Instagram und Snapchat ruinieren unsere Erinnerungen

ilustracije Ben Giles

Für meine Follower besteht der Sommer 2016 aus sechs Reihen à drei Quadrate, Fotos von meiner Europarundreise. Wenn ich mir die Posts anschaue, dann erinnere ich mich vor allem an das, was dort nicht zu sehen ist: ausgelassene Nächte und abgelegene Strände. Erlebnisse, bei denen ich überhaupt nicht daran dachte, sie für Social Media zu dokumentieren. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, die ganzen Eindrücke in mich aufzunehmen.

Erinnerungen beginnen bei der Wahrnehmung: Dein Gehirn registriert, was du siehst, hörst, riechst und fühlst – wie die frische Schärfe von Minz-Eiscreme oder die ungewohnte Stille nach dem ersten Schneefall. Diese Eindrücke gelangen an den Hippocampus, wo die Entscheidung fällt, ob die Erinnerung im Langzeitgedächtnis gespeichert wird. Faktoren wie Vertrautheit, Wiederholung und emotionale Erregung bestimmen mit, welche Erinnerung die Barriere vom Kurz- zum Langzeitgedächtnis passieren darf.

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Wenn wir Erlebnisse aber zuallererst auf Social Media festhalten wollen, fällt es uns zunehmend schwerer, echte emotionale Verbindungen zu unseren Erfahrungen aufzubauen. Und diese Problematik hat sich im Sommer 2016 noch einmal verschärft.


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Die Revolution begann allerdings schon drei Jahre früher mit Snapchat. 2013 hatte die App mit großem Erfolg das Prinzip der verschwindenden Beiträge eingeführt. Das “Stories”-Format, bei dem Fotos und Videos nach 24 Stunden wieder verschwinden, krempelte die Branche komplett um. Drei Jahre später klaute sich Instagram ziemlich dreist das Format und führte es selbst ein. Obwohl viele – ich inklusive – anfangs skeptisch waren, gewannen Instagram-Stories schnell die Oberhand – und Snapchat hatte das Nachsehen. Die User-Zahl von Instagram wuchs innerhalb von acht Monaten von 500 Millionen auf 700 Millionen.

Das Stories-Format brach mit der penibel kuratierten Statik, die bis dahin für Instagram typisch gewesen war. Durch seine “Echtzeit”-Einblicke in Alltagserlebnisse bekam die App eine neue Lockerheit. Marken und Konsumierende gleichermaßen profitierten von dem neuen Feature und benutzen es bis heute. Die Kehrseite: Es herrscht ein größerer Druck, öfter zu posten – gerade während der aufregendsten Erlebnisse.

Zum ersten Mal wurde mir das Silvester 2016 richtig bewusst. Ich war mit ein paar Freunden bei einer Warehouse-Party in Los Angeles, als der Countdown begann. Die Stimmung war ausgelassen. Wir freuten uns, gemeinsam vor Mitternacht bei einer Party gelandet zu sein. Ich war kurz davor, mein Handy rauszuholen, um einen Snap vom Countdown zu machen, entschied mich im letzten Moment aber dagegen. Ich wollte den Augenblick bewusst genießen. Als ich mich zu meinem Freund drehte, hielt er schon sein Handy in der Hand und rief “Drei, zwei eins!” in die Frontkamera. Alle jubelten, er küsste mich, aber ich fühlte mich seltsam distanziert. Ich fragte mich, ob er in dem Augenblick so anwesend war wie ich.

“Du schiebst einen Bildschirm zwischen dich und die Situation, die du festhalten willst.” Julia Soares, Wissenschaftlerin

Julia Soares und Benjamin Storm von der University of California, Santa Cruz, haben über mehrere Jahre den Einfluss digitaler Technologien auf unser Gedächtnis studiert. Im März 2018 veröffentlichten sie eine aufsehenerregende Studie, in der sie zeigten, dass Menschen sich vom Augenblick lösen, wenn sie diesen mit einer Handykamera festhalten. Dadurch werden Erinnerungen, so das Ergebnis der Forschenden, nicht so tief gespeichert wie sonst.

Davor hatten andere Forschungsarbeiten bereits gezeigt, dass das Gedächtnis von Menschen schlechter werden kann, wenn sie einen verlässlichen, externen Erinnerungsspeicher, wie eine Kamera, nutzen. Das Phänomen der Gedächtnisbeeinträchtigung durchs Fotografieren tauften sie “photo-taking impairment effect”. Forschende hatten diesen Effekt bislang vor allem der “kognitiven Entlastung” zugerechnet, also der Auslagerung von Erinnerungen auf Geräte. Soares und ihr Team schätzen jedoch, dass das keineswegs der Fall war.

“Unsere Studie zeigte Anzeichen dafür, dass der ‘photo-taking impairment effect’ nicht davon abzuhängen scheint, ob das Foto gespeichert wird oder nicht”, sagt Soares am Telefon. “Ansonsten würde der Effekt ausbleiben, wenn die Person weiß, dass sie sich nicht auf die Kamera verlassen kann.”

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Soares schlägt deswegen die neue These des “attentional disengagement” vor. Demnach hole die Bedienung einer Kamera oder Handykamera Menschen so sehr aus dem aktuellen Geschehen, dass die Bildung von Erinnerungen geschwächt wird – selbst nachdem sie die Kamera wieder aus der Hand gelegt haben. Interessanterweise verschlimmerten sich die Erinnerungsprobleme der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, wenn sie Snapchat benutzten. Ein Grund dafür könnte sein, dass man bei der App noch mehr durch Filter, Effekte und Textfenster abgelenkt wird.

“Du schiebst einen Bildschirm zwischen dich und die Situation, die du festhalten willst. Wie es scheint, braucht es ein bisschen Zeit, danach wieder im Augenblick präsent zu sein”, sagt Soares.

Immerhin: Das Problembewusstsein in unserer Gesellschaft wächst. Immer mehr Menschen sprechen darüber, wie wichtig es sei, “im Augenblick zu leben” – nicht nur, wenn in Berliner Clubs die Handykameras abgeklebt werden. Gleichzeitig fällt es vielen Menschen schwer, sich dem Sog von Social Media zu entziehen. Besonders schlimm ist es, wenn wir das Gefühl haben, gegen unseren Willen posten zu müssen. Ich ertappe mich ständig dabei, meine Feeds zu aktualisieren, um nichts zu verpassen, oder meine Followern per Instagram-Story wissen zu lassen, dass ich noch lebe. Dadurch verliert auch die Zeit, die ich für mich selbst habe, an Qualität.

“Fotografen müssen bei der Arbeit super präsent sein. Das beeinflusst, wie wir uns an Situationen erinnern.”Aaron Ricketts, Fotograf

Ältere Untersuchungen haben ergeben, dass es sogar förderlich für das Gedächtnis sein kann, wenn man etwas sehr bewusst fotografiert. Auch wenn die Forschung dazu noch am Anfang steht, sagt Soares, dass “es Gründe zur Annahme gibt, dass Menschen weniger von dem nachteiligen Effekt betroffen sind, je bewusster sie ein Foto machen. Wenn jemand Bilder macht, nur um sie bei Facebook zu posten, erinnert sich die Person weniger positiv daran, als wenn sie die Bilder sehr bewusst macht.”

Gerade bei professionellen Fotografinnen und Fotografen wie Aaron Ricketts zeigt sich das sehr deutlich. “Wenn ich Fotos mache, dann steckt in der Regel eine Menge Planung dahinter”, sagt Ricketts. “Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber ich denke, dass Fotografen während der Arbeit super präsent sein müssen. Das beeinflusst sehr, wie wir uns an Situationen erinnern – mit oder ohne Bilder.”

Seine selektive und bewusste Herangehensweise an die Fotografie hilft Ricketts auch bei seiner privaten Social-Media-Nutzung. Zwar lebt er davon, Augenblicke zu dokumentieren, jedoch spürt er nicht den Drang, ständig in den sozialen Netzwerken auf dem neuesten Stand zu sein.

Und vielleicht hat Ricketts damit den Schlüssel zum gesunden Umgang mit unserem digitalisierten Alltag gefunden: Wenn wir Fotos machen, sollten wir das bewusst tun. Beim nächste Mal, wenn wir unsere Handys schnappen, um einen Moment für unsere Follower festzuhalten, sollten wir uns daran erinnern, dass wir dadurch selber weniger davon haben.

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