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In dieser trostlosen Lockdown-Welt sind Supermärkte die letzten magischen Orte

Die Autorin steht vor einem vollen Einkaufswagen, weil sie während des Lockdowns im Supermarkt war

Heute sind es in der Stadt minus acht Grad. Nachdem uns die Pandemie jeglichen Spaß genommen hat, will mir der Winter den letzten Rest jugendlichen Leichtsinn austreiben und mich mit Frostbeulen dazu zwingen, Winterschuhe zu tragen. Doch im Herzen bin ich eine 15-jährige, die im Winter stur mit Chucks durch den Schnee stapft. Gerade gibt es nur zwei mögliche Destinationen. Supermarkt oder einmal um den Block. Ich bin auf dem Weg zum Supermarkt.

Mittlerweile ist schon so lange Pandemie, dass ich mich immer darauf freue, gleich etwas unschlüssig zwischen den Regalen zu stehen und viel zu viel Zeit vor dem Müsliregal zu verbringen. Supermärkte sind gerade die einzige Insel der Beständigkeit in einer Zeit, in der Dinge, die an einem Tag als sicher gelten, am nächsten widerlegt werden. Auf den Supermarkt kann ich mich verlassen. Wenn ich nicht weiß, ob mein Verstand noch da ist, der Supermarkt ist es noch.

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Ich habe irgendwo gelesen, dass das Licht in Supermärkten so gewählt ist, dass das Obst und Gemüse besonders appetitlich aussieht. Unter dem Neonlicht glänzen Zwetschgen, Orangen und Gurken und ich stelle mir vor, wie die Neonröhren meine ungekämmten Haare und Augenringe ausleuchten. Vielleicht sehe ich an keinem Ort ansprechender aus als hier.


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Plötzlich ist dieser Ort das Highlight eines Tages. Hier in den Gängen zwischen Essiggurken und Quinoa gibt es das echte Leben immer noch. Es gibt immer noch Orte, an denen ich zu sein habe. Nämlich hier. Es gibt immer noch Dinge, die ich zu kaufen habe. Nämlich Salz kaufen für den fast leeren Streuer. Es fühlt sich fast so an, wie etwas vorhaben.

Früher, als ich pro Tag noch mehr als eine Aufgabe hatte, war der Supermarkt alles andere als der Höhepunkt eines Tages. Die Pflicht noch einkaufen zu gehen, saß mir im Nacken. Und wenn ich dann nach einem Arbeitstag dort ankam und die Farben wieder so laut waren wie gestern, hätte ich den Rabattschildern gerne genervt zugeflüstert: “Ihr habt keinen Grund so grell zu sein. Ich habe schon verstanden. Konsum ist geil.” Und dann standen ich und meine schlechte Laune nebeneinander in der Kassenschlange, in der gleich das Kartengerät nicht mehr funktionierte.

Trotz Gedränge und Stress gab es auch vor der Pandemie einen Supermarkt, den ich mochte. Als ich ein Kind war, sind wir immer in das italienische Dorf gefahren, aus dem meine Oma stammt. Dort gibt es nichts außer alte Männer auf weißen Plastikstühlen am Straßenrand, geifernde Hunde in der Vorfahrt und Unkraut, das zwischen den Pflastern hervor wuchert. Es ist der beste Ort auf der Welt.

Auf dem Rückweg hielten wir immer bei einem großen Supermarkt. In meiner Erinnerung türmen sich die Regale zehn Meter in die Höhe. Es gab alles und alles schmeckte wie Urlaub. Die Ladenfläche war so riesig, dass eine Stimmung herrschte wie in einem Flughafen, wo man losgelöst von Zeit und Raum scheinbar für immer zwischen den Gates wechselt. Als Kind stellte ich mir vor, dass das der Ort ist, an dem man Zeit verbringt, bevor man ins Jenseit wechselt, eine Transitzone.

Einmal noch den Einkaufswagen zwischen den Olivengläsern, Pesto und Tomatenkonserven durchschlängeln, bevor es weitergeht Richtung Paradies oder so. Vielleicht ist auch der Iper-Supermarkt vor der Schweizer Grenze der beste Ort der Welt. Gerade fühlt sich jeder Supermarkt an, wie dieser italienische Supermarkt. Jetzt stehe ich manchmal zwischen den Regalen und lese mir die Beschreibung zu jedem Käse in der Auslage durch, bevor es weitergeht Richtung draußen, Richtung Dystopie. Kurz schmeckt alles nach Urlaub, nach Auszeit. Hier habe ich eine Aufgabe.

Manchmal kaufe ich irgendein Gemüse, das ich nie kaufe, und tue so als würde ich ganz genau wissen, was man damit so kochen kann. Pastinaken oder Fenchel.

Manchmal kaufe ich irgendeine Süßigkeit, die ich noch nie gegessen habe und freue mich den ganzen Nachhauseweg darauf.

Manchmal verliere ich den Überblick. Neue Regelungen oder Lockerungen. Ich mag jetzt andere Dinge als letztes Jahr. Ich kaufe lieber Äpfel als Clementinen und Avocado mag ich seit kurzem auch. Als müsste ich der Welt beweisen, jetzt wo sie eine andere ist, dass ich auch eine andere bin.

Und jetzt, da die Welt und ich uns nicht mehr aufeinander verlassen können, klammern wir uns noch an das letzte bisschen Zuverlässigkeit. Hier liegen die Saftorangen links neben den Orangen, die Gurken über den Zucchini. Die Mandelmilch steht immer noch da, wo sie vor ein paar Tagen war.

Vielleicht vergesse ich heute mit Absicht die Bananen oder den Frischkäse. Ich habe ja morgen nichts vor.

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