Ist Popmusik daran schuld, dass Teenager immer frühreifer werden?

Wenn ich mich selbst im Alter von 13 Jahren in Erinnerung rufe und an meine kleine Schwester denke, daran, wie sie in diesem Alter so gewesen ist, dann entstehen zwei verschiedene Weltbilder. Uns trennt zwar noch immer ein ganzes Jahrzehnt (was das Alter betrifft), aber auf geistiger Ebene trennt uns fast gar nichts mehr, denn sie wurde früher erwachsen und ich damals erst viel später.

Ich hab darüber nachgedacht, was damals ihre Beweggründe waren, schneller alt zu werden, denn ich habe gemerkt, dass dieser Drang bei ihr groß war. Ich erinnere mich daran, dass wir oft in ihrem Zimmer MTV geschaut haben und ihr Girl-Bands wie Danity Kane aufgefallen sind. Es war das Video zu “Show Stopper”, das unsere gemeinsame Aufmerksamkeit erregt hatte. Uns beide hatte dieses Video angesprochen. Trotz der Altersunterschiede. Ich fand es für mich und meinen Erfahrungen entsprechend und meine Schwester kannte es einfach nicht mehr anders.

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Meine kleine Schwester ist von schönen Frauen genauso angetan wie ich, wir bewundern beide gerne “erfolgreiche” und hübsche Frauen. Generell, so vermute ich das jetzt, ist es des Menschen Natur, auf andere hinauf zu schauen und/oder bewundernswerten Menschen nachzueifern. Weshalb mich diese Erinnerungen hinterfragen lassen, ob es vielen Jugendlichen so gegangen sein könnte wie meiner Schwester, wenn sie Musikvideos schauen. Ob ihnen diese Bilder die Idee in den Kopf einpflanzen, es schnell nachzueifern. Denn das tun Kinder ja schon ganz früh. Es gibt abertausende YouTube-Clips, in denen man kleine Mädchen oder Jungs sieht, die die ganz Großen nachahmen. Sowie in den 90ern es sogar eine ganze Show darüber gab, nämlich die “Mini Playback Show“.

Und sexy waren ein paar Interpreten immer schon, aber die Botschaft, die sie vermitteln wollten, war nicht immer eine sexuelle. Denkt doch mal an die Spice Girls – die Heldinnen meiner Zeit: Die Kleidung war extrem knapp und die Schuhe überdimensional hoch, aber die Message war “Girl Power” und nicht der Koitus.

Ich habe mich dafür mit Mag. Philipp Ikrath von der Jugendforschung in Wien und Vorsitzenden des Vereins jugendkulturforschung.de getroffen, um mich mit ihm über dieses Thema zu unterhalten.

Die wöchentliche Bravo VS Internet

Ist das Internet schuld? Denn vor Youporn und/oder Pornhub, waren es vielleicht die Dr. Sommer-Seiten in der Bravo oder die versteckte Porno-VHS von den Eltern, die den Jugendlichen den Usus der Sexualwelt nahegelegt haben. Mit dem Internet wurde der Zugriff auf diese gesunde Neugierde um einiges vereinfacht. Und wie bleibt man jemandem im Gedächtnis, der de facto schon alles gesehen hat?

Als Britney Spears 1999 in Print-Ausgaben der Bravo und der Popcorn stets beteuerte, dass sie mit 18 noch eine Jungfrau sei, waren das unheimlich delikate Neuigkeiten. Damals war das Internet nicht ansatzweise mit heute zu vergleichen. Auch vier Jahre später, als der Kuss mit Madonna bei den VMAs stattfand, war es nicht unbedingt einfach, Videomaterial davon ausfindig zu machen. YouTube gibt es erst seit 2005. Ich kann deswegen, ohne darüber nachzudenken, behaupten, dass meine Jugend definitiv sex-freier war als für Personen, die vielleicht nur vier Jahre jünger sind als ich. In Österreich gibt es erst seit 1992 kommerzielles Internet, ich hatte 1997 meine ersten Berührungen damit. Ich weiß noch, wie ich bei Yahoo! nach Spice Girls-Bildern gegoogelt (haha) habe und bis ein Bild vollkommen angezeigt wurde, mehrere Minuten vergingen.

Weshalb das Konzept um die Pussycat Dolls ein paar Jahre später ein bisschen mehr auf Sex setzen musste. Eigentlich hat es komplett auf Sex gesetzt. Denn wie schon erwähnt: Was verkaufst du Leuten, die schon alles gesehen und erlebt haben? Genau, etwas, wovon man nie genug haben kann: Sex.

Sie trällern zwar, dass sie keinen Mann brauchen, um sich selbst als ein Ganzes zu sehen, transportieren dies allerdings halbnackt und räkelnd in ihrem Video zu dem Lied. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Musik eher mithilfe einer gewissen Ästhetik verkauft werden wollte.

Natürlich werden nicht nur neugierige Jugendliche von solchen Bildern angezogen: “Es gibt eine allgemeine Entwicklung, die wir als die Ausdehnung der Jugendphase bezeichnen”, sagt Phillip Ikrath von der Jugendforschung Wien. “Das heißt, auf der einen Seite sind die Leute immer länger jugendlich und fühlen sich auch mit Mitte 20 noch nicht erwachsen, auf der anderen Seite fängt die Jugend aber auch immer früher an – auch körperlich. Das Körperliche ist in dem Fall auch nicht so wichtig, da geht es eher um die Jugendkultur in einem weiteren Sinne. Und was denen da eben vorgesetzt wird, sind Klischee-Bilder von Jugendlichen. Die Jugend wird für die Menschen zu einem totalen Fluchtpunkt.”

Frühreife Jugendliche sind vielleicht das Ziel der Musikindustrie

Aus dem Gespräch kristallisiert sich zudem heraus, dass Philipp der Meinung ist, dass die Elf- bis Zwölfjährigen die vermeintliche Zielgruppe der Pop-Industrie geworden sein könnten. Vor zehn Jahren stand einem Kind nicht so viel Geld zur Verfügung wie heute. Statt Süßigkeiten sollen diese ihr Geld für diverse Merchandise-Sachen oder Kulturgüter der jeweiligen Popstars investieren.

Mit den Bildern “Wir sind begehrenswert und beliebt”, die gestreut werden, generieren sie dadurch die Zielgruppe, die sie brauchen. “Es ist die populäre Musik, die ihnen eine Jugendlichkeit attestiert – der ökonomische Aspekt spielt eine ganz wichtige Rolle und der fördert eben diese [psychologisch-frühreife] Entwicklungen. Es wird einfach suggeriert, dass es erstrebenswert ist, die Phase der Kindheit hinter sich zu lassen und bitte in ein Jugendalter einzutreten”, sagt Philipp. Nach seinen Beobachtungen sind die Jugendlichen “keine Fans mehr von irgendwas“, sondern haben der Musik gegenüber mittlerweile eine Konsum-Mentalität, sie soll für sie kein starker Orientierungspunkt mehr sein – dadurch stürzt sich die Musikindustrie eventuell auch auf das prä-pubertäre Alter. “Die sind [seit dem Internetzeitalter] eine treuere Konsumentengruppe und deswegen für das Musikbusiness interessanter”, sagt Philipp weiter.

Zynismus kann dadurch die Auswirkung dieser neuen sexuellen Vorbilder sein

Wenn sich Miley Cyrus also in ihrem Video räkelt und damit bei jugendlichen Burschen Zuspruch findet, entwickelt sich daher bei vielen jugendlichen Mädchen der Wunsch, genauso beliebt zu sein. Verlieben tun sich ein paar Mädchen schon in der Volksschule zum ersten Mal und Popstars sind vor allem in Fragen der Ästhetik große Vorbilder.

“Wir müssen also verstehen, dass die Medien nicht nur neutrale Träger von Informationen sind, sondern dass sie darauf Einfluss nehmen, wie Realität wahrgenommen wird und auch auf die Form, wie das Reale ausgedeutet und das Leben gelebt wird”, schreibt Mag. Bernhard Heinzlmaier, in seinem Dossier “Mediensozialisation in der Postmoderne“.

Dann wiederum ist eine Miley Cyrus oder Justin Biebers Penis für die Jugendlichen von heute aber auch nichts Skandalöses – nicht so wie zu meiner Zeit die Tatsache, dass Britney doch keine Jungfrau mehr ist. Bei einer Untersuchung der Jugendforschung wurden Volksschulkinder gebeten, zu sagen, was sie im Internet nicht mehr sehen möchten, erzählt mir Phillip von der Jugendforschung. Rausgekommen sind Menschen im Doggystyle, abgetrennte Köpfe, Blut, Erschießungen und Ähnliches. Schockiert waren sie aber weniger von diesen Eindrücken, weil sie schon ganz früh Schlimmeres gesehen haben.

Somit sind sie schon extrem früh aufgeklärt, meint Philipp: “Vielleicht ist das die positive Seite vom Verschwinden der Kindheit, dass die Leute eben schon früh mit Dingen konfrontiert sind, mit denen sie nicht konfrontiert sein sollten, dass sie dadurch notwendigerweise eine Distanz zu den Dingen aufbauen und in der Lage sind, das bis zu einem gewissen Grad auch zu reflektieren. Deutschrap zum Beispiel, ist ein eingefahrenes Genre, da geht’s halt immer um das Gleiche. In dieser Gangsterschiene und auch auf der musikalischen Schiene. Neuere [Interpreten] wie LGoony und Yung Hurn machen das in einer total ironisierenden Weise. Das wird auch Mainstream, weil die plakativen Botschaften verschwinden. Oder Hustensaftjüngling, der nennt sich so, das ist reine Ironie und die hat dann eben diese Ästhetik.”

Ebenso soll der Musikbegriff der Jugendlichen von heute ein eher instrumenteller geworden sein – die Musik ist im Raum, aber selten im Herzen. Der humanistisch-idealisierter Kunstbegriff ist dabei nicht mehr im Vordergrund. Die Jugend glaubt nicht mehr daran, dass Kunst etwas verändern kann, befürchtet Philipp.

Der Konsum von Musik wurde also ein anderer

“Die Leute gehen mit Musik heute so um, wie die Amerikaner mit Psychopharmaka, je nach Anlass und Situation, was die Stimmung aufhellt oder runter bringt – aber mehr ist das nicht”, sagt mir Philipp und ich werde etwas traurig. “Ich habe überhaupt den Eindruck, dass der Mainstream inzwischen eine Frage der Ästhetik geworden ist. Ich würde auch bezweifeln, dass diese Leute bei den Texten noch zuhören”, sagt er weiter.

Irgendwie bin ich gerade sehr glücklich darüber, in einer Zeit groß geworden zu sein, in der ich einen ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen musste, um meine Lieblings Musikvideos auf eine Videokassette aufzunehmen. Wie es eben ein großer Fan gerne getan hat.

Ich bin auch froh, dass nicht alle Informationen sofort einzusehen waren und ich mit gewissen Geheimnissen auskommen musste, bis ich selbst in der Lage war, sie zu lüften. Viele schätzen vermutlich nicht, wie heilig ein “Unwissen” sein kann, es hat uns von dieser Langeweile bewahren können, der von heute, weil uns selten noch etwas überraschen kann. Schon als junges Mädchen war ich dem Erwachsensein gegenüber sehr skeptisch und habe die Eile zum Großwerden bei meinen (damals schon 13-14 Jahre alten) Freundinnen nie verstanden, ich hatte nicht das Bedürfnis, es ihnen somit gleichzutun.

Ich habe ihnen immer gesagt: Wir sind nur jetzt Kinder und dann für den Rest unseres Lebens Erwachsene, warum beeilt ihr euch so?

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