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"Being Mario Götze"

Doku über Mario Götze: Was der Absturz des 26-Jährigen über den Profi-Fußball verrät

Dieser Film macht klar, warum immer mehr Fußballprofis über Depressionen sprechen und die Angst, zu versagen. Und warum ein "Jahrhunderttalent" zu schlecht für die WM ist.
Collage: imago | Screenshot aus der DAZN-Serie "Being Mario Götze"

Es gab eine Zeit, da mussten Sanitäter Mario Götze im Krankenwagen über das Trainingsgelände von Borussia Dortmund zu seinem Auto chauffieren. Damals waren wütende BVB-Hooligans Dauergäste auf dem Gelände. Weil Götzes Wechsel zum Hauptkonkurrenten FC Bayern München öffentlich geworden war, bedrohten die "Fans" ihn bei Trainings und nach Spielen. Und weil er Übergriffe nicht ausschließen konnte, war für Götze selbst der Weg zum Parkplatz zu gefährlich.

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Das war im April 2013 und der damals 21-jährige galt als "Jahrhunderttalent". Als BVB-Eigengewächs hatte er in der Bundesliga mit zehn Toren und zwölf Assists den Durchbruch geschafft. Borussia Dortmund besiegte Real Madrid im Champions League-Halbfinale und nicht wenige glaubten, dass Mario Götze der nächste Lionel Messi werden könnte. Warum es dann doch nicht so kam, erzählt die vierteilige Doku-Serie Being Mario Götze – eine deutsche Fußballgeschichte, die vergangenen Freitag auf der Streamingplattform DAZN Premiere feierte. Die Doku zeigt, dass Sportstars wie Mario Götze, die sich nach außen mit Models, Yachten und Muskeln protzen, tatsächlich Selbstzweifel haben, die größer sind als jene, die viele von uns mit 13 in ihren Tagebüchern verewigt haben.

Der Regisseur Aljoscha Pause hat Mario Götze sieben Monate lang begleitet und mehr als 100 Stunden Filmmaterial gesammelt. Er sprach mit der Familie, Freunden, Teamkollegen, Trainern, sportlichen Direktoren und Götzes Ehefrau Ann-Kathrin. Er begleitete Götze in den Privaturlaub nach Dubai, ins Trainingslager nach Marbella oder auf Lehrgänge des DFB. Being Mario Götze verzichtet auf einen neunmalklugen Sprecher aus dem Off. Götzes unmittelbares Umfeld erzählt seine Geschichte, seinen Aufstieg und Fall – und das macht die Doku so sehenswert.


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"Alles ging so schnell, dass ich froh war, ein Elternhaus und Freunde von früher zu haben"

Fangen wir damit an, was Mario Götze verkörpert: für hundert Millionen Menschen weltweit einen Fußballsuperstar; für Deutschland eine Art Nationalheld. Mit 17 galt er als "Wunderkind", mit 20 gewann er mit Borussia Dortmund die Deutscher Meisterschaft, mit 22 entschied er mit seinem Tor in der Nachspielzeit die Weltmeisterschaft. Doch der "deutsche Messi" ist ein sensibler Familienmensch, der bald Vater werden will und gerne Händchen haltend an der Ruhr spazieren geht. Seine Frau nennt ihn in der Doku einen "Quatschkopf". In seiner Freizeit liest Götze gerne Sportlerbiografien und schaut Dokumentarfilme.

Der Film zeigt ihn, das "Jahrhunderttalent" vor einer Schulklasse wie er leicht stotternd aus Kinderbüchern vorliest. In solchen Szenen wird deutlich, dass Götze nicht unbedingt damit gerechnet hat, binnen weniger Jahre durch die Decke zu gehen wie Lampenkabel. "U17-EM, U17-WM, zu Jürgen Klopp in den Kader und das erste Profispiel, mit 18 zur Nationalmannschaft, dann die Deutsche Meisterschaft", blickt Götze zurück, "das ging alles so schnell, dass ich froh war, ein Elternhaus und Freunde von früher zu haben."

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Bei seiner Rückkehr nach Dortmund im November 2013, als Spieler des FC Bayern, pfeifen ihn 80.000 BVB-Anhänger gellend aus. Auf Transparenten bezeichnen ihn Fans als "Verräter" oder schreiben seinen Namen mit Euro-Zeichen. Götze soll eingewechselt werden, muss sich aber im Kabinentrakt mit Seitensprüngen warmmachen – vor der Dortmunder Südtribüne kann er dies aus Angst vor wütenden Ultras nicht. Als er in der Schlussphase ein Tor erzielt, hebt er die Arme, als würde er sich entschuldigen, statt zu jubeln.

Regisseur Aljoscha Pause sagt zu VICE: "Götze hat eingewilligt, die Doku zu drehen, weil ihm alles zu schnell ging und er selbst die Chance gebraucht hat, auf seine Karriere zurückzublicken. Es ging darum, eben keinen Imagefilm zu drehen."

"Durchschnittliche Leistungen wurden als schlecht bewertet, gute Leistungen als nicht gut genug"

Dabei sehnen sich gefühlt mehr Jugendliche nach einer Spitzensportlerkarriere als CSU-Mitglieder nach Ankerzentren. Das Versprechen: Millionen auf dem Bankkonto, Models im Bett und ein Beruf, der gleichzeitig die eigene Leidenschaft darstellt. Pauses Film macht aber klar, wie schwer der Weg dahin ist.

Schon in Götzes Jugend ist klar: Er ist ein Ausnahmetalent, wie es sie selten im deutschen Fußball gab. Aber: Das macht ihn nicht arrogant, aber auch nicht selbstbewusst. Als Teenager ist er introvertiert, schaut tagelang Fußball-Videos, eifert Zinédine Zidane nach – verweigert aber, Führungsverantwortung zu tragen. "Ich habe die Kapitänsbinde genommen, Mario hat [die] immer abgelehnt", sagt sein zwei Jahre älterer Bruder Fabian.

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Als Götze 2013 nach München wechselt, tut er dies, weil sein Jugendvorbild Pep Guardiola dort Trainer wurde. Doch seine Hoffnungen erfüllen sich nicht. "Beim BVB ist Götze mitgeschwommen und war einer von vielen Stars", sagt Jürgen Klopp in der Doku. Als Eigengewächs verehrten ihn die Fans. Doch der Welpenschutz sei nach dem Wechsel zum FC Bayern eben vorbei gewesen. "Durchschnittliche Leistungen wurden als schlecht bewertet, gute Leistungen als nicht gut genug", sagt Klopp. Und Götze gesteht ein: "Als junger Spieler, der von Dortmund nach München gekommen ist, hatte ich generell das Gefühl, dass die Empathie dort nicht so ausgeprägt war."

Als ihn Guardiola in wichtigen Spielen nicht mehr aufstellt, ist Götze dermaßen frustriert, dass er regelrecht trainingssüchtig wird. Nach Einheiten beim FC Bayern schiebt er zu Hause Extraschichten, läuft auf Laufbändern und stemmt Gewichte. Die Logik: Umso mehr ich mache, desto besser werde ich – und irgendwann kann der Trainer mich nicht mehr ignorieren. Im Februar 2017, nur ein halbes Jahr nachdem er zu Dortmund zurückkehrt, erleidet er Myopathie – also Muskelleiden – aufgrund einer Stoffwechselkrankheit.

Götze hängt der Ruf an, trainingsfaul zu sein, weil seine Statur leicht untersetzt ist. Über die Zeit nach seiner Erkrankung erfährt der Zuschauer aber, dass Mario Götze speziell getrocknete Cranberries mit Milch frühstückt, verschiedene Diäten ausprobiert, auf Kohlenhydrate verzichtet, Nahrungsergänzungsmittel nimmt und ein Buch von Tennisprofi Novak Đoković gelesen hat, um seine Ernährung zu optimieren. Er besucht Kältekammern und absolviert spezielle Rehaprogramme. Vor einem großen iMac analysiert er Videos von sich, auf einer App seine Schlafphasen. Das ist seine nicht-Instagram-taugliche Seite, die Being Mario Götze offenbart.

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Im März 2017 wechselt ihn der damalige BVB-Trainer Peter Stöger im Europa Pokal-Halbfinale zur Halbzeit aus, tritt grimmig vor die Kameras und lässt verlauten, dass "wir überhaupt nicht einverstanden waren mit Mario heute". Götze schießt in der Doku zurück: "Es war in der Situation definitiv falsch, sich da einen rauszupicken, und zu sagen, ich sei ein personifizierter Misserfolg."

Sieht man Being Mario Götze, verwundert einen nicht mehr, warum prominente Kicker und Nationalspieler wie Per Mertesacker oder Danny Rose unter Depressionen und Versagensängsten litten.

"Es wird keinen zweiten Messi, es wird keinen zweiten Ronaldo geben – aber eben auch keinen zweiten Mario Götze"

Denn wenn die Erwartungshaltung an einen Sportler die ist, immer und immer wieder wichtige Spiele mit Toren zu entscheiden – wie es Götze im WM-Finale 2014 gelungen ist –, dann kann er diese gar nicht erfüllen.

Bundestrainer Jogi Löw sagt in der Doku: "Wie bei fast allen Spielern, die schnell aufsteigen, sind die Erwartungen entsprechend gestiegen." Der ehemalige BVB-Coach Jürgen Klopp meint: "Götze wird für immer derjenige sein, der Deutschland zur WM geschossen hat." Dann zählt er auf: "Rahn, Müller, Brehme – und eben Götze". Götzes ehemaliger Mitspieler und Kollege in der Nationalmannschaft, Toni Kroos, sagt: "Es wird keinen zweiten Messi, es wird keinen zweiten Ronaldo geben – aber eben auch keinen zweiten Mario Götze."

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Und was meint Götze selbst? "Die Leute sagen, der erreicht sein Level nie wieder. Naja, was ist denn das Level? Das Tor im WM-Finale? Ja, das könnte schwierig werden. Wenn man einmal diese Messlatte gelegt hat, dann existiert alles darunter nicht mehr. Oder es existiert. Aber es ist schlecht." Vielleicht wird ein Mittzwanziger, der im Juli 2014 Sportgeschichte geschrieben hat, nie wieder die Kajak-großen Fußstapfen ausfüllen können, die ein Tor im WM-Finale hinterlassen hat.

Götzes Tiefpunkte – Pfeifkonzerte, Erkrankungen, Verletzungen – sind vielzählig. Am schlimmsten aber, das wird beim Schauen der Doku-Serie klar, sind seine Formtiefs. Denn Götze checkt es als Erster, wenn er nicht seine Topform erreicht. So wie in der zweiten Hälfte dieser Saison. Dennoch sagt er, er habe bis zuletzt gehofft, dass Bundestrainer Löw ihn für die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland nominieren würde.

Vergangenen Monat gab Löw bekannt, dass Götze nicht mitfährt. Der WM-Held hat vier Jahre nach dem Höhepunkt seiner Karriere (vorerst) keinen Platz mehr im deutschen Team. Und: Seine nachgeholte Hochzeitsparty mit Ann-Kathrin musste er auch absagen. Am 18. Juli, dem geplanten Hochzeitstag, fliegt Borussia Dortmund für neun Tage ins Trainingslager an die US-Ostküste. Götze hat sich gegen die Feier entschieden – und für eine professionelle Vorbereitung.

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