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Lebensrealität

Obdachlose erzählen, was sie an Weihnachten essen

Einsamkeit ist für Menschen ohne Zuhause ein zentrales Thema – und während der vermeintlich schönsten Zeit des Jahres nicht weniger schmerzhaft.
Obdachlose in der Schweiz
Alle Fotos von der Autorin

Dieser Artikel stammt aus unserer Redaktion in Zürich.

Glühwein, Girlanden, Geschenksorgien – die Weihnachtszeit ist üppig, glitzrig, voller Genuss und Gaumenfreuden, vor allem in Zürich. Während die Shoppenden im Delikatessenladen an der überteuerten Bahnhofstrasse exklusive Slow Food Salami probieren und dazu Cava schlürfen, wird davor noch immer billiges Bier getrunken. Und zwar Büchsenweise. Das hilft gegen die Kälte.

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Die Obdachlosen der Stadt sind in diesen Tagen weniger sichtbar als sonst. Es ist kalt draussen, aber die Strassen sind voll. Gestresste Eheleute, überforderte Eltern, Kinder mit Taschengeld oder der spendierfreudigen Patentante im Schlepptau. Sie alle sind auf Einkaufstour.


Auch bei MUNCHIES: Lebkuchenmänner backen – erklärt von einem Ex-Gang-Mitglied


Obdachlose flüchten sich in der Zeit besonders gern in die Gassencafés oder Suppenküchen der Stadt. Da können sie sich aufwärmen, dem Trubel entkommen und bekommen etwas warmes zu essen. Institutionen wie diese sind in dieser Jahreszeit besonders wichtig, nicht nur, weil sie vor dem Erfrieren retten. Sie schaffen auch einen Ort der Gemeinschaft. Einsamkeit ist bei vielen obdachlosen Menschen ein zentrales Thema – und während der vermeintlich schönsten Zeit des Jahres nicht weniger schmerzhaft.

Wir haben Obdachlose auf der Strasse gefragt, wie sie die Weihnachtszeit erleben und Weihnachten verbringen.

"Wenn es Heiligabend ist, denke ich immer, dass alle anderen jetzt mit ihren Familien zusammen sind und ich bin da draussen und muss betteln."
Manuel, 28

Manuel

MUNCHIES: Magst du die Weihnachtszeit?
Manuel: Obwohl ich diese Lichter überall sehr mag, ist die Weihnachtszeit für mich die traurigste Zeit im Jahr. Es geht mir dann halt immer Scheisse. Wenn es Heiligabend ist, denke ich immer, dass alle anderen jetzt mit ihren Familien zusammen sind und ich bin da draussen und muss betteln. Das macht mich sehr traurig. Es tut weh.

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Seit wann bist du obdachlos?
Ich war von 18 bis 24 schon mal obdachlos. Dann habe ich einen Job als Schreiner bekommen und hatte während dieser Zeit auch eine Wohnung. Diesen Job habe ich dann aber leider wieder verloren, die Wohnung auch. Jetzt bin ich seit zwei Jahren wieder auf der Strasse.

Nutzt du die Hilfseinrichtungen, die von Hilfsorganisationen oder von der Stadt Zürich angeboten werden?
Ja, schon. Ich schlafe – wenn ich denn das Geld dazu habe – auf der Notschlafstelle. Oft verbringe ich die Nächte aber auch draussen auf einem Bänkli oder in einem öffentlichen WC unter dem Föhn, dem zum Händetrocknen. Aber das hinterlässt Spuren. Darum hab ich einen solch krummen Rücken. Ich fühl mich wie der Glöckner von Notre Dame.

Wo verbringst du denn dieses Jahr den Weihnachtsabend?
Keine Ahnung. Ich feiere nicht. Dieses Jahr auf jeden Fall nicht. Das war auch schon anders. Früher – also in der Zeit, in der ich eine Wohnung hatte – habe ich Leute eingeladen, dann gab es Fondue Chinoise, Raclette oder Tischgrill. Wie man das halt so macht.

Was wäre für dich denn ein perfektes Weihnachtsmenü?
Ein feines Rindsfilet mit Morchelrahmsauce und Nudeln. Oder Fondue Chinoise. Oder auch Bourguignonne. Einfach zusammen sein, es schön haben und gut essen. Das wäre schon schön.

Wenn du einen Weihnachtswunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Dass ich wieder einen Job bekomme. Als Schreiner oder so.

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"Manchmal finde ich diese Zeit auch ein bisschen heuchlerisch"
Karl

Taschen auf einer Eingangsstufe

MUNCHIES: Wie geht es dir während der Weihnachtszeit?
Karl: Weihnachten ist schön, wenn man Familie und Kinder hat. Wenn man alleine ist, dann ist es halt nicht so schön. Manchmal finde ich diese Zeit auch ein bisschen heuchlerisch. In der Weihnachtszeit kommt es schon mal vor, dass mir jemand fünf Franken zusteckt – derselbe kann mich dann aber im Sommer als 'Lumpenpack' beschimpfen. Die müssen dann ihr Gewissen beruhigen. Aber natürlich sind nicht alle so.

Wo verbringst du den Weihnachtsabend in diesem Jahr?
Ich verbringe Weihnachten im Pfuusbus, einem Notschlafbus, wie auch schon letztes Jahr. Da gibt’s einen Baum mit Schmuck, auch sonst ist alles schön dekoriert. Es wird dort sogar fast ein ganz kleines bisschen familiär.

Wirst du auch jemanden beschenken?
(lacht) Wem sollte ich denn schon etwas schenken? Ich bin ja alleine. Echte Freundschaften sind auf der Strasse selten. Ich habe auch schon mal jemandem meinen Schlafplatz angeboten und danach hat er mich beklaut.

Wird es im Pfuusbus auch ein Festmahl geben?
Oh, jaa, im Pfuusbus gibt’s echt einen Weihnachtsschmaus. Ich komm mir dann vor wie die Made im Speck. Mit allem drum und dran.

Wie kommst du im Winter generell über die Runden?
Es geht eigentlich ganz gut. Ich bettle so gut wie nie und habe keinerlei Unterstützung von der Sozialhilfe. Aber ich brauch auch nichts – ich habe keine Sucht, brauche also kein Geld für Alkohol, Zigaretten und Drogen. Das ist ein Glück. Und ich schau auch, dass das so bleibt. Ich möchte weiterhin so gesund sein.

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Du brauchst gar kein Geld? Wie machst du denn das?
Ich esse fast immer in der Sunestube, da ist das Essen umsonst. Und ich schlafe im Pfuusbus. Im Sommer schlafe ich dann fast immer draussen, in der Prärie. Manchmal erledige ich für irgendjemand eine Putzarbeit und verdiene mir so fünf Franken.

Seit wann bist du obdachlos und wie kam es dazu?
Ich bin nun seit zwei Jahren auf der Strasse. Es kam schleichend. Ich hatte immer temporäre Arbeit, dann hatte ich erst keine Arbeit mehr und verlor irgendwann auch die Wohnung.

Wenn du einen Weihnachtswunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Gesund bleiben! Ohne Gesundheit nützt ja auch alles Geld der Welt nichts. Schau nur, bei Steve Jobs. Er war steinreich, kam sogar in die Schweiz, um seinen Krebs behandeln zu lassen, wurde operiert und lebte dann nur noch ein Jahr.

"Weihnachtswunsch? - Eine gute wasserfeste Mascara."
Bianca, 40

Frauenhand hält Mütze

MUNCHIES: Wie geht es dir in der Weihnachtszeit?
Bianca: Im Moment ganz okay.

Fühlst du dich jetzt einsamer als sonst?
Nein, ich suche im Moment auch die Einsamkeit, daher ist das gerade ganz okay so. Auch die Zürcherinnen und Zürcher sind sehr oft wirklich nett. Wenn mir jemand einen Zwanziger zusteckt, schätze ich das sehr. Oder wenn man mir eine Mahlzeit zahlt.

Seit wann bist du auf der Strasse?
Seit Mai.

Wie kommst du denn jetzt im Winter über die Runden?
Ich schlafe auch jetzt immer draussen. Ist ja noch nicht Minus 15 Grad. Ich habe einen guten Schlafsack, dann geht das. Jemand hat mir auch ein kleine Hütte im Wald gezeigt, auch da finde ich meine Ruhe.

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Wo wirst du Weihnachten verbringen?
Im Pfuusbus.

Und was würdest du gerne essen?
Ich esse immer Suppe, ich bin eine echte Suppen-Tante, das würde ich auch dann gerne essen. Die tun mir gut und sie werden hier überall echt lecker gemacht.

Wenn du einen Weihnachtswunsch frei hättest, was wäre das?
Eine gute wasserfeste Mascara.

"Ich habe noch nie ein Geschenk bekommen."
Marlon, 46

Mann hält eine Bierdose

MUNCHIES: Es ist Weihnachtszeit. Welche Gefühle löst das bei dir aus?
Marlon: Eigentlich löst das keine besonderen Gefühle bei mir aus, aber darauf freuen tu ich mich nicht.

Wo verbringst du den Weihnachtsabend in diesem Jahr?
Vielleicht werde ich noch von meiner Familie eingeladen. Ich weiss es nicht.

Wirst du nur an Weihnachten bei deiner Familie eingeladen oder auch unter dem Jahr?
Auch unter dem Jahr. Einfach nicht oft. Aber ich war gerade am letzten Donnerstag bei meiner Mutter zum Zwiebelkuchen essen.

Was wäre für dich ein perfektes Weihnachtsmenü?
Rosenkohl. Kartoffelpüree. Und ein guter Braten dazu.

Wirst du jemanden beschenken?
Das weiss ich jetzt noch nicht. Kommt auf mein Budget an. Ich habe schon oft etwas verschenkt.

Was würdest du denn verschenken wollen?
Vielleicht Schokolade. Aber eben nur, wenn ich Geld habe.

Wirst du auch etwas zu Weihnachten bekommen?
Nein. Ich habe noch nie ein Geschenk bekommen. Ich bin zwar ein gutmütiger Mensch, es kommt aber sehr wenig zurück.

Wie kommst du im Winter generell über die Runden?
Mit Bier. (lacht)

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"Ich habe nur noch auf dem Papier eine Familie."
Patrick, 28

Porträt Patrick

MUNCHIES: Freust du dich auf Weihnachten?
Patrick: Nein, wieso sollte ich? Ich bin ja alleine. Ich werde Weihnachten also nicht feiern.

Zu deiner Familie hast du also keinen Kontakt mehr?
Ich habe nur noch auf dem Papier eine Familie.

An Weihnachten wird in den meisten Stuben gegessen und geschlemmt. Was isst du an Weihnachten?
Keine Ahnung, wahrscheinlich nichts Spezielles. Suppe oder Brot. Vielleicht einen Hot Dog.

Wenn du einen Weihnachtswunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Die B-Bewilligung für einen festen Aufenthalt in der Schweiz, ich habe im Moment den L-Ausweis, eine Bewilligung für Kurzaufenthalter. Es ist ein Teufelskreis: So bekomme ich auch keine Wohnung und keinen Job, und ohne Job und Wohnung gibt’s auch keine Bewilligung.

Woher kommst du denn?
Aus Polen.

Warst du in Polen auch schon obdachlos?
Ja, da war ich auch auf der Strasse. Ich hatte viel Pech mit meiner Familie.

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