Nie hätte ich gedacht, dass ich wegen meinem eigenen Bruder mal die Polizei rufen muss. An das Blaulicht, die Uniformen und den Einsatzwagen, in den sie ihn unter wütendem Geschrei verfrachtet haben, kann ich mich aber immer noch viel zu deutlich erinnern. Lange ist das nicht her.
Rückblickend lässt sich nicht sagen, wann seine Drogenexperimente diesen destruktiven Unterton annahmen. Richtig eskalierte es im vergangenen Jahr, aber auch schon vorher gab es Problem. Etwa seit 2010. Damals war er in der elften Klasse und hatte unsere Schule wegen einer Auseinandersetzung mit einem anderen Schüler verlassen müssen. Es war um ein bisschen Geld oder ein bisschen Gras gegangen. Vielleicht auch um ein bisschen von beidem.
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Wenn ich etwas von der Arbeit meiner Mutter in der Drogenberatung gelernt habe, dann dass es mehr schadet, als nutzt, einen Schüler für Drogenbesitz hart zu bestrafen. Und nein, die Ironie ist uns nicht entgangen, dass meine Mutter in der Drogenberatung arbeitet. Ihr am allerwenigsten. Sobald Familie ins Spiel kommt, tut der Beruf kaum etwas zur Sache. Meine Eltern, besonders meine Mutter, ringen jeden Tag mit dem, was aus professioneller Sicht langfristig das Richtige wäre, während sie gleichzeitig versuchen, sich etwas von ihrem alten Sohn zu bewahren.
Der aber entgleitet ihnen – und das schon eine ganze Weile.
Kurz nach seinem 18. Geburtstag wurde mein Bruder für den Verkauf einer illegalen Substanz verhaftet. Er kam ohne Vorstrafe davon – ein Privileg, das nicht alle jungen Menschen in unserem Viertel genießen. Das hatte er natürlich auch meiner Mutter zu verdanken, die sich sehr gut mit dem System auskennt. Er musste ein paar Sozialstunden leisten, aber das war’s. Danach schien es, als würde er sich bessern. Er bekam einen Job, der ihm Spaß machte, und beteiligte sich am Familienleben und im Viertel.
Irgendwann langweilte ihn das anscheinend und er suchte sich etwas anderes.
Er war immer sehr impulsiv und hat sich exzessiv in Sachen gestürzt, nur um sie wenig später an den Nagel zu hängen. Aber Crystal funktioniert anders als Malerei, Kampfsport, ein Instrument zu lernen oder jede andere seiner früheren Leidenschaften. Und noch viel mehr trifft das zu, wenn du Crystal so regelmäßig nimmst, dass du eine Abhängigkeit entwickelst. Irgendwann macht sich diese Abhängigkeit bemerkbar. Du nimmst ab, wirst paranoid, vergesslich und aggressiv.
In unseren grundverschiedenen Persönlichkeiten ergänzten wir uns als Kinder perfekt. Nach dem ersten Schock, nicht mehr alleinigen Anspruch auf die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Eltern zu haben, kam die schöne Erkenntnis, dass mir die Rolle der großen Schwester super lag. Ich hatte gerne jemanden, auf den ich aufpassen und dem ich die Welt zeigen konnte. Genauso wohl fühlte er sich in der Rolle des kleinen Bruders. Die ersten gemeinsamen Jahre unseres Lebens waren wir ein vorlautes und vor allem unzertrennliches Duo. Außer uns selbst brauchten wir nicht viel. Unsere Eltern waren nicht wohlhabend, aber es fehlte uns an nichts. An ihrem Arbeitsplatz hat meine Mutter ein Foto von uns. Es ist vom Tag meiner Einschulung. Mein Bruder war in meinen Ranzen geklettert und hatte eisern darauf bestanden, mitzukommen.
Als er aber schließlich zu mir auf die Schule kam, zeigte sich schnell, dass er sich dort nicht so wohl fühlte wie ich. An einen Tag erinnere ich mich besonders gut. Er war in der ersten und ich in der dritten Klasse, als ihn ein Junge aus meinem Jahrgang in der großen Pause hänselte und schubste. Als ich das quer über den Hof sah, sprang ich, wie es sich für eine große Schwester gehört, vom Klettergerüst und marschierte zu dem Jungen rüber, um ihm eine Lektion zu erteilen. Leider ging die Aktion nach hinten los. Bevor ich mich versah, war ich auf dem Schotterplatz hinter dem Toilettenhäuschen in eine fiese Prügelei verwickelt. So bin ich halt schon immer gewesen: immer schnell zur Stelle, um die Menschen, die mir etwas bedeuten, zu verteidigen und sturköpfig zu unterstützen. Ganz besonders meinen Bruder. Dass das auch manchmal ein Fehler sein kann, wurde mir irgendwann vor Augen geführt.
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Vielleicht habe ich deswegen Jahre gebraucht, um an den Punkt zu kommen, an dem ich jetzt bin. Langsam finde ich mich mit der Vorstellung ab, dass ich mich von meinem Bruder lösen muss – der Person, der ich am meisten helfen will –, um mein eigenes geistiges und emotionales Wohlbefinden zu schützen. Der Weg dorthin war langwierig. Immer wenn ich etwas zu dem Thema las, handelte es mit einer Ausnahme davon, wie man seine Geschwister am besten dabei unterstützt, von ihrer Sucht loszukommen. Dazu, wann man sich besser zurückzieht und den Kontakt abbricht, gibt es keinen Rat.
Das Problem ist aber, dass nicht jeder Abhängige seine Sucht überwinden will – egal, wie oft die Person im Krankenhaus, auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens oder vor einem Richter landet.
Lange klammerte ich mich an den Glauben, dass die Lösung der Misere darin liegt, meinem Bruder genug Liebe und Unterstützung zu schenken. Wenn solche Hilfsmaßnahmen sein Verhalten aber nur verstärken, ist irgendwann klar, dass sich nichts ändern wird – da kannst du noch so aufopferungsbereit sein.
In den allermeisten Texten darüber, wie sich eine Sucht auf Angehörige und Nahestehende auswirkt, bekommt man eins von zwei Szenarien präsentiert: entweder die Rehabilitationsphase nach der Sucht oder die Resignation nach einem letzten, abschließenden Verlust – in der Regel ein Todesfall. Zwischen diesen beiden Polen allerdings irgendwo im Niemandsland festzuhängen und nicht zu wissen, wo die ganze Sache hinführt, kann dich überfordern. Ich bin jetzt Mitte 20 und habe einen Bruder. Nur gerade fühle ich mich mehr wie ein Einzelkind. Mein kleiner Bruder ist nicht mehr mein Bruder.
Meinen echten Bruder habe ich seit Monaten nicht gesehen – eigentlich sogar seit Jahren. Die Person, die eines Morgens durch mein Esszimmerfester kletterte, als ich mich gerade für die Arbeit fertig machte, und sich weigerte, mein Haus zu verlassen, bis ich die Polizei rief, diese Person … das ist nicht mein Bruder. Mein Bruder ist aufmerksam, eigensinnig, schlau und entschuldigt sich selten. Aber abgesehen von Letzterem ist die Person, die dort in meinem Esszimmer hockte, so weit entfernt von der, mit der ich aufgewachsen bin, dass ich sie noch nicht mal beschreiben kann. Selbst seine Haut sieht krank aus. Einen Menschen nicht wiederzuerkennen, den du einmal gekannt hast wie deine Westentasche, ist unheimlich. Noch unheimlicher ist allerdings, nicht zu wissen, ob sich das jemals wieder ändern wird.
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