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Gedächtnis

Wir haben mit einem Neurowissenschaftler über das Vergessen geredet

Warum kann man seinen Ex nicht einfach vergessen? Und wie lernt man, den Haustürschlüssel nicht immer zu verlegen?
Roland Benoit: privat || Gehirn: imago | Science Photo Library || Hintergrund:  imago | Westend61 || Montage: VICE

Am schlimmsten ist es mit den Namen. Wie hieß noch der Eine, der Blonde, den ich schon mindestens dreimal nach seinem Namen gefragt habe? Beim vierten Mal wird es peinlich.

Mein Gedächtnis ist schlecht. Und merkt sich grundsätzlich die falschen Dinge. Super merken kann ich mir: dass die ursprüngliche Supermarkt-Banane in den 50er Jahren plötzlich und weltweit an einem Pilz zugrunde ging und wir heute eine Neuzüchtung essen. Dass Schnabeltiere keinen Magen haben. Und dass der Mann mit dem längsten Bart der Weltgeschichte gestorben ist, weil er über eben diesen Bart gestolpert ist.

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Nicht merken kann ich mir: Namen, den Aufenthaltsort meines Haustürschlüssels, die richtige Antwort auf die Fragen in meiner Uniklausur.

Warum ist das so?

Roland Benoit leitet die Forschungsgruppe "Adaptives Gedächtnis" am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Er kann erklären, wie unser Gedächtnis funktioniert – und warum Vergessen auch eine gute Sache sein kann.

VICE: Ich verbringe viel zu viel Zeit damit, darüber nachzudenken, wo zum Teufel ich schon wieder meinen Haustürschlüssel hingelegt habe. Warum bin ich so vergesslich?
Roland Benoit: Die Frage ist immer: Wie stark ist die einzelne Erinnerung? Wir erinnern uns an unterschiedliche Dinge unterschiedlich gut. Wenn wir etwas keine Aufmerksamkeit schenken, dann vergessen wir es auch sehr leicht. Emotionale Situationen merken wir uns besonders gut, ebenso wie Fakten, auf die wir uns speziell konzentrieren.

Sie wollen sagen, ich bin einfach unaufmerksam?
Das ist möglich, ja.

Verdammt!
Vergessen hat einen schlechten Ruf. Wir denken dabei an Fragen wie "Wo ist nur wieder mein Schlüssel?" oder "Wann hat nochmal mein Kumpel Geburtstag?". Aber Vergessen erfüllt durchaus eine positive Funktion. Und wir haben herausgefunden: Man kann das Vergessen auch aktiv steuern.


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Inwiefern?
Jeder kennt diese Situation. Man wacht morgens auf und plötzlich schießt einem aus dem Nichts die peinliche Situation von der Party gestern Abend durch den Kopf und man versucht, das ganz schnell wieder zu unterdrücken. Offenbar scheint das zu funktionieren: Es scheint, als sei es tatsächlich möglich, durch das aktive Unterdrücken einer Erinnerung den Gedächtnisprozess zu stoppen. So weit, dass die Erinnerung dann tatsächlich in Vergessenheit gerät.

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Was passiert denn in meinem Kopf, wenn ich mich an etwas erinnere?
Das kommt darauf an. Es gibt nicht nur ein Gedächtnis. An Fähigkeiten, also beispielsweise Schreiben, Fahrradfahren und Klavierspielen, erinnert man sich anders als an Situationen, die man erlebt hat. Letztere werden "episodisches Gedächtnis" genannt.

Es gibt im Gehirn eine Struktur, den Hippocampus, in dem ein Teil der Erinnerung gespeichert wird. Das muss man sich so vorstellen: Wenn wir etwas erleben, dann führt das dazu, dass Neuronen feuern und bestimmte Verknüpfungen bilden. Es entsteht gewissermaßen ein Muster. Und wenn wir uns erinnern, versucht unser Gehirn, die gleichen Neuronen zum Feuern zu bringen, also quasi das Muster nachzubilden.

Und wenn ich mich nicht erinnern möchte?
Dann sendet das Gehirn ein Störsignal, das die Neuronen am Feuern hindert. Und offenbar führt dieses Signal dazu, dass wir die Erinnerung nicht nur in diesem Moment unterdrücken können, sondern auch in der Zukunft. Man vergisst das Erlebnis tatsächlich.

Ich erinnere mich aber noch an ziemlich viele peinliche Erlebnisse. Was kann ich dagegen machen?
Im Endeffekt gibt es zwei Methoden, eine ungeliebte Erinnerung loszuwerden: Verdrängung und Ablenkung. Also bildlich gesprochen: Wenn man merkt, dass man auf eine Erinnerung zufährt, kann man entweder bremsen – also die Erinnerung unterdrücken, wir nennen das Abrufunterdrückung – oder Abbiegen, also schnell an etwas Anderes denken. Natürlich ist nach dem ersten Mal die Erinnerung noch nicht weg, aber jedes Mal, wenn wir das machen, verblasst sie ein wenig.

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Es nicht immer sinnvoll, alles Negative zu unterdrücken, das einem widerfahren ist.

Ich versuche eigentlich selten, Sachen aktiv zu verdrängen, habe gefühlt aber trotzdem ein viel schlechteres Gedächtnis als viele meiner Freunde. Wie kommt das?
Menschen haben durchaus unterschiedlich starke Fähigkeiten zu vergessen. Vergessen ist aber nicht per se etwas Schlechtes. Wir vermuten, dass es auch als Schutz dient, wenn wir sonst mentale Probleme bekommen würden.

Es gab eine Studie mit Bürgerkriegsflüchtlingen aus verschiedenen Ländern zu dieser Frage. Alle Teilnehmer der Studie hatten traumatische Erlebnisse gehabt – aber ein Teil von ihnen hatte PTBS, eine Posttraumatische Belastungsstörung. Den anderen ging es den Umständen entsprechend gut. Die Studie hat gezeigt, dass diejenigen, denen es mental besser ging, auch diejenigen waren, die besonders gut – und absichtlich – vergessen konnten.

Kann man Vergessen trainieren oder ist die Fähigkeit dazu angeboren?
Das ist eine gute Frage. Es gibt ein paar Hinweise, die dafür sprechen könnten, dass Menschen, die besonders viele schlimme Dinge erlebt haben, tendenziell etwas leichter vergessen können – aber letzten Endes wissen wir das noch nicht.

Insgesamt ist es aber trotz allen Vorteilen nicht immer sinnvoll, alles Negative zu unterdrücken, das einem widerfahren ist. Negative Erinnerungen sind ein Teil von uns selbst.

Haben Sie denn auch einen Tipp, wie ich mich besser an Dinge erinnern kann?
Gut zu wissen ist dafür vielleicht, dass man mit einem Reiz das ganze Netz an Neuronen aktivieren kann. Das ist das, was passiert, wenn man in die Weinhandlung kommt und einem plötzlich einfällt, dass das da genau der Wein ist, den man kürzlich auf einer Party getrunken hat – und dann ist gleich die ganze Erinnerung wieder da. Dieses Wissen kann man strategisch nutzen.

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Mit Assoziationsketten?
Gewissermaßen. Also sagen wir, Sie wollen sich daran erinnern, was Sie vor drei Tagen angehabt haben. Dann können Sie sich auch fragen: Wen habe ich denn vor drei Tagen getroffen? Und dann fällt Ihnen vielleicht wieder ein, dass ja die Kollegin ein Kompliment zu Ihrem neuen Pullover gemacht hat und die Erinnerung ist wieder da: Ahhh, den Pullover hatte ich an. Der eine Reiz, der Teil dieses Neuronenmusters der Erinnerung ist, hat den anderen Reiz stimuliert.

Wenn Menschen Liebeskummer haben, kommen ihnen gefühlt die ganze Zeit solche Erinnerungsblitze. Warum kann man seinen Ex nicht einfach vergessen?
Da kommen zwei Dinge zusammen: Was ist passiert? Und: Was passiert gerade? Zum einen war der Moment mit der Person, in die man verliebt ist, vermutlich ein besonders emotionaler Moment und solche Momente merkt man sich am besten. Zum anderen ist der Partner natürlich auch im Hinterkopf sehr präsent, wenn man gerade verliebt ist. Und ist ein Thema sowieso sehr präsent, ist es wahrscheinlicher, dass ein Reiz einen daran erinnert. Dann denkt man bei dem vorbeilaufenden Schäferhund viel schneller an den Nachmittag, an dem man mit der betreffenden Person in einem Park mit einem Schäferhund gespielt hat, als man es sonst tun würde.

Das Gedächtnis ist fehlerhafter, als wir denken.

Wenn es möglich ist, das Vergessen aktiv zu steuern, kann ich mir dann auch absichtlich "falsche" Erinnerungen einreden?
Gewissermaßen. Woran wir uns erinnern, ist stark von unseren Erwartungen abhängig. Wir nennen das Suggestibilität des Gedächtnisses. Sagen wir, Sie erinnern sich, dass die Kriminalitätsrate gestiegen ist. Woher haben Sie diese Information? Sie würden sagen: aus der Tagesschau. Aber eigentlich stammt sie aus einem Tweet von Trump.

So etwas passiert oft: Das Gehirn erinnert sich an eine Info, aber nicht daran, wo sie herkommt – und füllt diese Lücke dann eigenständig aus. Genauso bei einer Erinnerung an den gestrigen Abend: In Ihrer Erinnerung hatte Ihr Partner einen roten Pulli an – aber eigentlich stimmt das nicht. Sie wissen nur, dass Ihr Partner gerne rote Pullis trägt, und ihr Gehirn baut dieses Wissen in die Erinnerung ein.

Das sind aber ja jetzt Vorgänge, die nicht absichtlich passieren.
Das kann aber auch absichtlich eingesetzt werden. Mit suggestiven Fragen beispielsweise. Die schaffen eine Erwartungshaltung – und diese Erwartung kann das Gehirn dann in die Erinnerung einbauen.

Schon ein bisschen gruselig.
Man sollte sich eben immer im Klaren sein: Das Gedächtnis ist fehlerhafter, als wir denken.

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