Wenn du irgendein Buch aus der Harry Potter-Reihe auf einer beliebigen Seite aufschlägst und anfängst vorzulesen, kann die 29-jährige Rebecca Sharrock aus dem Gedächtnis weitermachen. “Es gibt viele Arten von Mut”, beginne ich. Ohne Zögern führt Rebecca das Zitat aus Der Stein der Weisen zu Ende: “Es verlangt einiges an Mut, sich seinen Feinden entgegenzustellen, doch genauso viel, den eigenen Freunden in den Weg zu treten.”
Rebecca erinnert sich an jeden Moment ihres Lebens. In chronologischer Reihenfolge. Mit einer absurden Detailtiefe. Rebeccas Zustand wird als hyperthymestisches Syndrom (HSAM) bezeichnet. Sie gehört zu den ungefähr 60 Menschen weltweit, denen Ärzte dieses seltene Syndrom diagnostiziert haben. Ihre Erinnerungen bestehen aus extrem realistischen Flashbacks, die Gerüche, wortwörtliche Gesprächsfetzen und manchmal sogar körperliche Schmerzen mit sich bringen.
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Natürlich wollten wir wissen, wie Rebecca ihre Erinnerungen erlebt und wie es sich mit einem enzyklopädischen Wissen über die eigene Biografie lebt. Darum haben wir ihr einige Fragen gestellt.
VICE: Was ist deine allererste Erinnerung?
Rebecca Sharrock: Ich bin an einem dunklen Ort mit einem rötlichen Licht, mein Kopf klemmt zwischen meinen Beinen. Ich nehme an, dass diese Erinnerung aus der Zeit vor meiner Geburt stammt, aus dem Mutterleib. Die Erinnerungen in meinem Kopf sind in chronologischer Reihenfolge gespeichert. Das ist die älteste, auf die ich zurückgreifen kann.
Und welche Erinnerung hast du, sagen wir, an deinen zweiten Geburtstag?
Damals wusste ich nicht, dass ich ein Jahr älter wurde, ich wusste nur, dass an dem Tag etwas anders war. Ich erinnere mich, dass ich am Tisch vor einem Geburtstagskuchen saß. Am meisten interessierten mich die kleinen Eisenbahn-Züge aus Plastik auf dem Kuchen, nicht die Kerzen. Die Züge waren in den nächsten Monaten mein Lieblingsspielzeug.
“Ich bin an einem dunklen Ort mit einem rötlichen Licht, mein Kopf klemmt zwischen meinen Beinen. Ich nehme an, diese Erinnerung stammt aus der Zeit vor meiner Geburt, aus dem Mutterleib.” – Rebecca Sharrock wurde nicht erst mit HSAM geboren
Wie sieht deine lebhafteste Erinnerung aus?
Je weiter die Erlebnisse zurückliegen, desto lebhafter erinnere ich mich daran. Erinnerungen an Ereignisse, die noch nicht so lange zurückliegen, fühlen sich weniger tief und intensiv an.
Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie ich im Alter von drei Jahren auf meinem Bett im Haus meiner Großeltern saß. Ich fragte damals meine Mutter, was wir vor ein paar Wochen zum Abendbrot gegessen hatten. Sie antwortete: “Das weiß ich nicht, Becky, das ist sehr lange her”. Daraufhin sagte ich: “Irgendwann wird auch dieser Moment sehr lange her sein.” Und sie antwortete: “Aber dann wirst du dich nicht mehr daran erinnern.”
Wie intensiv sind deine Erinnerungen?
Ich erinnere mich an alles. Gerüche spielen dabei eine besondere Rolle. Wenn ich mich in eine bestimmte Stimmung versetzen möchte, lege ich einen Duft auf, den ich mit einer positiven Situation verbinde.
Wie wird HSAM diagnostiziert, der Zustand, wegen dem du dich so exakt erinnern kannst?
Es war ein sehr langer Prozess. Die Diagnose dauerte mehrere Jahre. Als Erstes kontaktierten meine Eltern das Stark Lab an der University of California, Irvine. Das Syndrom wurde dort 2006 entdeckt und kann nur dort offiziell diagnostiziert werden. Ich musste verschiedene Tests und Hirnscans absolvieren. Die Ärzte stellten mir zu Beginn der Testreihe bestimmte Fragen, zeichneten sie auf und baten mich zwei Jahre später, meine Antworten wortwörtlich zu wiederholen. Anfangs war ich sehr nervös. Sie sagten mir, dass die meisten Leute durchfallen, wenn sie sagen sollen, an welchem Wochentag bestimmte Ereignisse stattfanden oder was damals in den Nachrichten zu sehen war. Doch ich bestand.
War die offizielle Diagnose wichtig für dich?
Als ich das erste Mal von HSAM hörte, war ich bereits 21. Doch ich wusste schon als Teenager, dass ich anders war. Ich stellte fest, dass ich mich viel mehr auf Dinge fixierte als meine Freunde. Ich hatte ein sehr geringes Selbstbewusstsein, dachte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Vor meiner Diagnose schob ich es einfach auf die Zwangsstörung, die ich ebenfalls habe. Es war gut, endlich eine Antwort zu haben. Genauso war es auch, als bei mir Autismus festgestellt wurde.
Würdest du HSAM eher als Fluch oder Segen beschreiben?
Als eine Mischung aus beidem. Es ist ein Fluch, weil ich negative Erlebnisse nicht vergessen kann und alle Emotionen wieder durchlebe, das kann mir oft den Tag verderben. Aber ich kann auch positive Ereignisse wieder durchleben, so wie heute, wenn ich an meine Kindheit denke.
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Versuchst du, bestimmte Situationen zu vermeiden, weil du weißt, dass du dich für immer an sie erinnern wirst?
Für zukünftige Gedächtnistests muss ich über aktuelle Geschehnisse auf dem Laufenden bleiben, dazu lese ich am liebsten Zeitung. Wenn ich in den Fernsehnachrichten etwas Unangenehmes sehe, kann es mir ewig nicht aus dem Kopf gehen. Ich nehme Medikamente, um meine Angst unter Kontrolle zu bekommen. Wenn ich viel Stress ausgesetzt sein könnte, wie beispielsweise bei den Weihnachtseinkäufen, nehme ich vorbeugend eine Valium-Tablette. In der Therapie habe ich Strategien gelernt, um diese Situationen zu vermeiden. Aber manchmal geht es nicht anders.
Wie fühlst du dich, wenn Leute wollen, dass du beweist, dass du HSAM hast, indem sie dich abfragen?
Es fühlt sich ein bisschen komisch und peinlich an, als wäre ich ein Zirkustier. Manchmal hinterfragen die Leute auch, ob ich wirklich HSAM habe. Ich habe schon Nachrichten erhalten, in denen Menschen mich als Lügnerin beschimpfen.
Wenn es ein Gegenmittel gegen HSAM gäbe, würdest du es nehmen?
Forschende versuchen immer noch herauszufinden, welche Teile des Gehirns für das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis verantwortlich sind und sie suchen nach sicheren Methoden, um verschiedene Erinnerungen ein- oder auszuschalten.
Ich würde meine negativen Erinnerungen aufgeben, ohne zu zögern. Die glücklichen würde ich aber gerne behalten.