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Land am Abgrund: Im Libanon werden jetzt auch noch Medikamente knapp

Apotheek in Beiroet, Libanon.

Vor drei Jahren starb der Vater von Shadi Nasr El-Din völlig überraschend an einem Herzinfarkt. Seitdem hat der 19-Jährige aus dem Libanon mit posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen. Sein Zustand besserte sich, als ihm die Ärzte Arzneimittel verschrieben. Doch dann kam die Medikamentenkrise.

Im ganzen Libanon leeren sich die Apothekenregale. Egal ob Paracetamol, Aspirin oder Medikamente gegen Diabetes oder Depressionen: Die Vorräte gehen überall zur Neige. “Es wurde immer schwieriger, meine Arzneimittel zu besorgen”, sagt Nasr El-Din. “Ich musste wochenlang warten, bis meine Schwester es schaffte, an eine Alternative aus der Türkei zu kommen.”

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Früher haben ihm Ärzte Zoloft und Sertralin gegen seine Depressionen verschrieben, jetzt muss Nasr El-Din Lustral aus der Türkei nehmen. Zwar mache der Medikamentenwechsel dem jungen Libanesen nichts aus, aber er glaubt, dass die erzwungene Einnahmepause seinen Zustand verschlimmert habe. Die Situation mache ihm schwer zu schaffen, sagt er: “Diese Umstände, gegen die ich nichts tun kann, geben mir das Gefühl, dass ich mich für meine Genesung völlig umsonst angestrengt habe.”

So wie Nasr El-Din ergeht es derzeit vielen Menschen im Libanon, wo sich die ohnehin ernste Lage derzeit durch verschiedene Faktoren weiter verschlimmert: die Nachwirkungen der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut, politische Unruhen und die tödlichen Schüsse bei Demonstrationen. Dennoch kann sich der junge Mann glücklich schätzen. Immerhin ist es ihm noch möglich, Medizin aus dem Ausland zu kaufen.


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Die libanesische Medikamentenkrise begann so richtig im November 2020. Als sich herumsprach, wie knapp Arzneimittel werden, kam es zur entsprechenden Reaktion: “Die Leute kauften große Mengen Medikamente ein, um sie zu horten”, sagt die Apothekerin Melissa Harmoush. “Der derzeitige Stand ist: Die meisten Arzneimittel sind nicht mehr verfügbar. Seit Mai 2021 sind keine Medikamente mehr in den Libanon gekommen.”

Vor allem der Einbruch der Landeswährung – das libanesische Pfund hat seit Ende 2019 90 Prozent seines Werts verloren – löste die Krise aus. In einer aktuellen Studie der Weltbank zur Notlage des Landes schätzt man die derzeitige, damit einhergehende Finanzkrise als eine der schlimmsten seit dem 19. Jahrhundert ein.

Der Libanon ist von Importen abhängig. Das bedeutet: Je schlimmer die Krise, desto weniger Güter kommen ins Land. 81 Prozent des medizinischen Bedarfsmaterials im Libanon sind importiert. Importe machen dort 44 Prozent der jährlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen aus.

Laut Zahlen der Crisis-Observatory-Abteilung der American University of Beirut beliefen sich die Kosten für wichtige Medikamente, medizinische Güter und Säuglingsnahrung im Jahr 2020 auf umgerechnet gut 1,1 Milliarden Euro. Wenn der Wert der nationalen Währung immer weiter sinkt, wird es umso schwerer, das alles zu bezahlen. 

In Bezug auf Medikamente gegen psychische Krankheiten sagt die Apothekerin Harmoush, dass es im Libanon seit Anfang 2021 keinen Xanax-Nachschub mehr gebe. Das antipsychotische Arzneimittel Risperdal sowie die Antidepressiva Cipralex und Zoloft seien genauso wie Medikamente gegen Schlafstörungen und Epilepsie nicht mehr ausreichend verfügbar. Die Folge der großflächigen Knappheit: Die noch vorhandenen Vorräte liegen in den Händen einiger weniger Unternehmen und Einzelpersonen, die jetzt ein De-facto-Monopol auf lebensrettende Arzneimittel haben.

Mit den Medizin-Monopolen ging es vor rund einem Jahr los, als einige Drogerien und Apotheken anfingen, an den Schwarzmarkt zu verkaufen. Alternativ warteten sie auf das Ende der staatlichen Subventionen für Medikamente. Ohne sie konnten sie nämlich ihre Ware zum doppelten Preis verkaufen. Als das libanesische Gesundheitsministerium vor Kurzem Razzien in diversen Lagerhallen durchführte, stießen die Beamten auf Tausende Kartons gehorteter Medikamente.

“Die verschiedenen Krisen erhöhen nochmals den Druck auf die Menschen, die sowieso schon Probleme haben.”

Wenn es nur wenige Medikamente gibt, greifen viele bedürftige Menschen auf lokal produzierte Generika zurück. Im Libanon werden diese Nachahmerpräparate allerdings noch nicht in ausreichenden Mengen hergestellt, um der Knappheit entgegenzuwirken. Die Apothekerin Harmoush sagt, dass viele Patientinnen und Patienten befürchteten, die Generika seien nicht so wirkungsvoll wie Markenmedikamente aus dem Ausland – selbst wenn das nicht der Fall ist.

“Die Situation ist auf vielen Ebenen sehr kompliziert” sagt Sayed Jreige, ein Psychologe mit Fokus auf Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie am Saydet Zgharta University Medical Center, einem privaten Non-Profit-Krankenhaus im Nordlibanon. “Die Zahl der Menschen mit psychologischen Problemen schoss nach dem Beginn der schlimmen Wirtschaftskrise nach oben. Die Pandemie hat die Situation dann nur noch weiter verschlimmert. Kurz darauf folgte im August 2020 die Explosion im Hafen von Beirut, was zu einem erneuten Anstieg von Depressionen und Angststörungen führte.”

Zur derzeitigen Lage der mentalen Gesundheit im Libanon sagt der Psychotherapeut Ali Al-Attar: “Die verschiedenen Krisen erhöhen nochmals den Druck auf die Menschen, die sowieso schon Probleme haben. Durch diese Krisen ist sichtbarer denn je, wie schwer angeschlagen die öffentliche Gesundheit ist.”

Trotz der dramatischen Auswirkungen der Medikamentenknappheit auf die psychische Gesundheit im Libanon gibt es Menschen, die in der Situation auch etwas Positives sehen: “Die Krise zeigt uns, dass der Bedarf von Psychopharmaka nichts mehr ist, für das sich die Patientinnen und Patienten schämen sollten”, sagt Joseph Khoury, der Vizepräsident der libanesischen Psychiatervereinigung. “Viele Freunde und Verwandte posten jetzt zum Beispiel bei Facebook, dass sie dieses oder jenes Arzneimittel brauchen. Das Tabu ist nicht mehr vorhanden.”

“Wir bekommen Anrufe von jungen Menschen, aber auch von Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen. Sie alle haben Angst wegen der fehlenden Medikamente.”

Dass es im ganzen Libanon immer schlechter um die mentale Gesundheit steht, scheint jedoch noch nicht bei der Regierung angekommen zu sein. Derzeit gibt es keine offiziellen Statistiken dazu, wie viele Patientinnen und Patienten Medikamente gegen psychische Krankheiten brauchen oder nehmen.

Für Experten wie den Psychotherapeuten Al-Attar reicht die eigene Intuition aus, um zu merken, dass die Zahl der Fälle steigt: “Ich sehe das daran, dass immer mehr Menschen in meine Klinik kommen. Durch regelmäßige Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen weiß ich, dass das im ganzen Land so ist.”

Aktuelle Berichte legen nahe, dass 50 Prozent der Kinder in Beirut nach der Explosion Anzeichen eines Traumas gezeigt haben. Und 67 Prozent der Anrufe bei der libanesischen Gesundheits-NGO Embrace gingen von Menschen ein, die nach der Katastrophe mit emotionalem Stress zu kämpfen hatten.

“Es wurde häufiger bei unserer Suizid-Präventions-Hotline angerufen”, sagt Yara Chamoun, eine Psychologin, die bei Embrace arbeitet. “Wir bekommen Anrufe von jungen Menschen, aber auch von Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen. Sie alle haben Angst wegen der fehlenden Medikamente – und davor, was das alles für ihre Gesundheit bedeutet.” Zu allem Übel haben Stromausfälle vor Kurzem dafür gesorgt, dass die Hotline mehrere Tage lang nicht erreichbar war. 

Die libanesischen Gesundheitsbehörden denken derweil über Lösungen für die Medikamentenknappheit nach. In einem Interview mit VICE gab Nasser Yassin, der derzeitige Umweltminister und Leiter des Crisis Observatory, an, dass mehrere Schritte unternommen werden könnten. Zuerst müsse man Organisationen wie die WHO oder UNICEF um Hilfe beim Import von Arzneimitteln bitten. Zudem solle der Libanon die Herstellung von Generika im eigenen Land aktiv vorantreiben und ein Trackingsystem einführen, durch das der Ein- und Verkauf dieser Medikamente besser reguliert werden kann.

Der Libanon muss vor allem sicherstellen, dass die Bevölkerung die Arzneimittel bekommt, die sie braucht – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

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