In 100 Tagen um die Welt für lau – so geht’s

Eigentlich sind es zwei Bilder: Links steht die Autorin vor ein paar bunten Häusern, rechts läuft sie einen Palmenweg entlang.

Man kannte uns im Dorf. Die zwei rothaarigen Mädchen mit den Eltern, die beide nur fünfzig Prozent als Lehrer arbeiteten. Hausmänner waren in den 90er Jahren sehr außergewöhnlich. Ich selber wusste das nicht. Ich fand es großartig, meinen Vater so oft zu sehen, der alles erklären konnte, der uns Bücher vorlas, Fahrradfahren und Kochen beibrachte. Die Nachbarn sahen das etwas anders. Damals gab es praktisch keine Männer, die nur Teilzeit arbeiteten. Lief mein Vater mit der Wäsche durch das Mehrfamilienhaus, in dem wir eine kleine Wohnung mit Spannteppich mieteten, streckten die Nachbarn die Köpfe aus den Türen. Fuhr er uns im Anhänger mit seinem Fahrrad in den Turnverein, schaute man ihm nach. Meinen Vater kümmerte das nicht. Er war zufrieden. Eigentlich immer. Dass er das nicht einfach einem sonnigen Gemüt zu verdanken hatte, sollte ich erst später erfahren.

Sommer 2001. Die langen Ferien hatten gerade angefangen. Ich, 14-jährig, tippte vertieft auf meiner lauten Tastatur. Es war zehn Uhr abends. Ich solle den Computer endlich ausschalten, sagte mein Vater. “Ja ja, gleich!”, antwortete ich. Fünf Minuten später war er tot. Herzinfarkt. Ich sah, wie mein Vater starb, sah, wie ein Leben einfach so vorbeigehen kann. Ohne Vorankündigung, ohne Abschied.

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Auch ein alternativer Lebensentwurf: Mitglied in einer Burschenschaft werden


Als meine Freunde und Freundinnen nach der Schule ein Studium anfingen, begann ich sofort zu arbeiten. Zuerst wurde ich Snowboardlehrerin, dann verkaufte ich Sandwiches und schrieb erste Texte für die Lokalzeitung. Ich machte ein erstes, dann ein zweites Praktikum in einer Redaktion. Mit 20 hatte ich eine Stelle bei der größten Schweizer Zeitung. Ich war getrieben und fleißig. Ich wollte alles, nur nicht stillstehen. Mit 21 wurde ich Fernsehreporterin. Tagsüber hetzte ich durchs Land, jagte Verbrechern nach, Politikern und Prominenten. Daneben absolvierte ich die Journalistenschule. Als diese fertig war, nutzte ich die freie Zeit, um Artikel zu schreiben. Ich bekam eine Kolumne, später eine zweite. Heute staune ich, dass ich nicht früher einknickte. Aber mit 23 war ich überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Von außen betrachtet sah das ja auch so aus. Ich gewann Preise. Dass ich nicht wirklich glücklich war, ignorierte ich. Ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken.

Mit 25 wurde ich krank. Nicht ernsthaft. Ich hatte eine heftige Grippe, die nicht verschwinden wollte, und war gezwungen, zu Hause zu bleiben. So ohne Stress, ohne Druck, ohne Lob und ohne Kritik war es furchtbar still. Dieses latente Gestresst- und Getrieben-Sein der letzten Jahre, die Hektik in meinem Alltag, das mitunter Verkrampfte, ich heulte und heulte. Ich war enttäuscht und frustriert. Ich hatte doch, verdammt noch mal, alles gegeben! Ich hatte mich reingekniet, hart gearbeitet, für meinen Erfolg gekämpft. Warum war ich denn nicht einfach glücklich?

In dieser Zeit saß ich einmal bei meiner Mutter am Esstisch. Wäre Papa stolz auf mich, fragte ich sie, und sie sagte, bestimmt. Aber das wäre er so oder so, Erfolg hin oder her. Denn ich hätte eines wissen müssen, was er uns vorgelebt hat und schon früh als Rat gab, was ich aber nie hören wollte: “Dein Vater sagte immer, das Wertvollste, das man habe, sei die Zeit und deshalb solle man seine Zeit für die Dinge nutzen, die man am meisten liebt. Deshalb arbeitete er nicht Vollzeit. Deshalb verzichtete er auf eine Karriere. Er liebte seinen Job, aber er liebte euch mehr.”

Die Autorin mit ihrer Schwester Corinne als 3- und 5-Jährige.
Die Autorin mit ihrer Schwester Corinne (rechts) als 3- und 5-Jährige | Foto: mit freundlicher Genehmigung der Autorin

In einem Hollywood-Film würde die Protagonistin nun auf einen Schlag ihr Leben ändern. Ich brauchte zwei Jahre, bis ich mich traute. Ich hatte wahnsinnig Angst vor diesem Schritt. Und es dauerte eine Weile, bis ich wusste, was ich am meisten liebe und wofür ich meine Zeit nutzen möchte: für meine Freunde, meine Familie und das Reisen. Mit 27 kündigte ich meinen Job. Ich beendete meine Zusammenarbeit mit Magazinen, verabschiedete mich als Kolumnistin. Alle erklärten mich für verrückt. Warum jetzt? Es würde doch gerade so gut für mich laufen! Ich tat, als wüsste ich, was ich tue. Aber in Wahrheit hatte ich keinen Plan.

“Ich arbeite nur noch so viel, wie ich muss, um durchzukommen.”

Heute, drei Jahre später, weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war. Einfach waren die letzten Jahre aber nicht immer. Ich bin Freelancerin, schreibe Bücher und Theaterstücke. Ich verdiene weniger als alle in meinem Umfeld. Ich weiß auch nie, wie viel ich am Ende des Monats auf dem Konto haben werde. Viel ist es meist nicht. Aber ich arbeite nur noch so viel, wie ich muss, um durchzukommen. Ich kaufe fast nie neue Klamotten, habe keine schicken Handtaschen und teure Möbel. Ich habe noch ein Studium begonnen: Philosophie. An einer Fern-Uni, weil ich so viel reise oder im Ausland lebe. Ich bin Nomadin, wechsle ständig meinen Wohnort. Was günstiger ist, als viele denken.

Aber ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war. Denn ich war noch nie so glücklich. Nicht nur, weil ich so viel reisen, sondern weil ich so viel Zeit mit Freunden verbringen kann. Dass mein persönliches Glück davon abhängig ist, ist wenig erstaunlich. Freundschaften sind hauptverantwortlich für ein zufriedenes, gesundes Leben, besagt die größte internationale Studie, die je zu dem Thema gemacht wurde. Befragungen von über 3,4 Millionen Menschen auf der ganzen Welt wurden ausgewertet und weder Alkohol noch Zigaretten oder eine gesunde Ernährung haben den gleichen großen Einfluss auf unsere körperliche und mentale Gesundheit wie Freundschaften und soziale Interaktionen.

Ein Diptych: Links sitzt die Autorin an einem Laptop, rechts hängt sie am Hals eines bärtigen Mannes.
Links in Kolumbiens | Foto: Anja Glover || rechts in Luzern | Foto: mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Meine Geschichte ist einer der Gründe, warum meine Schwester und ich “Yuujou” gestartet haben, ein Projekt, das auf Freundschaft fokussiert. Wir wollen beweisen, dass die echte Vernetzung der Menschen wertvoller und stärker ist als die virtuelle. Dank der finanziellen Unterstützung eines Freundes können im Frühling 2019 sechs Leute aus aller Welt auf eine Reise.

In zwei Teams fahren sie in Berlin in entgegengesetzte Richtung los, ihr Ziel ist Japan. Um da anzukommen haben sie 100 Tage Zeit. Eine Route haben sie nicht. Denn der nächste Stopp muss jeweils bei einem Freund oder einer Freundin des aktuellen Gastgebenden sein. Treffen sich die beiden Teams am Ende ihrer Reise wieder, ist eine Freundschaftskette um die ganze Welt gebildet und eine reale Vernetzung der Menschen aufgezeigt. Seit einer Woche können sich Leute aus aller Welt bewerben.

Heute bereue ich, dass ich mich nicht eher an den Rat meines Vaters erinnert habe. Dass ich meine Zeit nicht schon früher anders eingeteilt habe. Ich hätte es doch besser wissen müssen, ich habe ja selber erlebt, wie schnell es vorbei sein kann, ohne Abschied, ohne Vorankündigung, einfach vorbei. Ich bin kerngesund, aber ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Niemand weiß das. Wie lange kann man noch tun, was man tun will? Wie lange kann man noch seine Zeit für die Dinge nutzen, die man am meisten liebt? Ich glaube, es ist ein lebenslanges Abwägen, wer oder was das Wertvollste bekommt, das man hat, die Zeit. Bei mir sind es das Reisen, meine Familie und meine Freunde und Freundinnen. Dass sich das je ändert, bezweifle ich. Und wenn es sich ändern sollte, werde ich mein Leben ändern.

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