Kinder gegen die Hölle: Das ist wohl die Quintessenz der Netflix-Serie Stranger Things, deren vierte Staffel gerade zu Ende gegangen ist. Kinder kämpfen gegen Monster mit scharfen Zähnen und Schlündern statt Gesichtern, sie dringen ein in ihre Welt, die eine Albtraumversion unserer eigenen ist, und nehmen es mit dem Urheber des Grauens auf, das sie seit mittlerweile 34 Folgen plagt. Nur dass das Grauen diesmal in ihnen selbst entsteht – womit die Serie mehr über unsere Gesellschaft aussagt, als uns lieb sein dürfte.
Auch bei VICE: Wir haben Menschen nach ihren schwersten Straftaten gefragt
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In den ersten drei Staffeln überfielen immer wieder Ungeheuer aus der Schattenwelt die Kleinstadt Hawkins, Indiana. Von Mal zu Mal wurden sie mächtiger und ambitionierter. Wollte das erste Monster noch nur einen der kindlichen Protagonisten fressen, zielten die späteren Viecher schon auf Herrschaft ab. Immer wieder trat ein Gruppe Jugendlicher gegen die Monster an und konnte sie, Staffel für Staffel, zurückschlagen.
Das Monster der vierten Staffel nennen die Figuren der Serie Vecna. Mit seiner braun-grauen Farbgebung und den Narben am ganzen Körper sieht es aus wie verkohlt und damit ganz schön unheimlich. Es dringt in die Gedanken von Jugendlichen ein, packt sie dort, wo sie am verwundbarsten sind, nämlich bei ihren Schuldgefühlen, und tötet sie schließlich. Vecna ist fleischgewordenes Trauma, Freddy-Kruger-gesichtiger Selbsthass und dämonisch-starrende Depression.
Die Gruppe Jugendlicher um Eleven (Millie Bobbie Brown), die mit ihren Gedanken Dinge bewegen oder in die Gedanken anderer Menschen eindringen kann, muss sich also diesem neuen Endgegner stellen. Im Laufe der Staffel finden sie heraus, dass das Monster und Eleven eine traumatische Vorgeschichte verbindet.
Die ferne Sowjetunion sehen wir hier wieder genauso kalt, kaputt und unwirtlich wie in den James-Bond-Filmen, die sich noch vornehmlich Russen als Gegner aussuchten. Sheriff Hopper (David Harbour) und Joyce Byers (Winona Ryder) finden einen Weg, von dort aus gegen das Monster zu kämpfen. Das besitzt schließlich ein Schwarmbewusstsein, was sich die verschiedenen Gruppen zunutze machen, um im Finale von allen Seiten anzugreifen.
Die Staffel funktioniert dabei richtig, richtig gut. Es ist mit Abstand die beste seit der ersten. Das liegt vor allem an den vielen Parallelhandlungen. Die sind zwar nicht alle gleich spannend oder bedeutsam, aber schaffen immer wieder Abwechslung. Das Wichtigste ist aber die Vergangenheit Elevens, die hier als Parallelhandlung auftaucht. Dadurch entsteht wieder Mystery, das Publikum will wissen, was das große Geheimnis ist, das immer wieder angedeutet wird. Die Autorinnen und Autoren der Serie legen zahlreiche Fäden aus, die am Ende zusammenlaufen wie die Tentakel, die sich durch die Schattenwelt ziehen und im Rücken des Monsters zusammenkommen.
Dabei bringt die Serie keine vielversprechenden Voraussetzungen mit: Sie ist die vorletzte Staffel, bereitet also eigentlich nur das Finale vor. Auch deswegen bleibt den Figuren kaum Raum für Charakterentwicklung. Die Metapher vom Übergang von der Kindheit zur Pubertät kann nicht mehr herhalten, sie ist ausgelutscht und die Schauspielerinnen und Schauspieler auch zu alt dafür. Gleichzeitig können sie noch nicht erwachsen werden, weil da ja noch die letzte Staffel kommt.
Aber die Serie nutzt einen Trick, um das auszugleichen. Statt den großen Schritt zur vollständigen Selbstständigkeit des Erwachsenseins zu gehen, beschränkt sie sich darauf, zu zeigen, wie die Figuren den Ballast der Kindheit und Jugend abwerfen. Ihre Traumata, Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe. Und den größten Grusel überhaupt: die Depression, die die Menschen lähmt, ihnen den Willen zum Leben nimmt und sie schließlich tötet, die Knochen bricht, die Augen zerdrückt, den Kiefer ausrenkt.
Das in die Form des Horror-Welt-beherrschenden Vecna zu gießen, dessen Plan es ist, nicht nur sein Reich der Schattenwelt zu regieren, sondern auch die Welt der Menschen, ist so creepy und wenig aufdringlich, dass man sich das anguckt, ohne dass man sich verarscht vorkommt.
Die Protagonisten kommen Vecna auf die Schliche, als sie merken, dass seine Opfer vor ihrem Tod die Schulpsychologin aufgesucht haben – und dass diese mit den Ängsten der Jugendlichen, nun ja, eher mittelmäßig verständnisvoll umgegangen ist. Die Jugendlichen bleiben in ihrem Schmerz ungesehen, unverstanden. Weiterhin plagen sie die grausamen Visionen von Dingen, die sie sich selbst vorwerfen. Nur dass diese Visionen überdreht sind bis in bizarre Szenarien des Schreckens. Die erinnern an die Traumsequenzen aus dem Horrorfilm-Klassiker A Nightmare on Elmstreet. Dass dessen Hauptdarsteller Robert Englund hier einen Gastauftritt hat, ist sicher kein Zufall.
Eine der Protagonistinnen wird ebenfalls verfolgt von Vecna und den Visionen, die er ihr in den Kopf pflanzt. Einmal ist das Monster kurz davor, sie zu schnappen. Es ist in ihre Gedanken eingedrungen und sie in einer Horror-Vision gefangen. Nun ist es kurz davor, sein Tötungsritual zu vollziehen: die Glieder verdreht, der Kiefer verzogen, die Augen blutige Löcher. Doch ihre Freunde retten sie. Und die Musik.
Kate Bushs “Running Up That Hill” ist seitdem wieder populär, zahlreiche Memes beschäftigen sich mit dem Song, der derzeit wieder in der Top Ten der deutschen Charts steht. Doch der kurze Sieg wird schnell unbedeutend, die Episode ist überstanden, doch wir wissen: Das Monster sitzt ihr noch immer im Kopf.
Auch wenn Stranger Things die Metapher der psychischen Krankheit durch die Vecna-Figur ins Horror-Genre überträgt und damit kaschiert, bleibt die Botschaft doch immer noch spürbar. Helft einander, hört einander zu, nehmt einander ernst. Vor allem junge Menschen wissen mit derartigen Emotionen oft kaum umzugehen. Gerade hier müssen Erwachsene hinhören. Und im Zweifelsfall auch andere Jugendliche.
Dass man auf Depressionen schießen, sie anzünden und verstümmeln kann, das passt vielleicht nicht so offensichtlich. Und doch: Hier sind es die anderen, die das Monster bekämpfen, wenn diejenige, von der es Besitz ergriffen hat, sich nicht mehr helfen kann. Sie hängt währenddessen gelähmt in der Luft, kurz davor, dass der Horror sie tötet. Die anderen werfen Molotowcocktails, sie bringen Licht dahin, wo Dunkelheit war, sie ballern und schlagen und geben alles, damit ihre Freundin überlebt.
In der letzten Folge muss Yuri, ein schlitzohriger Schmuggler, überzeugt werden, der Gruppe zu helfen. Eines der Argumente ist, dass das Böse nicht Halt macht vor dir oder mir, dass es keine Staatsgrenzen kennt und sich am Ende jeden holt – auch das Mutterland, denn Yuri ist Russe. Was das heißen soll? Uns alle kann eine Depression treffen und dann sind wir darauf angewiesen, dass Leute das erkennen, uns sehen und helfen. Psychische Erkrankungen, will Stranger Things sagen, müssen in der Gesellschaft noch viel mehr Beachtung finden.
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