Merkel, Sex und Özil: Deutschland sucht verzweifelt nach Schuldigen für das WM-Aus
Collage: VICE || Özil: imago | Moritz Müller || Alle anderen Fotos: imago | Action Pictures

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Fußball-WM 2018

Merkel, Sex und Özil: Deutschland sucht verzweifelt nach Schuldigen für das WM-Aus

"Die Mannschaft ist gescheitert. Löw und seine ehrlosen Migranten haben ausgespielt."

Was war für euch der Moment der letzten Jahre, an dem alles, was ihr geglaubt hat, über Deutschland zu wissen, ins Wanken geraten ist? Als rund 13 Prozent der Bevölkerung eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei in den Bundestag wählte, vielleicht? Nun, seit gestern gibt es einen neuen Tiefpunkt in der jüngeren deutschen Geschichte – zumindest wenn es nach deutschen Fußballfans, Mitgliedern rechter Parteien und Medienschaffenden geht. Die deutsche Fußballnationalmannschaft hat am Mittwoch gegen Südkorea verloren und ist somit schon in der Vorrunde ausgeschieden.

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Deutschland steht am Abgrund und sucht nach Schuldigen. Klar, die Mannschaft™ hat scheiße gespielt. Doch was bedeutet das nun für uns als Nation? Wird Deutschland international jetzt wieder ausschließlich auf seine Nazi-Vergangenheit reduziert? Die Reaktionen auf das erste Vorrunden-Aus in der Geschichte der DFB-Elf fielen dementsprechend tränenreich und dramatisch aus. Mit absurden Auswüchsen:

Instagram, Friseurbesuche, Sex – die Spieler sind einfach zu weibisch geworden

Beschissene Frisur, ungepflegtes Äußeres, keinen Sex und ganz allgemein nie Spaß: Viele deutsche Fußballfans scheinen eine recht konkrete Vorstellung davon zu haben, wie echte Leistungsträger aussehen müssen. Anders lässt sich nicht erklären, mit welcher Vehemenz sich nach dem WM-Aus der deutschen Elf über die "gutfrisierten Instagram- und Twitter-Figuren" (O-Ton Claus Strunz) empört wird.

"Typen wie Boateng", schreibt ein Facebook-Nutzer, würden mit "Tattoo, Swagga, Styler, Chabo, Babo, sonstwas Look, Fußballschuhe in Regenbogenfarben, Kopfhörer, Brilli-Ohrringe, das entsprechende Gehabe, die Inszenierungen auf Facebook und Insta, Marketing, Werbung aus allen Rohren" für eine neue Generation von Nationalspielern stehen, denen es nicht mehr um den ehrlichen, harten Sport und die Ehre des Vaterlands gehe, sondern nur noch um sich selbst.

Für einen anderen sind die Ex-Weltmeister ein "Lappen-Haufen". Nicht nur spielerisch unterirdisch, sondern eben auch weibisch, was für hartgesottene Couch-Experten natürlich ungleich schlimmer ist: "Die Aussprache bei denen war wahrscheinlich nur nen Austausch, wer welchen Friseur hat und wo es die schönsten Gucci-Täschchen gibt!"

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Nun gilt es, für die Zukunft umzudenken. Gewinnen können unsere Jungs nur, wenn deutscher Fußball wieder unfrisiert, selfie-frei und super-maskulin wird. Und um sicherzugehen, dass sich auch wirklich wieder nur unter Männern auf den Hintern geklatscht wird, sollen die Spielerfrauen bei zukünftigen Turnieren am besten direkt zu Hause bleiben. Denn: Zu viel "Poppen", weiß ein Fan, "macht eine lauffaule, schwache Mannschaft". Schade. Für alle Beteiligten.


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Deutscher Fußball und Deutschland ganz allgemein sind am Ende

Auch wenn ihr absolut kein Interesse an Fußball habt und die WM nicht verfolgt, dürfte euch gestern Abend außerhalb der eigenen vier Wände eine leicht … gedrückte Stimmung aufgefallen sein. Vielleicht habt ihr in der Bahn sehr viele verwaiste Flaggen gesehen, auf denen noch die Überreste schwarz-rot-goldener Tränen zu sehen waren. Womöglich standet ihr beim Lebensmitteldiscounter eures Vertrauens an der Kasse und habt hinter euch lautes Schluchzen und das Aneinanderklirren mehrerer Bierflaschen gehört. All das sind keine überzogenen Reaktionen und Fußball ist nicht "einfach nur ein Spiel". Es geht hier um uns alle. Um DEUTSCHLAND. Und von dieser Niederlage werden wir uns noch Jahre, ach was, Jahrzehnte nicht erholen können.

"Wir waren dabei, als der deutsche Fußball unterging", heißt es in einem Focus-Artikel dramatisch. Die Süddeutsche bezeichnet den Austragungsort des verlorenen Spiels, die russische Stadt Kasan, als "Chiffre für eine dieser finstersten Stunden, die auch jenen Kindern einmal etwas sagen wird, deren Eltern sich heute noch nicht mal kennen".

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Ein Facebook-Kommentator sieht ebenfalls das Ende einer Ära gekommen, schafft es aber auch noch, in seinen Abgesang auf die DFB-Elf ordentlich Fremdenhass miteinzubringen. "Kein Nationalbewusstsein, keine Ehre, kein Stolz! Es wird Zeit zu gehen", schreibt er. "Die Mannschaft ist gescheitert. Löw und seine ehrlosen Migranten haben ausgespielt."

Eine Aussage, die man so eher von Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner erwartet hätte, der sonst der Erste ist, der sich auch bei kleineren Anlässen in apokalyptischen Endzeitszenarien wähnt. Stattdessen gibt sich Wagner überraschend gemäßigt und plädiert dafür, den gescheiterten Fußballmillionären zu vergeben. Ein paar wichtige Fragen hat er dann aber doch noch: "Was ich mich frage, ist, wie diese Mannschaft weiterleben will, nachdem sie gestorben ist. Wer will von ihr noch Autogramme, Trikots kaufen? Welcher Junge in Deutschland sagt noch: Ich bin Kroos, ich bin Marco Reus?" Auf letztere Frage haben wir eine Antwort: mindestens zwei.

Mesut Özil ist an allem schuld

Wenn eine Mannschaft dermaßen peinlich aus einem Turnier fliegt, hat das natürlich mit mangelnder spielerischer Leistung zu tun. Klar herauszuarbeiten, wer was wann wie besser hätte machen können, ist bei elf Spielern auf dem Platz allerdings nicht ganz so einfach wie, sagen wir mal, beim Tennis. Verschiedene (selbsternannte) Experten und Expertinnen, Fans und Medienschaffende haben sich trotzdem daran versucht und sich zu großen Teilen auf einen Schuldigen für das Vorrunden-Aus geeinigt: Mesut Özil, gegen den seit Wochen ein Shitstorm tobt, weil er sich mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan fotografieren ließ.

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"Sein Vortrag war wieder einmal viel zu dünn, längst wirkt er wie ein sehr alter Vulkan", heißt es in der Welt, die dieser seltsamen Metapher einen ganzen Artikel widmete. "Er hätte zum Spieler des Spiels werden und die Kritiker verstummen lassen können. Doch er nutzte seine Chance nicht." Was hier klingt, als hätte Mesut Özil besonders ineffektiv und schlecht gespielt, ist statistisch nicht haltbar. Mit seiner Leistung gegen Südkorea lag der Mittelfeldspieler sogar über dem Durchschnitt. Özil bereitete insgesamt sieben Torchancen vor – das ist nicht nur Mannschafts-, sondern auch WM-Bestwert.

Auch ProSieben machte die Misere namentlich an einem Spieler fest und verkündete in einem mittlerweile gelöschten Tweet: "Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um für Mesut Özil und den ein oder anderen aus der Nationalmannschaft zurückzutreten." Und bei der AfD versuchte man gar nicht erst, so zu tun, als ginge es noch irgendwie um fußballerische Leistung. "Ohne Özil hätten wir gewonnen!", verkündete der sächsische Bundestagsabgeordnete Jens Maier auf Twitter zu einem Bild des Spielers mit der Aufschrift "Zufrieden, mein Präsident?". Kritik an biodeutschen Spielern suchte man auf seiner Seite übrigens vergebens.

Merkels Politik hat uns die erneute Weltmeisterschaft gekostet

Wo wir schon bei rechtspopulistischer Meinungsmache im Schatten vermeintlicher Spielkritik sind: Natürlich kann es auch im Fußball keine Suche nach einem oder einer Schuldigen geben, ohne dass die "Merkel muss weg"-Rufer und -Ruferinnen aus ihren Bierpfützen auf der verwaisten Fanmeile gekrochen kommen. Allen voran Claus Strunz, eigentlich Journalist, mittlerweile aber vor allem rechter Marktschreier im Sat.1-Frühstücksfernsehen. Seine These: Die "gutfrisierten Instagram- und Twitter-Figuren, zwei Erdoğan-Fans, satte Weltmeistern und ein müde wirkender Bundestrainer" seien nicht die Einzigen, die Verantwortung am WM-Ausscheid tragen. Die Leistung der Mannschaft sei ein Spiegelbild des ganzen Landes – und das werde eben von Angela Merkel regiert, die "endlich auf Horst Seehofer hören" sollte.

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Was das mit Fußball zu tun haben soll, erklärt er dann noch einmal etwas weniger schwurbelig im Gespräch mit seiner Frühstücksfernsehen-Kollegin Marlene Lufen. "Vor vier Jahren gab es noch keine Flüchtlingskrise. Vor vier Jahren gab es noch eine einigermaßen funktionierende große Koalition", sagt Strunz. "Heute läuft es schlecht im Land und es läuft auch schlecht auf dem Fußballplatz, und ich glaube, dass das was miteinander zu tun hat." Also … Merkel raus, Jogi Löw auch, und Horst Seehofer mit einem Team aus Kartoffelboys ohne Migrationshintergrund zum nächsten Turnier schicken?

Die Einschätzung mag absurd wirken, wird aber von vielen Leuten in den sozialen Medien geteilt. Die Stimmung im Land ist schlecht, die Spieler würden sich nicht mit Deutschland identifizieren, böse Migranten, böse Merkel, irgendwas mit Flüchtlingen, und am Schluss schlagen alle die halbleeren Biergläser aneinander und beschwören die vermeintliche Gewissheit, dass früher alles besser war.

"Hier stand Merkel-Deutschland auf dem Platz", schreibt ein Facebook-Nutzer, was insofern korrekt ist, als dass die deutsche Nationalmannschaft gespielt hat und Angela Merkel die aktuelle Bundeskanzlerin von Deutschland ist. Wie auch schon vor vier Jahren, als Unsere Jungs™ Weltmeister wurden und sich alle in einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer glücksbeduselt in den Armen lagen. Oder, um es mit den Worten eines anderen Nutzers zu sagen: "Fun Fact: Merkel war 2014 auch schon Kanzlerin!"

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