Kaum ein Element unserer Ernährung wurde in den vergangenen Jahren so hart gedisst wie Fette. Fett macht fett, hieß es lange, und wer zu viel davon isst, riskiert mindestens Herzanfälle und arterielle Komplikationen. Heute wissen wir, dass Zucker viel schädlicher für die Gesundheit ist. Wieso haben wir also jahrzehntelang auf das falsche Pferd als Sündenbock gesetzt, wollte die University of California-Forscherin und ehemalige Zahnärztin Dr. Cristin Kearns wissen. Sie hat über 300 alte Dokumente aus dem Keller der Uni Harvard ausgewertet—und die klebrigen Fingerabdrücke der US-Zuckerindustrie überall darauf gefunden.
Ihre Fallstudie, veröffentlicht am Montag im Fachblatt JAMA Internal Medicine, legt chronologisch eine gezielte und folgenschwere Manipulation offen: Ähnlich wie die Tabakindustrie über viel Jahre versuchte, die Lungenkrebsforschung gezielt zu manipulieren, hat die Zuckerindustrie bereits in den 1960er Jahren bekannten Harvard-Wissenschaftlern heimlich 48.900 Dollar für einen Forschungsüberblick bezahlt, der die Verbindung von Herzkrankheiten und Zuckerkonsum herunterspielte—und Fett zum Schuldigen machte. Schließlich tauchten in den frühen 60er Jahren die ersten Untersuchungen auf, die gravierende Gesundheitsprobleme und Zucker miteinander in Verbindung brachten. Man wollte gegenlenken.
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„Die Sugar Research Foundation hat das Ziel der Untersuchung festgelegt, Artikel zur Aufnahme in die Untersuchung bereitgestellt und Entwürfe vorab erhalten”, heißt es bei Kearns.
Das „Projekt 226″ wie es intern ließ, kam gut voran—was wohl auch daran lag, dass ein beteiligter Harvard-Forscher den Grundsatz der wissenschaftlichen Unabhängigkeit kreativ interpretierte und gleichzeitig im Vorstand der Zuckerstiftung saß. 1976 veröffentlichten die Harvard-Forscher die gewünschte einflussreiche Metastudie, deren Fazit sich aus Sicht der Zuckerindustrie extrem wohlwollend liest.
Das Ergebnis: Es bestehe „kein Zweifel”, dass die Reduktion von Cholesterin und gesättigten Fetten die einzig nötige Ernährungsintervention sei, um Herzkrankheiten zu verhindern. Zucker spiele kaum eine Rolle.
Wie folgenschwer und durchschlagkräftig diese manipulierte Feststellung Jahrzehnte später noch nachhallt, ist kaum zu unterschätzen. Marion Nestle, Ernährungsprofessorin an der New York University, schreibt in einem Vorwort zu Kearns Studie, dass sich sowohl Gesundheitspolitiker als auch Wissenschaftler noch über Jahrzehnte auf diese Studie beriefen und öffentliche Empfehlungen aussprachen, weniger Fett zu sich zu nehmen.
Als Folge dieser öffentlichen Meinungsbildung gelangte die Fett-Stigmatisierung in unzählige Ernährungspyramiden, Diäten, Schulkantinen und die Köpfe der Eltern, die das „Wissen” um die griffige Formel „Fett macht fett” an ihre Kinder weitergaben. Noch heute finden wir kaum ein Kühlregal ohne in mehreren Stufen fettreduzierte Milchprodukte—deren Geschmacksfreiheit oft durch erhöhten Zuckergehalt ausgeglichen wird.
Erst sehr schleppend verschiebt sich der Fokus dank einiger neuen Studien, die versuchen, den Ruf des Fetts wieder herzustellen. Öl ist gesund, sogar viel Öl, und selbst Butter ist aus gesundheitlicher Sicht als Energielieferant oft besser als Zucker—sehr langsam setzt dieser Gedanke auch in der Öffentlichkeit durch. Die Mittelmeerdiät, die neben Gemüse, Fisch und Getreide auf viel Olivenöl setzt, wird heute als das Nonplusultra in Sachen gesunde Ernährung und der Vermeidung von Krankheiten angesehen.
Es ist übrigens bei weitem nicht das erste Mal, dass die gezielte Einflussnahme der Zuckerindustrie auf Politik und Wissenschaft öffentlich wird. Vor rund einem Jahr legte eine Studie—übrigens ebenfalls von der University of California—in PLOS Medicine offen, wie die Zuckerindustrie zwischen 1950 und 1971 verstärkt daran arbeitete, den Zusammenhang zwischen Zahnkrankheiten und Zucker zu verwischen.Auch hier drängt sich der Vergleich zur Tabakindustrie auf, die versuchte, die Korrelation von Krebs und Tabakkonsum zu vertuschen.
Solche Transparenz in der Finanzierung sei eben damals nicht üblich gewesen, windet sich der Zuckerverband elegant aus der Verantwortung.
In einem Statement räumt der Zuckerverband ein, dass die Forschungsfinanzierung des Projekts 226 transparenter offengelegt hätte sein sollen; windet sich jedoch elegant mit der Begründung aus der Verantwortung, diese Offenheit sei damals eben nicht üblich gewesen und überhaupt sei es schädlich, industrie-gesponserte Forschung zu verdammen. Dass der Grundsatz von der Unabhängigkeit der Wissenschaft auch damals schon galt, ignoriert der Zuckerverband dabei geflissentlich.
Natürlich hat Zucker keine alleinige Rolle in der Entwicklung von Herzkrankheiten—doch eine unbestritten große. Genauso wenig hat der Verband jedoch bis heute ein Interesse daran, damalige Manipulationen von sich aus einzugestehen. Insbesondere, da Zucker als Krankheitserreger in Industrie- und Entwicklungsländern gleichermaßen verstärkt in den Fokus rückt und die Weltgesundheitsoragnisation WHO Jahr für Jahr mahnt, den Zuckerkonsum einzuschränken.
Die aktuelle Maximal-Empfehlung der WHO beläuft sich auf gerade mal 25 Gramm Zucker am Tag (das entspricht etwas mehr als sechs Teelöffeln oder einem großen Glas Orangensaft), aber die Welt hält sich leider nicht mal im entferntesten daran—oft liegt das daran, dass Zucker ein einfach zu produzierender Geschmacksträger ist und durch das Überangebot (die Welt produziert 175 Millionen Tonnen Zucker pro Jahr) so günstig ist, dass zuckerhaltige Lebensmittel oft preiswerter als gesunde sind.
Auch Diabetisverbände fordern seit Jahren, stark zuckerhaltige Lebensmittel zu besteuern, weil ihr übermäßiger Konsum gesundheitsschädlich ist und Behandlung der Folgeschäden zu hohen gesellschaftlichen Kosten führt. Eine Einschränkung scheint sich aber noch nicht ganz durchgesetzt zu haben: Ein Deutscher gönnt sich pro Tag im Durchschnitt 90 Gramm Zucker.
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