Definitiv. Jeder verarbeitet seine Erfahrungen mit Synästhesie anders. Ich habe schon unzählige, sehr nette Mails von anderen Menschen bekommen, die Probleme mit ihrer Synästhesie hatten. Sie dachten, dass mit ihnen irgendetwas nicht in Ordnung wäre, weil sie Farben sehen konnten, wenn sie Musik hören. Es ist großartig, dass Synästhesie nach und nach mehr Beachtung findet. Letztendlich ist es vollkommen egal, ob wir Erfahrungen als positiv oder negativ wahrnehmen: Es tut immer gut zu wissen, dass es anderen genauso geht und man nicht allein ist.