Menschen

Wie ich gelernt habe, meine Zwangsstörung zu akzeptieren

Manchmal fragte ich mich, ob David Beckham auch Fotos von geschlossenen Fenstern macht, bevor er das Haus verlässt.
Die Autorin hält Putzmittel vor einem roten Hintergrund; sie erzählt, wie sie gelernt hat mit ihrer Zwangsstörung umzugehen
Anna: Maja D.  Bakterienkultur: imago images / Peter Widmann || Montage: VICE

Die Jugendstationen hießen Jupiter und Neptun. Als wäre eine Psychoklinik für eine 13-Jährige nicht schon fremd genug. Vom Konferenzraum aus konnte ich die Eingangstüren sehen. Sie waren mit Fensterfarben dekoriert. Konfetti, Clowns und Partyhüte umrahmten den Schriftzug Neptun. Ich stellte mir vor, wie mühselig es sein musste, die Farbe von der Scheibe abzukratzen. 

Bevor meine Eltern nach Hause fuhren, nachdem sie mich abgesetzt hatten, drohte ich nichts mehr zu essen, wenn sie mich nicht wieder mitnahmen. Abends gab es dann Filet Madagaskar. Und so wie Toast Hawaii ein Hauch Exotik auf die Couch vor den Abgründen des Prime-Time-Fernsehens bringt, versprach uns dieses Filet, dass hier nicht alles aufhört, dass es noch eine Welt da draußen gibt. Madagaskar. Das fand ich schrecklich unfair.

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In meiner Familie erzählt man sich öfters die Geschichte, dass ich als Zweijährige ganze Nachmittage auf den Steinplatten saß, die den Sandkasten umschlossen, weil mir dieser Sandkasten auf der einen und die Wiese auf der anderen Seite zu dreckig waren. Kommen sehen wollte es trotzdem niemand.

Ich wurde 13. Mit dem Teenageralter kam meine Zwangsstörung. Nach dem ersten Verknalltsein und noch vor dem Wunsch, immer mit zerrissenen Strümpfen in die Schule zu gehen. Angefangen hatte es mit Schritte zählen und exzessivem Händewaschen. Ich hatte Angst vor allem. Vor schlechten Noten in Bio, dem Tod, Schimmel. Dabei blieb es nicht. Jede Routine wurde ausführlicher, komplizierter, als würde ich verschiedene Stufen in einem Videogame durchspielen, nur um dann in höheren Levels festzustellen, dass die Gegner jetzt auch noch von oben kommen. 

Nach einigen Monaten reihten sich meine abendlichen Zwangshandlungen zu einer so langen Abfolge aneinander, dass ich nicht mehr in die Schule gehen konnte, weil ich kaum noch schlief. Als ich nach drei Stunden duschen noch nicht aufgehört hatte, stampfte mein Vater in den Keller und drehte das Wasser ab. Und dann heulten wir, ich hinter und meine Eltern vor der Badezimmertür, als müssten wir das fehlende Wasser kompensieren. 

Also dann. Jupiter. Neptun. Filet Madagaskar.

In der Klinik, taten wir alle das, was wir am besten konnten. Ich wusch meine Hände, meine Mutter machte sich Sorgen und mein Vater kanalisierte jede Gefühlsregung in den Wildwuchs  seines Barts. Nach ein paar Wochen sah er aus wie ein Schiffbrüchiger. Seit Monaten gestrandet auf einer einsamen Insel. Die Tage gezählt. 

Ich zählte die Schritte zwischen Dusche und Waschbecken. Insgesamt verbrachte ich vier Monate in der Klinik. Sie liegt in der Schweiz in einem Dorf, in dem man nur rechts oder traurig sein konnte. Wir waren traurig. Auf den Spaziergängen in umliegenden Wäldern sagte ich wenig. Ein Typ aus meiner Station erklärte mir die gesamte Storyline von Halo. Ich war beruhigt, dass es eine Welt gab, in der ich nichts zu regeln hatte.

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Meine Therapeutin in der Klinik hatte lange blonde Haare, die ihr bis zum Po reichten. Sie hatte wohl Probleme mit Veränderungen, dachte ich und schämte mich dafür, wie sie mir ihre Komplexe präsentierte. Ich fand sie unsympathisch, weil sie mir alles glaubte.

Manchmal bekam ich Briefe von Klassenkameraden. Manchmal verbot ich mir sie zu lesen. Dann versteckte ich den Brief unter den gebrauchten Papiertüchern im Badezimmer und wusch mir lange die Hände. Ein Mädchen mit Schizophrenie sah oft einen Mickey Mouse in der Topfpflanze und stieß dann den Kickertisch um. 

Der Tag in der Klinik, der sich weniger schwer anfühlte als die anderen, war das Royal Wedding von Kate und William. Da durften wir auf den Sofas essen. Während der Frühlingsferien machten wir Ausflüge. Im Technikmuseum zugedröhnt mit 60mg Serotonin-Wiederaufnahmehemmern schaute ich einem Perpetuum Mobile zu oder machte riesige Seifenblasen. Was für eine 13-Jährige verwirrend war, klingt wie das perfekte Date für jedes Eso-Pärchen. 

Eine Geheimsprache

Die Jahre danach klammerte ich mich an jeden noch so kleinen Fetzen Repräsentation von Zwangsstörungen in Büchern und Filmen. Silver Linings Playbook. We Have Always Lived in the Castle. Manchmal googelte ich, welche Promis Zwangsstörungen haben und fragte mich, ob David Beckham auch Fotos von seinen geschlossenen Fenstern macht, bevor er das Haus verlässt. Aber dann nicht nur eins, sondern 13 oder 23 oder bis es sich richtig anfühlt.

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Wenn ich Leuten etwas von mir preisgebe, würde ich manchmal gerne alles zurücknehmen. Meine Zwangsstörung gehört nur mir. Viel umfangreicher und weniger vergänglich als ein Geheimnis. Sie ist eine Art mich selbst zu verstehen. Eine Geheimsprache. Eine, wenn nicht nur für mich selbst, zwischen mir und Leuten, die verstehen, dass die Tür erst zu ist, wenn es sich so anfühlt. 

Auf dem Weg zu einer Party lerne ich das Tinderdate eines Freundes kennen. Wir zeigen uns gegenseitig die Fotos von unseren ausgeschalteten Herdplatten. Sie sagt, sie hätte Angst, dass sie Zuhause die Speedreste nicht vom Spiegel gewischt hätte. Sie hätte nämlich Katzen. 

Mir fällt es schwer, meine Zwangsstörung zu personifizieren, sie von mir abzuspalten, ihr eine Identität zu geben. Denn eigentlich geht es dabei um etwas, was mich ausmacht. Dieser “Alles ist möglich”-Optimismus klingt eher wie eine Drohung. Nichts ist gruseliger als Potential. Vielleicht will ich nicht, dass der Zufall für mich gilt. Eigentlich geht es um die Angst davor, die Verantwortung für das eigene Leben zu haben und trotzdem nicht komplett in Kontrolle zu sein. Manchmal frage ich meine Großmutter, ob sie für mich beten könne. Ich selbst glaube nicht an Gott. Ich glaube an meine Zwangsstörung, aber die ist weniger zuverlässig. Klar, eine Krankheit ist keine Religion. Manchmal glaube ich aber, dass ich mit meiner Zwangsstörung nach ähnlichen Dinge gesucht habe, wie meine Großmutter in der Kirche. Der Wunsch nach einem Sinn, die Ablehnung von Zufall. 

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Weniger Schicksal, mehr Zufall 

Trotzdem lähmt nichts mehr als die Panik, wenn sie sich in meinem Magen breitmacht. Manchmal kann ich mich nicht davon abhalten, eine Zwangshandlung auszuführen, wenn mein Hirn wieder einmal Zusammenhänge sieht zwischen dem Nicht-berühren einer Türklinke und dem Ende der Welt. In einem Lied, das mir der Apple Music Algorithmus empfiehlt, singt ein Indie-Sänger: “I count the steps you take. It makes my stomach ache.”

Mittlerweile ist weniger Schicksal in der Berührung eines Gullis mit meinem Fuss. Manchmal schließe ich meine Tür noch zweimal ab. Vor ein paar Wochen wollte ich einen Typen entblocken, weil ich zu einer Erkenntnis gekommen war, die ich gebraucht hätte, um eine unserer Diskussionen zu gewinnen. 

Manchmal lassen mich Gedanken nicht los. Die Zwangsgedanken sind noch in der Art wie ich Texte schreibe oder mit Leuten spreche. Wenn ich nervös bin oder wenn mir etwas wichtig ist, taucht sie wieder auf. Wahrscheinlich habe ich jeden dieser Sätze schon durch die Gedankenspirale gejagt. Ich frage mich aber nicht mehr, wo ich aufhöre und meine Zwangsstörung anfängt.

Meine Tante sagte, dass ich mir was wünschen sollte, wenn mir eine Wimper ausfällt. Ich stehe unter dem Duschstrahl und frage mich ob, die zwei Wimpern auf meinem Zeigefinger sich gegenseitig aufheben oder den Wunsch verstärken. Vielleicht überlasse ich das dem Zufall.

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