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Horrorstories

Wie ich im Einzelhandel gelernt habe, Menschen kollektiv zu hassen

"Auf dem Boden einer zugemüllten Kabine lag eine Jeans. Ich merkte, dass etwas in der Hosentasche ist. Es war ein blutiger Tampon."
Eine Verkäuferin verzweifelt an der Kasse
Alle Illustrationen von Laura Binder

"Entschuldigung, geht bitte nicht zu zweit in eine Kabine", sage ich. Das Teenie-Mädchen schaut mich herausfordernd an, während ihr Typ knallrot anläuft. Sie sagt: "Bist du neidisch weil ich einen Freund habe?"

Ein paar Stunden später habe ich erfolgreich das Chaos im Sale-Bereich aufgeräumt, da reißt eine Kundin ein Kleid vom Haken und will wissen, ob es das noch in einer anderen Größe gibt. Nein, es ist im Sale. Sie schmeißt es wortlos auf den Boden und will gehen. Auf die Frage, ob sie das wieder aufheben könnte, antwortet sie: "Das war schon so."

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Und dann liegt da dieser Rucksack mitten im Laden. Ich frage alle Umstehenden, wem er gehört, bringe ihn an die Kasse zu den Fundsachen. Kurz darauf rastet ein Typ aus, wo sein Eigentum sei. Ich hole den Rucksack und sage ihm, dass wir oft Taschendiebe haben. Er schreit mich an: "Ich lasse mich doch nicht von einer Verkäuferin belehren!" All diese Sachen sind an einem Tag passiert. Und solche Tage waren häufig.

Rund vier Jahre habe ich im Einzelhandel gearbeitet, bei zwei großen Modeketten. Ich tat es, um nicht jeden Tag Yum-Yum-Nudeln zu essen. Und ja, ich hasste es. Mittlerweile habe ich gekündigt. Aber die Menschheit hat sich nicht verändert, nur weil ich weg bin.

Im Grunde spielt es keine Rolle, ob du den Menschen Klamotten, Kaffee, Kondome, Brokkoli oder Staubsauger verkaufst – sie sind überall gleich. Persönlich finde ich es bei den großen Bekleidungsketten am schlimmsten. Warum? Weil die Menschen dort alles anprobieren dürfen, keine Beratung haben, auf billige Preise treffen – und deshalb weder Respekt vor der Ware, noch vor den Angestellten haben.

Ich weiß nicht, wer den Satz "Der Kunde ist König" als allgemein gültig propagiert hat, aber derjenige ist schuld, dass Kunden die Tyrannei aufleben lassen. Nur weil du für 99 Cent Haargummis kaufst oder jeden Tag reinkommst und im Gratis WLAN abhängst, gehört dir weder der Laden, noch besitzt du die Macht über die Angestellten. Es reicht schon, dass man von einem Unternehmen ausgebeutet wird, das seine Mitarbeitende nur noch auf flexibler Stundenbasis einstellt. Kommen überraschend viele Kunden, muss man spontan seinen ganzen Tag um planen und sofort auf der Matte stehen. Ist im Laden nichts los, wird man früher nach Hause geschickt oder muss gar nicht erst kommen.

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Ich habe mich mit zwei Ex-Kolleginnen über unsere schlimmsten Erlebnisse unterhalten. Beide arbeiten seit vielen Jahren in der Branche und haben, im Gegensatz zu mir, nicht mit einem Studi-Job angefangen. Und beide haben seit vielen Jahren den gleichen Alltag: acht Stunden stehen, aufräumen, angepöbelt werden. Eigentlich steht bei Anna und Miriam etwas anderes auf ihren Namensschildern, aber sie wollen nicht arbeitslos werden. Und auch ich heiße nicht Juli – aber ich musste damals eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben.

Nach einiger Zeit im Einzelhandel habe ich jeden, der durch die Tür kam, in eine Kategorie eingeordnet und kollektiv gehasst. Weil ich mir nicht mehr vorstellen konnte, dass es noch normale Leute gibt. Hier eine Typologie der hasswertesten Kunden.

Eine Jeans mit einem blutigen Tampon in einer Tasche hängt neben einem Mantel den Fliegen umschwirren

Die Ekligen – "Einmal entdeckte ich Kot in einer Sakkotasche"

Eine Frau rammte ihren Kinderwagen durch den Laden und riss dabei alles runter. Genervt räumte ich ihr hinterher und verfolgte sie bis zur Umkleide. Davor sortierte ich Klamotten und wartete, bis sie fertig war. Sie riss den Vorhang zur Seite, als ihr Kleinkind gerade sein Mittagessen ausspuckte. Die Frau nahm eins der Shirts auf ihrem Arm, wischte ihrem Kind durchs Gesicht und hielt es mir hin. Völlig perplex griff ich danach – und realisierte, dass ich gerade Kinderkotze in der Hand halte.

Miriam: Die Umkleiden sind der ekligste Ort, weil sich Menschen dort unbeobachtet fühlen. Ich habe in einer vollkommen zugemüllten Kabine eine Jeans auf dem Boden gefunden und gemerkt, dass etwas in der Hosentasche ist. Erst dachte ich, es sei eine längliche Sicherung, aber es war ein blutiger Tampon.

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Anna: Ich war für die Anprobe eingeteilt. Im Laufe des Tages habe ich in einer Kabine einen leeren Eisbecher gefunden, der so klebrig war, dass ich ihn nicht wegräumen wollte. Später kam ich wieder in diese Kabine und der Becher war gefüllt mit Pisse. Und weil die Größe des Bechers nur ungefähr einer Eiskugel entsprach, blickte ich runter und sah, dass der ganze Boden voll gepinkelt war. Ekliger war nur, als ich einmal Kot in einer Sakkotasche entdeckt habe.

Eine Frau kniet auf allen Vieren vor einem Haufen Klamotten, auf dem eine andere Frau ein Shirt wirft

Die Respektlosen – "Ach lernt man in der Hauptschule kein Kopfrechnen mehr?"

Ich stand seit mehreren Stunden an der Kasse und konnte keine Pause machen, weil eine Kollegin krank und das Team unterbesetzt war. Endlich kam meine Ablöse und ich schloss meine Kasse, als eine ältere Frau von ganz hinten nach vorn durchging und zickig sagte: "Sie machen jetzt sicherlich nicht die Kasse zu." Ich wollte ihr erklären, dass wir unsere Pausenzeiten einhalten müssten. Daraufhin sie: "So wie Sie aussehen, machen Sie ihr ganzes Leben lang Pause …"

Anna: Ich habe kurz vor Ladenschluss aufgeräumt und mein geschundener Rücken freute sich auf den Feierabend. In meiner Abteilung war nur noch eine Mutter mit ihrem Kind und riss die Ware so energisch zur Seite, dass ihr eine komplette Stange entgegen kam. Alles lag auf dem Boden. Ihr Kind sagte: "Mama, dir ist was runtergefallen." Und die Mutter: "Das ist nicht schlimm, das muss die Frau da wegräumen."

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Miriam: Eine Kundin wollte einen krummen Betrag mit einem Fuffie bezahlen. Ich fragte sie nach Münzen. Keine Reaktion. Ich fragte nochmal nach und bekam ein "NEIN!". Ich gab alles in die Kasse ein und sammelte das Wechselgeld zusammen, als sie plötzlich wortlos Kleingeld hervor kramte und mir hinwarf. Ich ignorierte das, aus Angst mich bei sowas zu verzählen und eine Kassendifferenz zu haben. Meine Ausrede war in solchen Situationen immer gleich: "Sorry, ich hab es schon in die Kasse eingegeben." Darauf sie: "Ach lernt man in der Hauptschule kein Kopfrechnen mehr?"


Auch bei Vice: Die Motivation, jeden Tag zur Schule zu gehen


Die Dreisten – "Ihr Mann befriedigte sie mit der Hand in der Kinderabteilung"

Wir hatten einen Feueralarm und mussten den Laden sofort räumen. Ein paar verfielen in mittelschwere Panik. Aber nicht zwei Mädels, die ich in der Schuhabteilung fand. "Wir müssen den Laden evakuieren, geht bitte sofort durch den Notausgang raus", sagte ich.
"Ja gleich, wir probieren nur noch eben zu Ende an."
"Das ist keine Übung, geht bitte umgehend raus!"
"Können wir die Schuhe noch schnell bezahlen?"
"Was versteht ihr nicht an: Verlasst sofort den Laden?!"
"Sorry, man, du nuschelst."

Miriam: Eine Frau wollte einen abgetragenen Mantel mit einem Brandloch reklamieren. Mein freundlicher Hinweis, dass Brandlöcher durchs Rauchen und nicht in der Produktion entstehen, machte sie wütend: "Gib mir einfach mein Geld wieder, ey!" Da ich es mittlerweile satt hatte, mich verarschen zu lassen, blieb ich konsequent. Sie ließ aber nicht locker, deshalb holte ich den Filialleiter dazu, in der Hoffnung, dass sie es dann gut sein lässt. Er kam, überlegte und entschied sich den Mantel zurückzunehmen. Außerdem solle ich mich "für meine Frechheiten" entschuldigen. Die Frau sah mich zufrieden grinsend an: "Na, geht doch."

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Anna: Eine hochschwangere Kundin probierte in der Ecke des Ladens etwas an. Ich beobachtete sie, um zu schauen, ob sie Sachen in die Ecke schmeißt. Dann merkte ich, dass noch etwas unter ihrem Oberteil war. Das war ihr Mann, der sie mit der Hand befriedigte. Und das war in der Kinderabteilung …

Ein Kind weint, eine Hand holt zur Backpfeife aus

Die Aggressiven – "Er schmiss mir Münzen ins Gesicht und schrie mich an"

Ich hasse die Frage "Eine Tüte für 15 Cent?" so sehr, aber man kommt nicht drum herum die Kunden damit zu nerven. Viele sagen automatisch Nein aber wundern sich dann, wenn man ihnen die Ware ohne Verpackung über die Theke schiebt. So auch der Typ vor mir, der sich fragte, wie er das jetzt einpacken sollte und sauer wurde. Der erneute Hinweis, dass eine Tüte 15 Cent kostet, brachte ihn zum Ausrasten. Er warf mir ein paar Münzen Bronzegeld ins Gesicht und schrie: "Gib mir jetzt diese verfickte Tüte!" Ich schmiss ihn raus.

Anna: Ein kleines Kind schrie den ganzen Laden zusammen. Seine Mutter ließ es stehen und weiter schreien. Nach zehn Minuten kommt sie wieder und klatscht dem immer noch brüllenden Kind eine. Da habe ich bei der Filialleitung angerufen und gefragt, ob wir nicht die Polizei rufen sollen, aber leider ist die Frau abgehauen, weil sie das mitbekommen hat.

Miriam: Eine Kundin hat in der Umkleide ein Chaos angerichtet. Ich hatte einen mutigen Moment und meinte, sie soll das bitte alles wieder aufhängen. Daraufhin wurde sie wütend und fand, ich würde sie nur auffordern, weil sie schwarz sei. Ich erwiderte, dass mir ihre Hautfarbe egal ist, aber bekam schon den ersten Pulli ins Gesicht geschmissen. Bevor ich etwas machen konnte, bewarf sie mich mit dem Kram aus der Kabine und rauschte davon.

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