Im Libanon kämpfen ehemalige Warlords um die Präsidentschaft

Ein Graffito von Michel Aoun, einem der Präsidentschaftskandidaten. Foto von Flickr-User Thierry Ehrmann

Der Libanon hat eine lange und blutige Geschichte politischer Inkompetenz. Trotzdem haben die Politiker des Landes es dieses Jahr überraschend gut hinbekommen, die Auswirkungen des Bürgerkriegs im benachbarten Syrien in Schach zu halten. In der nördlichen Stadt Tripoli und in der Bekaa-Ebene haben Sicherheitsoperationen erfolgreich Gefechte zwischen Pro- und Anti-Assad-Milizen eingedämmt und die Serie von Selbstmordanschlägen gezügelt, die im Winter noch fast jede Woche passierten.

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Jetzt könnten diese Erfolge allerdings zunichte gemacht werden. Die Amtszeit des gegenwärtigen Präsidenten Michel Suleiman endet am 25. Mai, und die beiden großen Blöcke der libanesischen Politlandschaft können sich nicht auf einen Nachfolger einigen. Der Präsident wird vom Parlament gewählt und muss laut Verfassung aus der christlichen Gemeinschaft kommen, die rund 39 Prozent der libanesischen Bevölkerung ausmacht. Das Amt ist hauptsächlich ein zeremonielles, spielt aber eine Schlüsselrolle bei der Stabilisierung der Regierung. Die bittere Feindschaft zwischen der von der Hisbollah geführten „8. März“-Fraktion und der rivalisierenden „14. März“-Koalition hat solche Ausmaße angenommen, dass Abgeordnete der „8. März“-Fraktion die letzten drei Abstimmungsrunden in den vergangenen zwei Wochen boykottiert haben. Die Wahl wird immer mehr zu einem Stellvertreterkrieg zwischen den von der Hisbollah unterstützten Pro-Assad-Politikern und denen, die gegen Assad sind. Und beide Topkandidaten sind Warlords aus dem 15-jährigen Bürgerkrieg. Gegenwärtig leben mehr als eine Million syrische Flüchtlinge im Libanon, das selbst nur eine Bevölkerung von 4,5 Millionen hat. Die damit einhergehende Belastung der Wirtschaft und der seit jeher zerbrechlichen Sicherheitssituation im Land könnte die aktuelle Krise verschärfen und sich auf die gesamte Region ausbreiten.

Vor zwei Wochen fuhr ich in einem zerbeulten Mercedes-Taxi aus den 60ern durch den östlichen Stadtteil Ashrafiyeh. Am Armaturenbrett klebte eine dreieckige Zeder, das Symbol der Forces Libanaises, einer christlichen Rechtspartei. Mein Taxifahrer Camille unterstützte die Partei, deren Anführer, Samir Geagea, der Präsidentschaftskandidat der von Saudi-Arabien unterstützten 14. März-Allianz. Geagea ist der einzige der Bürgerkriegs-Warlords, der je für seine Verbrechen ins Gefängnis musste. Er verbrachte 11 Jahre in Einzelhaft in einer Zelle unter dem Verteidigungsministerium in Beirut. 2012 überlebte er haarscharf einen Mordversuch: Eine Kugel soll knapp an seinem Kopf vorbeigezischt sein, als er sich gerade in seinem Garten nach einer Rose bückte. In seinem Haus soll Geagea eine Nachbildung der Zelle haben, in der er elf Jahre verbracht hat.

Camille hatte in den frühen 80ern unter Geagea gegen die syrische Besatzungsarmee in Koura und den Chouf-Bergen gekämpft. Wenn er davon erzählt, bekommt man eine interessante Mischung aus Verklärung und Posttraumatischer Belastungsstörung zu hören. Aber auch er war sich nicht sicher, dass Geagea die Wahl gewinnen würde.

„Er ist ein starker Führer, ein prinzipientreuer Mann, der gegen die ausländische Einmischung im Libanon steht“, sagte Camille. „Aber ich glaube nicht, dass er Präsident wird. Die Opposition würde seiner Nominierung niemals zustimmen.“

Verwandte und Verbündete von Politikern, die Geagea in den 80ern umgebracht haben soll, sitzen im Parlament, und offene Rechnungen von damals schaden seiner Kandidatur. In der ersten Wahlrunde am 23. April schrieben Oppositionspolitiker ihre Namen auf leere Stimmzettel. Geagea fehlten schließlich 23 Stimmen von den für die Präsidentschaft notwendigen 65.

Das ist nicht sein einziges Problem. Geagea, der eine Zeitlang das höchste militärische Amt des Landes innehatte, gründete seine Kampagne außerdem auf einem Versprechen, das er kaum halten können wird: das umfangreiche Waffenarsenal der Hisbollah unter staatliche Kontrolle zu bringen und die militärische Beteiligung der Schiitenpartei auf Seiten Assads in Syrien zu beenden. Selbst wenn er die Hisbollah im Zaum halten könnte, könnte er bei dem Versuch einen neuen Krieg lostreten.

„Es gibt viele Politiker, die Kriegsverbrechen begangen haben“, erklärte mir Camille. „Aber weil Geagea im Gefängnis war, vergessen die Leute seine Vergangenheit nicht.“

Michel Aoun ist Geageas Gegner. Er ist eine ehemaliger Armeegeneral mit Halbglatze und einer sehr lauten Stimme. Offiziell wird er nicht von der „8. März“-Fraktion unterstützt, aber de facto ist er ihr Kandidat.

Aoun und Geagea haben sich in den innerchristlichen Kriegen in Ostbeirut zwischen 1988 und 1990 gegenseitig bekämpft. Nachdem die syrische Armee mit amerikanischer Erlaubnis 1990 den Präsidentenpalast belagerte, floh Aoun nach Paris. Kurz vor seiner Abreise aus dem Libanon kritisierte er die Bush-Regierung für ihre Unterstützung Syriens und nahm Waffen von Saddam Hussein an. Aber nach seiner Rückkehr 2005 bildete Aoun schnell eine Allianz mit seinen ehemaligen syrischen Feinden und deren Hauptvertreter im Libanon: der Hisbollah.

Im Vorfeld der Wahlen berichtete die libanesische Presse, Aoun sei Amerikas Favorit für den Job. Ein US-Diplomat soll sogar gesagt haben: „Wir stehen vor einer einfachen Rechnung: Aoun oder Chaos.

Auf den ersten Blick wirkt es eigenartig, dass die Regierung Obama die Wahl eines Verbündeten des Assad-Regimes und der Hisbollah vorziehen könnte, aber die Gründe sind relativ einfach: Als Verbündeter gilt Aoun als fähig, mit der Hisbollah in den Dialog zu treten, statt die Schiitenpartei zu verprellen—was Geagea wahrscheinlich tun würde. Im Kontext der andauernden Annäherung zwischen dem Iran und den USA gelten die Hisbollah und ihre iranischen Hintermänner zunehmend als Akteure, die eine Rolle bei der zukünftigen Befriedung des syrischen Bürgerkriegs spielen könnten. Israelische Medien haben behauptet, dass CIA-Agenten sich vor Kurzem mithilfe des US-Botschafters David Hale auf Zypern mit Hisbollah-Agenten getroffen hätten. Gleichzeitig hofft man, dass Aouns Präsidentschaft ihm genug Unabhängigkeit verleiht, um sich von der Hisbollah zu emanzipieren, die mit Sicherheit einen Präsidenten unterstützen würde, der ihre Interessen unterstützt. Aoun hat in den letzten Monaten viel Zeit damit verbracht, den Anführern vom 14. März Angebote zu machen, um sich genug Stimmen zu sichern, um als Konsenskandidat zu gelten.  

„Amerika wird den Kandidaten unterstützen, der ihre Interessen im Libanon voranbringen wird“, sagt mir Imad Salamey, ein Politikwissenschaftler an der American University in Beirut. „Wenn sie Aoun genug Anreize geben, könnten sie versuchen, eine Keil zwischen ihn und die Hisbollah zu treiben.“

Tatsächlich ist es wahrscheinlich, dass weder Geagea noch Aoun gewählt werden. Sowohl dem 14. März als auch dem 8. März fehlen die Sitze im Parlament, um eine Zweidrittelmehrheit zu stemmen. Das bedeutet, dass wahrscheinlich ein gemäßigter, weniger kontroverser Kandidat die Wahl am Ende gewinnen wird. Aber es könnte eine Weile dauern. Andererseits sind politische Verzögerungen und Vakuums im Libanon nichts Ungewöhnliches.
Februar 2014 bildete sich eine legitimes Kabinett nach einer 10-monatigen Leere. Das kam, direkt nachdem die allgemeinen Wahlen gerade um unerhörte 18 Monate verschoben worden waren. Internationale Ölfirmen bereiten sich gerade auf einen Bietwettbewerb um die Abbaurechte von Öl- und Gasreserven mit einem geschätzten Wert von 40 Milliarden Dollar vor Libanons Küste vor—eine mögliche Einkommensquelle, die dem Libanon enorm helfen könnte, der stetig wachsenden Flüchtlingskrise Herr zu werden und die Wirtschaft wieder zu beleben. Aber das Ausschreibungsverfahren wurde bereits durch politische Grabenkämpfe verzögert, unter anderem durch den Vorwurf, bestimmte Gruppen um Aouns Schwiegersohn versuchten, den Prozess zu monopolisieren. Und es wird auch niemand überraschen, wenn der Libanon am 26. Mai immer noch keinen Präsident gewählt hat.