Vor zwei Wochen war ich mal wieder in meiner Heimatstadt: Sault Ste. Marie in Ontario, Kanada. Der Anlass waren zwei Hochzeiten von alten Freunden. Da sie eine Woche auseinanderlagen, hatte ich ein paar Tage, um nostalgisch und melancholisch durch die frühere Industriestadt am Saint Marys River zu streifen.
Vielleicht lag es an dem Joint, den ich geraucht hatte, aber während eines solchen Spaziergangs, stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, meinem Vater über den Weg zu laufen. Er lebt immer noch in der 75.000-Einwohner-Stadt an der Grenze zu den USA. Ich habe ihn seit drei Jahren nicht gesehen. Er hat ein Kokainproblem. Wie würde es sich anfühlen? Wie würde es ablaufen?
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Als ich um eine Ecke biege, steht er plötzlich da: mein Vater in seiner ganzen kümmerlichen Pracht. Er raucht eine verbogene Zigarette und wirkt nervös. Als würde er gleich jemandem sagen müssen, dass er die Kohle noch nicht auftreiben konnte.
“Ach du scheiße. Wie sieht der denn aus?”, rufe ich zu ihm rüber. Eine kleine Gemeinheit gegen die eigene Nervosität. Verwirrt schaut er rüber, offensichtlich unsicher, ob er gemeint ist.
Ich: “Hey, ich bin’s.”
Er: “Sorry Kumpel, ich kenne dich nicht.”
Ich: “Dad, ich bin’s … Jordan.”
Nach drei Jahren laufe ich meinem Vater über den Weg und er erkennt mich nicht.
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Die vergangenen Jahre war mein Vater nicht viel mehr als eine Sage für mich gewesen. Wenn ich meine Heimatstadt besuchte, erzählten mir Freunde, ihn durch die Straßen von Sault Ste. Marie wandeln gesehen zu haben. Eine urbane Legende.
Dennoch lösten diese Erzählungen jedes Mal in mir eine Flut aus Schuld, Reue und Erleichterung aus. Der offizielle Grund, warum ich meinen Vater nicht traf, war für mich immer gewesen, dass man ihn so schlecht erreicht. Das war schlicht gelogen. In Wahrheit wollte ich ihn einfach nicht sehen. Es schmerzte zu sehr, ansehen zu müssen, wie mein Vater immer mehr zu dieser jämmerlichen Gestalt erodierte – inklusive fehlender Zähne und glasigem Säuferblick, gehüllt in schlecht sitzende Lumpen – das war einfach zu viel.
Trotz allem, ich liebte ihn. Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von Enttäuschungen und von meinen Versuchen, die klaffende Diskrepanz zwischen den Momenten zu überbrücken, in denen er der “gute” Dad war, den ich vergötterte, und den Tagen, die er auf der Couch verpennte. Dieses Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verlust wurde bald um Frust ergänzt. Als guter Sohn eines Suchtkranken war ich ein Meister darin, so zu tun, als sei alles gut, obwohl es das offensichtlich nicht war. Wenn ich ihn mal sah, war ich vor allem sauer auf mich, dass ich nicht sagen konnte, dass der Elefant im Raum alle Dorfbewohner tot trampelte.
Ich wollte nicht mit ihm sprechen, weil ich so sehr mit ihm sprechen wollte. Ich sehnte mich nach einer Katharsis, nach Antworten. Filme hatten mich gelehrt, dass es nur die eine große Unterhaltung brauchen würde. Wenn ich nur den Mut aufbringen würde, könnte ich meinen Vater zum Nachdenken bringen, ihn retten und mich dann auch gleich mit. Es würde damit enden, dass wir uns umarmen und schluchzend um Atem ringen. Er würde versprechen, clean zu werden, würde sich für alle seine Fehler entschuldigen. Ich selbst wäre wie neugeboren, strahlend vor Selbstvertrauen, Zuversicht und, warum auch immer, neuem sportlichen Ehrgeiz.
Die vergangenen drei Jahre verharrte ich in diesem Zustand: Ich sehnte mich nach einer Konfrontation und Klärung, meine Angst und alte Verhaltensmuster hielten mich zurück.
Und dann steht er plötzlich vor mir.
Er warte darauf, für einen Job abgeholt zu werden, sagt er. Es ist 17:30 Uhr, aber derartige Beobachtungen habe ich gelernt zu ignorieren. Was ich so mache, wie es meinen Brüdern gehe, fragt er mich. Unsere Unterhaltung ist nett. Als wir gerade dabei sind, uns am nächsten Tag zum Mittagessen zu verabreden, kommt ein zwielichtiger alter Mann auf einem Fahrrad die Gasse runtergefahren. Mein Vater sagt, er müsse mit dem Alten kurz über Lieferungen für den Job reden. Ist klar.
Am nächsten Tag bin ich nervös. Wird er auftauchen? Will ich, dass er auftaucht? Er wolle zur Mittagszeit kommen, hat er gestern gesagt. Um wie viel Uhr das denn wäre? “Ich weiß nicht … Mittag halt.” Und so warte ich bei meiner Mutter wie auf einen Telefon-Techniker, der Kindheiten repariert.
Um 12:30 Uhr klopft es an der Tür. Die Deutsche Dogge meiner Mutter fängt wild an zu bellen. Die Tür öffnet sich einen Spalt und Dad steckt seinen Kopf hinein. Er werde draußen warten. Er sei schon einmal von einem Hund gebissen worden und dieser hier mache ihn besonders nervös.
Ich wusste nicht, dass er schon einmal von einem Hund gebissen worden war. Es sollte die erste von vielen Geschichten sein, die wir an diesem Nachmittag austauschen. Ich erzähle ihm von einem Kumpel, der wegen eines Kilos Gras festgenommen worden ist. Die Story inspiriert ihn. Nach und nach purzeln die Geschichten aus einem verkorksten Leben nur so aus ihm heraus. Er erzählt, wie er als Jugendlicher ohne Führerschein fuhr, weil die Strafe nur 25 kanadische Dollar betrug. Er erzählt, wie er versehentlich Gras mit über die Grenze nahm und eingebuchtet wurde. Er erzählt von Autodieben und Mafiasöhnen, mit denen er abhing, von Massenschlägereien am Strand, vom Nacktschwimmen und von Flirts mit Hausfrauen bei der Arbeit. Ich bin fasziniert. Mein Vater ist eine Figur aus einem Bruce-Springsteen-Song.
Wir verbringen Stunden miteinander, haben Mittagessen auf einer Veranda. Wir wollen Billard spielen, aber die Spielhallen haben geschlossen, also suchen wir uns eine andere Veranda und noch ein Bier. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viel Spaß mit ihm gehabt zu haben. Wir sprechen über Politik und als er die miserable Situation der unteren Einkommensschichten beklagt und Donald Trump einen Nazi nennt, weiß ich wieder, woher ich viele meiner Überzeugungen habe – und bin gleichzeitig erleichtert, dass er keinen Facebook-Account hat.
Es ist schön und entspannt mit ihm, weil er endlich ehrlich zu mir ist – nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch seine Sucht. Gut, es ist auch nicht so, als ob sich das großartig verstecken ließe. Mein Vater gehört eindeutig zu den Abgehängten meiner Heimatstadt. Ihm fehlen Zähne und er läuft rum, als ob ein Kleidercontainer ihn angeniest hätte. Momentan lebt er in einem heruntergekommenen Motel. Er macht bizarre Kokser-Dinge. Als wir zur Bank gehen, weil er einen Scheck einlösen muss, nimmt er sich ein Minzbonbon aus der Schale und schmettert es sofort auf den Boden. “Ich esse ungern das ganze Bonbon auf einmal”, erklärt er mir beiläufig.
Nichts davon schockiert mich. Ich finde es auch nicht peinlich. Immerhin scheint er sich in seinem Leben wohl zu fühlen. Er spricht offen über sein “Koksding”. Nicht etwa, um damit anzugeben oder sein Handeln zu entschuldigen, sondern, um die Realität zu zeigen. Nachdem ich ein Leben im Schatten seiner Geheimnisse und Enttäuschungen gelebt, mir ständig zu erklären versucht hatte, warum er tat, was er tat, sehe ich jetzt zum ersten Mal den Menschen, den ich meine ganze Kindheit über gesucht hatte. Zum ersten Mal bin ich keine Geisel der Hoffnung auf den Vater, den ich mir wünschte – oder der Lügen des Menschen, der er vorgab zu sein. Es ist ein unfassbar befreiendes Gefühl.
Natürlich tut es auch weh. Er beschwert sich pausenlos darüber, seine Zehen nicht spüren zu können. Sein geschwollener Magen schmerze ständig. Als ich ihn anflehe, zum Arzt zu gehen, wimmelt er mich ab. “Ich hatte einen guten Lauf”, sagt er.
Mir dämmert, dass er so ehrlich zu mir ist, weil er sich seiner eigenen Sterblichkeit schmerzhaft bewusst ist. Er hat sich den Drogen verschrieben und lässt sich von ihnen töten. Er will nicht gesund werden. Welches Leben würde ihn auf der anderen Seite auch erwarten? Er ist alt und hat jede zwischenmenschliche Beziehung in seinem Leben zerstört.
Wir haben diese Vorstellung von Sucht, dass Abstinenz immer einen Neustart bedeutet. Das ist alles, was du tun musst: mit den Drogen aufhören. Aber manchmal siehst du nüchtern nur umso klarer, wie sehr du alles versaut hast und dass du keinen Ort mehr hast, an den du gehen kannst. Wenn er das nicht sehen will, kann ich ihm nicht böse sein. Ich hätte da auch keine Lust drauf.
Ein paar Dinge bereue er, sagt er. Er entschuldigt sich dafür, nicht immer für meine Brüder und mich dagewesen zu sein. Er wünsche sich, dass meine Mutter nicht mehr sauer auf ihn ist. Vor allem, sagt er, hasse er, dass die Menschen in seinem Umfeld nur seine Sucht sehen können. Sie würde alles andere, was er in seinem Leben getan habe, überschatten. Klar, Mitleid ist die große Superkraft vieler Suchkranken, aber ich muss tatsächlich darüber nachdenken, dass ich die ganze Zeit vermieden hatte, ihn zu berühren, ihn anzuschauen. Er war halt ein Süchtiger, ein Versager – so hatte ich das vor mir gerechtfertigt.
Im Leben meines Vaters gibt es viel Traurigkeit, aber es gibt auch Zusammenhalt: eine zwischenmenschliche Wärme, die es nur dort unten gibt, wo dich alle vergessen haben – bis auf diejenigen, die mit dir ganz unten sind.
Vielleicht sieht so Vergebung aus. Keine tränenreiche Katharsis, keine große Beichte am Sterbebett. Das hier ist nicht Hollywood. Vergebung im echten Leben ist eine Auswertung, eine ehrliche Abrechnung der Dinge, die du verloren hast, und der Dinge, die du immer noch hast. Das Leben meines Vaters ist traurig, aber ich sehe auch etwas Schönheit darin. Sein ganzes Leben lang hat er jenseits der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft gelebt. Er hat den Wohlhabenden und Wohlerzogenen stets Unwohlsein bereitet – sei es als missratener Teenager oder als alter Mann in der Gosse. Mein Vater hat nach seinen eigenen Regeln gelebt.
Während unserer gemeinsamen Stunden erlebe ich, wie mein Vater mehreren Menschen die Tür aufhält, wie er einer Frau in einer Kita bei einer Lieferung Windeln hilft und wie er sich über die jungen Süchtigen in seinem Bekanntenkreis beschwert, die für ihr Geld nicht arbeiten wollen. Er ist witzig, starrsinnig, heuchlerisch, charmant, sonderbar und liebevoll. Er ist mein Vater und ich bin so froh, dass ich endlich die Gelegenheit habe, ihn kennenzulernen.
Wir verabreden uns für ein weiteres Mittagessen, zwei Tage später. Er wird nie auftauchen.