Politik

Wie diese Familie den Hamas-Angriff auf ihren Kibbuz überlebte

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Am 7. Oktober um 6:30 Uhr weckte lautes Donnern Miri Gad Messika, ihren Mann und ihre fünf Kinder.

Die Familie kannte das Geräusch der Raketen, die aus dem Gazastreifen auf Israel herabregnen. Ihr Kibbuz Be’eri liegt nur wenige Kilometer von der Sperranlage entfernt, die den kleinen Küstenstreifen umgibt. Raketenbeschuss durch die Hamas und ihre Verbündeten gehört hier zum Alltag.

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Jedes Haus in Be’eri hat einen Schutzraum und alle Bewohner haben auf ihrem Handy eine App installiert, die vor Raketen und Mörsergranaten warnt. Sie sagt einem auch, wie viel Zeit bis zum Einschlag bleibt. Wegen Be’eris Nähe zu Gaza sind es nur etwa 15 Sekunden. 

“Wir wissen, wie sich Raketen anhören. Für einen Moment dachten wir, dass es ein Gewitter sein muss”, sagt Gad Messika, die als Marketing Consultant für verschiedene Unternehmen in Israel arbeitet. “Aber dann wurde uns klar, dass noch Sommer ist und es nicht regnet. Da ging der Alarm los und wir schauten aus dem Fenster.”

Das Geräusch, von dem die Familie an diesem Samstagmorgen aufgewacht war, kam von rund 3.000 Raketen, die die Hamas und andere militante Gruppen fast gleichzeitig auf Israel abgefeuert hatten – und vom Verteidigungssystem Iron Dome, das versuchte jede einzelne abzufangen. Es war ein Geräusch, das Gad Messika in den Jahrzehnten, die sie in diesem Kibbuz lebte, nie gehört hatte. Be’eri ist eine der bekanntesten und wohlhabendsten dieser kollektiv organisierten Siedlungen Israels und beherbergt die größte Papierdruckerei des Landes. Die Familie stürmte zum Schutzraum, der gleichzeitig als Schlafzimmer der ältesten Tochter dient.

Um 6:58 Uhr sendete die Nachrichten-App des Kibbuz einen neuen Alarm: Ein Terrorist sei in die Siedlung eingedrungen. Der Familie wurde allerdings schnell klar, dass es mehrere Angreifer waren. Schwerbewaffnete Kämpfer der Hamas hatten das Sicherheitstor gestürmt und schossen auf die etwa zehn bewaffneten Kibbuz-Mitglieder, die für die Sicherheit der Siedlung verantwortlich sind. Sie sollen Angreifer eigentlich so lange in Schach halten, bis die Armee anrückt. Aber zehn Minuten später waren alle Sicherheitsleute tot. Den ersten israelischen Soldaten sollte Gad Messika erst zwölf Stunden später sehen.

Da niemand mehr da war, um sie aufzuhalten, gingen die Hamas-Terroristen methodisch von Haus zu Haus und machten Jagd auf die 1.200 Bewohnerinnen und Bewohner des Kibbuz. Die Menschen verbarrikadierten sich in Schutzräumen, versuchten, die schweren Stahltüren mit Möbeln zu blockieren. Die Islamisten machten sich gleichzeitig daran mit Waffengewalt zu ihnen durchzudringen. Bei vielen gelang es ihnen.

Gad Messika hat die Nachrichten aus dem Kibbuz-Chat noch auf ihrem Handy. Sie zeigen die Todesangst und die Verzweiflung ihrer Nachbarn. Besonders tragisch sind die letzten Nachrichten, die sie verschickten, als sie zusammen mit den Menschen um sie herum getötet wurden.

“Ganze Familien wurden ausgelöscht”, sagt Miri Gad Messika. Wir unterhalten uns in der Lobby des David Hotel, einem Ressort am Toten Meer, in dem auch andere Überlebende des Hamas-Überfalls untergebracht wurden. Sie scrollt auf ihrem Handy durch eine schier endlose Abfolge von Hilferufen, Berichten von Ermordungen und plötzlicher Stille, wenn die Absenderinnen und Absender selbst getötet wurden.

Junge Siedler gründeten Be’eri 1946, also zwei Jahre vor der Gründung des Staates Israel. Der ursprünglichen Kibbuz-Idee ist er bis heute in Teilen treu geblieben. Es ist eine kollektiv organisierte Gemeinschaft, in der alle ihren Lohn teilen. Außerdem teilen sich die Bewohnerinnen und Bewohner die Hausarbeiten, erziehen gemeinsam die Kinder und teilen sich Häuser. Dieses enge Gemeinschaftsgefühl reicht inzwischen vier Generationen zurück. Nur selten werden neue Mitglieder aufgenommen.

“Vielleicht kommt alle fünf Jahre eine neue Familie hinzu”, sagt Gad Messika. “Auch deswegen verstehen wir uns alle als große Familie, die seit Generationen zusammen lebt und arbeitet.” 

Hier in der Lobby des Hotels, das jetzt rund 700 Überlebende des Angriffs beherbergt, kennt Miri Gad Messika wortwörtlich jeden und jede: Der neunjährige Junge, der hier in der Lobby mit einem Roller rumfährt, habe sich sechs Stunden mit seinem zwölfjährigen Bruder im Gebüsch versteckt. Beide haben mitansehen müssen, wie ihre Eltern hingerichtet wurden. Da ist eine Frau, eine Freundin von Gad Messika, deren Mann seit dem Überfall vermisst werde. Wahrscheinlich wurde er von der Hamas nach Gaza verschleppt. Und dann ist da noch die Nachbarin, der sie und ihre Familie ihr Leben verdanke.

Foto von Menschen, die sich an den Händen halten, dazu ist die Uhrzeit 7:41 eingeblendet
Miri Gad Messika hält die Hand eines ihrer Kinder im Schutzraum | Foto mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt

Anfangs zählt Gad Messika noch mit ruhiger Stimme die ganzen Nachbarn auf, die getötet worden seien. Dann schlägt ihre Stimmung aber in Wut und Frustration um.

“Nicht getötet”, korrigiert sie sich. “Sie wurden ermordet. Nicht getötet. Ermordet. Und nicht von Tieren, Tiere töten, um zu überleben. Sie waren gekommen, um Frauen zu vergewaltigen und sie dann vor ihren Familien zu erschießen, um Menschen stundenlang zu schlagen und zu erniedrigen und dann umzubringen. Das hatte nichts mit Politik zu tun, das war kein Krieg, das war pure Grausamkeit und Mord. Diese Leute – und ich spreche hier nicht von Palästinensern, die meisten wollen einfach überleben und ihr Leben leben. Wir sind Linke, die schon immer das Ende der Besatzung unterstützt haben – diese Leute wollen uns tot sehen, sonst nichts. Und Menschen auf der ganzen Welt halten sie für Helden.” 

Forensiker der israelischen Armee sagen, dass sie bei den rund 1.400 Opfern des Hamas-Überfalls mehrfach Anzeichen für Folter, Vergewaltigungen und anderen Missbrauch festgestellt hätten. Auch Mitglieder des religiösen Freiwilligendienst ZAKA, die sich unter anderem darum kümmern, dass Terroropfer nach dem jüdischen Glauben mit allen Körperteilen beerdigt werden können, berichten von schrecklichen Szenen an den Schauplätzen des 7. Oktobers.

Es war der tödlichste Angriff in der Geschichte Israels. Seit der Shoah sind nicht mehr so viele Juden an einem Tag umgebracht worden. Als Reaktion auf den Hamas-Überfall fliegt das israelische Militär seit dem 7. Oktober Luftangriffe auf Ziele im dicht besiedelten Gazastreifen und hat ihn komplett abgeriegelt, den Strom abgestellt und die Wasserversorgung eingeschränkt. Nahrung, Medikamente und Treibstoff sind knapp. Die Gesundheitsversorgung steht kurz vor dem Zusammenbruch. Seit Beginn der Luftangriffe sind laut Hamas bislang über 3.500 Menschen im Gazastreifen gestorben, etwa 13.000 wurden verletzt. Über den Grenzübergang Rafah sollen jetzt erste Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen.

Nach der Explosion an einem Krankenhaus in Gaza-Stadt, für die sich Hamas und Israel gegenseitig die Schuld geben, ist es weltweit zu Ausschreitungen und heftigen Protesten gegen Israel gekommen. Im Berliner Stadtteil Neukölln lieferten sich propalästinensische Demonstrierende die zweite Nacht in Folge Straßenschlachten mit der Polizei. Seit den Luftangriffen auf Gaza kommt es in ganz Europa vermehrt zu Angriffen auf jüdische Einrichtungen. In Berlin verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf eine Synagoge.

Israel selbst ist seit über einem Jahr innenpolitisch zerstritten. Das liegt vor allem an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der immer wieder mit sehr knapper Mehrheit ins Amt gewählt wurde und bis zum Anschlag mit einer rechtsextremen Koalition regierte. Diese hatte in den vergangenen Monaten versucht, eine Justizreform durchzusetzen, was zu Massenprotesten im ganzen Land führte. Die Vorfälle von letzter Woche haben Israel aber wieder geeint.

Auch Gad Messika sagt, sie sei überwältigt vom Mitgefühl und der Unterstützung, die sie von allen Seiten des politischen Spektrums erhalte. Trotzdem sind viele Israelis wütend auf Netanjahu und seine Regierung, die weder den Angriff verhindern konnte, noch eine politische Lösung anbietet, die zu einer langfristigen Befriedung beitragen könnte. Die Menschen werfen Netanjahu auch vor, dass die umstrittene Unterstützung seiner Regierung für die illegalen Siedlungen im Westjordanland dazu geführt habe, dass nicht genug Soldaten zum Schutz der Menschen in Südisrael zur Verfügung standen.

Be’eri war auch das Zuhause der 19-Jährigen, die in den vergangenen Tagen mit einem Video viral ging, weil sie nach dem schrecklichen Angriff nach einer politischen Lösung anstelle von Rache rief.

“Wie soll ich morgens aufstehen, wenn ich weiß, dass 4,5 Kilometer vom Kibbuz Be’eri in Gaza Menschen sind, für die dieses Ereignis noch nicht beendet ist. Für mich war es nach zwölf Stunden vorbei, weil es einen Ort gab, an den wir evakuiert werden konnten”, sagt sie in dem Video. “Diejenigen, die von Rache reden, sollten sich schämen. Ich verliere nach allem, was ich durchgemacht habe, jedes Mal so viel Energie, wenn ich das Wort ‘Rache’ höre.”

Sechs Stunden harrte die Gad-Messika-Familie im Schlafzimmer ihrer ältesten Tochter aus, ohne Wasser, Nahrung oder eine Toilette. Sie musste mitanhören, wie ihr Nachbar im Erdgeschoss die Terroristen angefleht hatte, alles mitzunehmen, aber ihn zu verschonen. Seine Bitte wurde mit Schüssen beantwortet.

“Es wurde bislang keine Leiche geborgen oder identifiziert”, sagt die Mutter. “Vielleicht wird er in Gaza als Geisel festgehalten.” Laut der israelischen Armee wurden 203 Menschen von der Hamas nach Gaza verschleppt. Die islamistische Organisation sagt, 22 Geiseln seien bislang durch israelische Luftangriffe ums Leben gekommen.

Die Terroristen versuchten in Be’eri auch, die Sicherheitstür einzubrechen, hinter der sich Miri Gad Messika und ihre Familie versteckt hatten. Sechs Stunden blockierte der Vater die Klinke mit einem Gürtel. Die Angreifer schossen immer wieder dagegen, aber die Tür blieb standfest. Dann erschütterte eine Granate das Haus. Kurz darauf folgte Tränengas.

Ein Mann sitzt mit einem T-Shirt über das Gesicht gezogen auf dem Boden eines Zimmers und hält einen Gürtel, der an einer Türklinke befestigt ist
Der Familienvater hält mit einem Gürtel die Tür zum Schutzraum zu | Foto mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt

“Wir rangen nach Luft, unsere Augen brannten, aber wir hatten kein Wasser – nur eine kleine Sprühflasche, die meine Tochter für ihre Haare benutzte”, sagt Gad Messika. “Ich benetzte damit unsere Münder und T-Shirts, die wir als Masken benutzten. Aber dann merkten wir, dass das Haus brannte. Sie hatten es angezündet.”

Als sich das Zimmer über die Klimaanlage mit Rauch zu füllen begann, musste die Familie eine Entscheidung treffen. Hamas-Kämpfer waren auf den Dächern, legten Feuer und warteten darauf, dass die Bewohner aus ihren Häusern flohen, um sie dann mit Sturmgewehren und Granaten zu massakrieren. Als die Stahltür dann aber so heiß wurde, dass man sie nicht mehr berühren konnte, sah die Familie keinen anderen Ausweg, als durch das Fenster aus dem ersten Stock auf die Straße zu springen, wo weiterhin Dutzende Hamas-Terroristen Jagd auf ihre Nachbarn machten.

“Wir beschlossen, dass die Terroristen nicht länger auf den Dächern waren. Mein Mann ist dann als erstes runtergesprungen”, sagt Gad Messika. “Dann die jüngsten Kinder, dann mein ältester Sohn und dann ich.”

Ein Foto mit Blick aus einem Fenster auf ein Haus gegenüber, um das herum es brennt
Screenshot von einem Video, das die Familie gemacht hat, bevor sie aus dem Fenster floh | Bild mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt

Ihr Mann, ein Tierarzt, hat die vergangene Woche damit verbracht, an den Schauplätzen der verschiedenen Angriffe nach entlaufenen und verwaisten Haustieren zu suchen, um sie zu behandeln und zu retten. Am Mittag des 7. Oktober versuchte er, seine Kinder zu fangen, die aus dem brennenden Haus sprangen, während Terroristen nur einen Block weiter ihre Nachbarn ermordeten. 

Der 15 Jahre alte Sohn brach sich bei der harten Landung den Fuß. Die siebenköpfige Familie war jetzt komplett ungeschützt. “Unsere Nachbarn sahen uns und kamen aus ihrem Haus, um uns zu retten und zu sich reinzuholen”, sagt Gad Messika. “Sie retteten uns das Leben und setzten dabei ihr eigenes aufs Spiel. Ich werde ihnen nie angemessen dafür danken oder es ihnen zurückzahlen können, stattdessen sage ich jetzt, dass sie für immer Teil meiner Familie sein werden.”

Die Nachbarin, die sie gerettet hat, ist eine Frau mittleren Alters. Wir sehen uns in der Hotellobby, sie stellt sich nicht vor, lächelt nur gezwungen und schüttelt meine Hand. Dann flüstert sie Miri Gad Messika ein paar Worte zu und geht wieder. In den Tagen nach dem Angriff habe die Nachbarin erfahren, dass ihr Bruder und seine Frau vor den Augen ihrer Kinder ermordet wurden, als diese sich im Gestrüpp versteckten, sagt Gad Messika. Eins dieser Kinder ist der Neunjährige, der in der Lobby auf dem Roller spielt.

In Be’eri harrte die Familie noch einmal sechs Stunden mit den Nachbarn zusammen aus. Immer wieder riefen sie die Polizei, den Rettungsdienst, die Feuerwehr und die Armee. Jedes Mal bekamen sie die Anweisung, an Ort und Stelle zu bleiben. Es werde bald jemand kommen, um sie zu retten.

“Einige der Terroristen trugen IDF-Uniformen. Deswegen hatten wir Angst, die Türe zu öffnen. Aber dann bekamen wir ein Codewort auf WhatsApp geschickt, mit dem sie beweisen konnten, dass sie Israelis sind”, sagt Gad Messika. “Aber selbst als wir das Codewort hörten, hatten wir Angst. Also sind erstmal die Männer rausgegangen, um nachzuschauen. Aber sie waren echt. Wir waren gerettet.”

Andere Überlebende mussten über einen Tag auf diesen Moment warten, weil um sie herum noch gekämpft wurde. Die meisten Häuser des Kibbuz brannten nieder. “Eine 80 Jahre alte Frau wurde 36 Stunden später auf einer Straße gefunden. Sie war barfuß, dehydriert und ausgehungert”, sagt Gad Messika.

Von den 1.200 Mitgliedern des Kibbuz sind lediglich 700 im Hotel am Toten Meer. Über 100 Menschen wurden getötet, viele werden noch vermisst und sind möglicherweise als Geiseln nach Gaza verschleppt worden. 

Wie durch ein Wunder überstand Gad Messikas direkte Familie den Angriff relativ unbeschadet. Ihr Sohn muss am Fuß operiert werden, was bedeute, dass ihr Mann einen Tag die Tiere sich selbst überlassen müsse, um seinen Sohn ins Krankenhaus in Tel Aviv zu begleiten, sagt die Mutter schmunzelnd.

Ein Teenager sitzt mit vergipstem Fuß auf einem Krankenhausbett
Miri Gad Messikas Sohn im Krankenhaus | Foto mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt

Ob sie jemals zum Kibbuz zurückkehren kann, weiß sie nicht. Es ist unklar, ob die Gemeinschaft überhaupt weiter bestehen wird. Ihre Familie hat seit vier Generationen dort gelebt. Gad Messika sagt, jedes Kibbuz-Mitglied wird individuell entscheiden, ob es zurückkehrt oder nicht.

“Es ändert sich von Minute zu Minute bei mir”, sag Gad Messika. Momentan sei es schwer für sie, die ganzen Gefühle zu verarbeiten. “Andere werden ihre eigenen Entscheidungen basierend auf ihren eigenen Gefühlen treffen müssen.”

“Aber wir haben überlebt und wir leben. Sieh dich in der Lobby um”, sagt sie und zeigt auf Kinder, die laut spielen, Menschen, die verhalten lächeln und andere, die sogar über einen Journalisten witzeln, er würde mit seiner ganzen Höflichkeit einen schrecklichen Israeli abgeben.

“So überlebt man”, sagt Miri Gad Messika, “indem man füreinander lebt und füreinander da ist.”

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