Seit Jahrzehnten gibt eine kleine schwarze Mumie den Priestern eines alten japanischen Tempels Rätsel auf. Die Kreatur, die aussieht wie eine bizarre Mischung aus Affe und Meerjungfrau, befindet sich wahrscheinlich seit über 100 Jahren im Besitz eines buddhistischen Tempels, der im Jahr 838 in der südjapanischen Präfektur Okayama erbaut worden war.
Zu der Mumie gehört auch ein Brief aus dem Jahr 1903, der die vermeintliche Herkunftsgeschichte des Geschöpfs erklärt. So soll ein Fischer das Mischwesen zwischen 1736 und 1741 aus dem Meer gefischt und an eine wohlhabende Familie verkauft haben. Diese habe es dann später dem Tempel überlassen.
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Das schauerliche Wesen hat einen behaarten Kopf, spitze Zähne und zwei Hände mit jeweils fünf Fingern. Unterhalb des Kopfs ist der Körper mit Schuppen bedeckt. Die Pose der Mumie mit den erhobenen Händen und dem wie zu einem Schrei verzerrten Gesicht erinnert ein bisschen an Edvard Munchs Gemälde “Der Schrei”, nur mehr Affenfisch.
Lange Zeit wusste niemand, worum es sich bei diesem Wesen genau handelte oder wie es in den Tempel gelangt war. Über Generationen hinweg gehörte das schrumpelige Geschöpf mit seinem 30 Zentimeter langen Körper schlicht zum Tempelinventar – bis zum vergangenen Jahr.
Forscherinnen und Forscher der Kurashiki University of Science and the Arts wollten dann doch genau wissen, welches Tier – oder gar Tiere – sich hinter der mumifizierten Figur verbarg. Das Ergebnis ihrer Untersuchung veröffentlichten sie am 7. Februar: Die Mumie ist gar kein Tier, sondern ein Objekt.
“Ausgehend von unserer Analyse und der Geschichte der Mumifizierung in Japan kann man nur schlussfolgern, dass die Meerjungfrauen-Mumie sehr wahrscheinlich von Menschenhand gefertigt wurde”, schreibt der Paläontologe Takafumi Kato, der maßgeblich an der Forschungsprojekt mitgearbeitet hat, in einer E-Mail.
Vor Beginn der Untersuchung wurde spekuliert, ob es sich bei der Mumie um einen Affen handelte, den man mit Teilen eines Fisches zusammengesetzt hatte.
Mithilfe eines Computertomografen und anderer Röntgenverfahren konnten Kato und seine Kolleginnen eindeutig bestimmen, dass die Mumie in Wahrheit vor allem aus Papier, Stoff und Baumwolle besteht. Die Aufnahmen zeigen, dass dem Geschöpf wichtige Skelettknochen wie eine Wirbelsäule, ein Schädel und Rippen fehlen.
Ein paar tierische Elemente hat der Meerjungaffe aber doch. Im unteren Körperteil befinden sich einige Fischgräten, sehr wahrscheinlich von einer Schwanz- oder Rückenflosse. Auch der Kiefer und die Zähne stammen von einem Raubfisch. Arme, Schultern, Hals und die Wangen sind überzogen mit der Haut eines Kugelfischs.
Eine Radiokarbondatierung der Fischgräten ergab, dass die vermeintliche Mumie wahrscheinlich im späten 19. Jahrhundert entstanden ist. Die Forscher konnten allerdings nicht sagen, wer sie gebastelt hat oder warum. Wahrscheinlich hat die Kreatur mit den Sagen über menschenähnliche Wasserwesen zu tun, sogenanntem Meervolk, die es in Japan seit mindestens dem achten Jahrhundert gibt. Zum ersten Mal werden diese Wesen im Nihonshoki erwähnt, einem der ältesten Geschichtsbücher Japans.
Das Buch beschreibt ein Ereignis, das sich um das Jahr 619 herum abgespielt haben soll, als ein Fischer eine Kreatur, die weder Fisch noch Mensch war, in einem Fluss fing.
Neben dem Exemplar aus Okayama sind noch etwa ein Dutzend weitere Meermensch-Mumien in Japan bekannt, allerdings wurde noch keine derartig genau untersucht. Japaner basteln diese Kreaturen seit der Edo-Zeit. In dieser Epoche, die von 1603 bis 1868 dauerte, gab es mehrere große Pocken- und Masernausbrüche. Man glaubte, dass der Anblick dieser Mischwesen Heilung und Glück bringen würde.
Für Kozen Kuida, den obersten Priester des über tausend Jahre alten Tempels, schmälern die Entdeckungen der Forscherinnen und Forscher allerdings keineswegs den Wert der schauerlichen Skulptur: “Es ist das gleiche, wie wenn Menschen vor Buddhastatuen aus Stein oder Holz ihre Hände zusammenlegen. Ich würde gerne weiter diese Mumie mit großer Sorgfalt beschützen und weitergeben.”
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