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Warum packt mich neue Musik nicht mehr?

Als Teenagerin hatte ich Tränen in den Augen, wenn ich Bon Iver hörte. Heute lässt mich neue Musik kalt.
Ein Mann und zwei Frauen schauen ein Konzert, die Autorin hat das Gefühl, dass neue Musik sie nicht mehr so überwältigt wie früher, und fragt einen Psychologen, warum das so ist.
Foto: Raymond van Mil

Als ich 13 war, trug ich eine Kette an meiner Hose und sang laut mit Avril Lavigne: "Why'd you have to go and make things so complicated?". Als 16-Jährige saß ich mit gebrochenem Herzen in meinem Zimmer auf dem Boden und hörte Bon Iver. "And now, all your love is wasted. Then who the hell was I?"

Ich erinnere mich noch an die Gänsehaut, die ich bei Arcade Fire bekam, und die Tränen, die mir beim Portishead-Konzert kamen. Ich war aufrichtig davon überzeugt, dass der Song "Glory Box" mein Leben verändert hatte.

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Jetzt bin ich 29 und Musik bedeutet mir immer noch viel. Wenn ich "Glory Box" höre, habe ich Flashbacks von tanzenden Körpern, den Geruch von Schweiß und Bier, und den Tränen in meinen Augen. Viele meiner alten Lieblingssongs gehören immer noch zu meinen meistgehörten auf Spotify. Ich höre sie mehr als neue Artists wie Big Thief oder Phoebe Bridgers. Die laufen zwar in den letzten Jahren auf Repeat bei mir, aber ich bekomme beim Hören keine Gänsehaut mehr.

Es fühlt sich fast so an, als sei neue Musik nicht so gut wie früher. Aber der Filmemacher John Waters sagte mal: "Nein, die Hit-Alben deiner Generation sind nicht besser als die der heutigen. Sobald du aufhörst, neue Musik zu hören, ist dein Leben vorbei. Du bist ein Furz."

Aber warum packt mich neue Musik nicht mehr so? Um das zu klären, habe ich Tom ter Bogt angerufen. Er ist Kulturpsychologe und Dozent für Popmusik an der Universität von Utrecht. In seiner Forschung hat er sich intensiv mit der Entwicklung des Musikgeschmacks beschäftigt.


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VICE: Mir ist aufgefallen, dass ich in letzter Zeit Musik nicht mehr so sehr vergöttere wie damals, als ich Teenager war. Warum ist das so?
Tom ter Bogt:
Vielen Menschen geht es so. Es gibt im Grunde zwei Phasen im Leben eines Menschen, in denen Musik eine wichtige Rolle spielt: in der Jugend und im hohen Alter. Zwischen 14 und 22 ist Musik der Soundtrack zu all deinen Erfahrungen – und in dieser Phase erlebst du eine Menge: Du löst dich von deinen Eltern, verbringst mehr Zeit mit Freunden und die meisten Menschen machen erste Erfahrungen mit romantischen Beziehungen und erkunden ihre Sexualität. Das sind allesamt wichtige Schritte auf dem Weg zum Erwachsenwerden und Musik passt da sehr gut. Musik handelt oft davon, was es bedeutet, jung zu sein, sich zu verlieben und verlassen zu werden. Aus diesem Grund ist Musik sehr wichtig in dieser Lebensphase.

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Das ist auch die Phase, in der sich dein Musikgeschmack herausbildet. Wir haben beobachtet, dass dieser mit 14 bereits teilweise geformt und mit 22 dann ausgereift ist. 

Ich werde also den Rest meines Lebens die Musik hören, die ich auch als Teenagerin mochte?
Dein Musikgeschmack ändert sich nach 22 tatsächlich nicht mehr groß. Natürlich kannst du weiter neue Musik entdecken, aber sie wird immer in der ein oder anderen Weise mit der Musik verbunden sein, die du als Teenagerin mochtest.

Ich persönlich stand zum Beispiel früher sehr auf Disco und Dance. Als die neue elektronische Musik aufkam, fand ich das sofort interessant. Außerdem liebte ich Soul, was sich dann auf meine Vorliebe für R'n'B und HipHop übertrug. Und wenn ich eine schöne Indie-Rockband höre, erinnert mich das an die New-Wave-Musik der 70er. 

Wie genau entwickelt sich der Musikgeschmack im Teenageralter?
Dein Musikgeschmack ist von der Zeit geprägt, in der du lebst. Im 17. Jahrhundert hatten Menschen andere Geschmäcker als heute. Auch der Ort, an dem man lebt, ist wichtig. In China und Nigeria hört man teilweise andere Musik als hier. Fröhliche Songs mit einem Vierviertelbeat scheinen aber fast überall gut zu funktionieren.

Abgesehen davon spielen die Eltern eine wichtige Rolle in der Bildung des Musikgeschmacks, wenn auch nicht so sehr wie der Freundeskreis. Untersuchungen haben gezeigt, dass es in beide Richtungen funktioniert: Dein Musikgeschmack spielt eine Rolle dabei, wie du deine Freunde aussuchst, im Gegenzug beeinflussen deine Freunde deinen Musikgeschmack. 

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Mein Bruder steht sehr auf Heavy Metal, aber ich selbst nicht so. Dabei sind wir im selben Umfeld aufgewachsen mit denselben Eltern und haben beide Philosophie studiert. Wie erklärst du den Unterschied?
Es klingt furchtbar klischeebehaftet, aber ich sage es trotzdem: Frauen hören tendenziell eher weniger krachige Musik. Im Bereich der Rockmusik verschwinden die Geschlechterunterschiede erst seit einigen Jahren langsam. Aber Death Metal und so Grunzgesang sind zum Beispiel im Schnitt weniger unter Frauen beliebt. Natürlich hat auch deine Persönlichkeit einen Einfluss auf deinen Musikgeschmack. 

Inwiefern?
Meine eigenen Untersuchungen haben gezeigt, dass Rockfans zum Beispiel ein bisschen unordentlicher sind. Sie räumen seltener ihr Zimmer auf. Außerdem sind sie häufig etwas depressiver als der Durchschnitt und sozial ein bisschen unbeholfener. Menschen, die Mainstream-Pop mögen, sind in der Regel etwas fröhlicher. HipHop-Fans sind tendenziell sozialer und darauf aus, Verbindungen mit anderen Menschen zu knüpfen. Fans klassischer Musik sind wiederum offen für Neues.

Aber diese Korrelationen zwischen Musikgeschmack und Persönlichkeit sind nicht sehr stark. Es gibt auch sehr ordentliche Rockfans und schlechtgelaunte Popfans. 

Was kann ich denn tun, damit mich neue Musik wieder voll umhaut?
Es kann helfen, Musik zu hören, die zu deiner aktuellen Stimmung passt. Auf einer ausgelassenen Party willst du ja nicht unbedingt was Deprimierendes hören. Außerdem hilft es, wenn du dir Songs raussuchst, die der Musik ähneln, die du als Teenagerin entdeckt hast. Algorithmen können dabei helfen. 

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Was ist mit Drogen?
Musik ist selbst eine Art Droge. Musik gibt es so lange, wie es Menschen gibt – sie ist tief in unserem Gehirn verankert. Wir haben noch nie eine Kultur entdeckt, in der es keine Musik gab.

Aber bestimmte Drogen wie Ecstasy erlauben eine intensivere Wahrnehmung von Musik. Interessant ist daran allerdings, dass man die Musik auch nüchtern mögen muss. Wenn sie dir sonst nicht gefällt, werden auch Drogen das nicht plötzlich ändern. 

Warum wird Musik wieder wichtig, wenn man alt ist?
Wir beobachten, dass Menschen, die unter Alzheimer leiden, manchmal nicht mehr ihre eigene Familie erkennen, sich aber noch an die Musik aus ihrer Kindheit erinnern können. Musik ist das Allerletzte, was aus der Erinnerung eines Menschen verschwindet.

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