Leben und Tod in Kobanê

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The Borders Issue

Leben und Tod in Kobanê

Kaum eine Gegend hat so unter dem syrischen Krieg und dem IS gelitten wie die Grenzstadt Kobanê. Unser Autor beschreibt seine Erlebnisse vor Ort.

Fotos von Giacomo Maria Sini. Illustrationen von Michael Taussig.

Aus The Borders Issue

Dieser Essay ist eine Adaption aus To Dare Imagining: Rojava Revolution, herausgegeben von Dilar Dirik et al., Autonomedia, Brooklyn, 2016. Die Fotos stammen aus Giacomo Maria Sinis Reihe On the Route to Kobane, entstanden zwischen Februar und September 2015.

In Kobanê werden in der Schlacht Gefallene ins Haus der Märtyrer gebracht, gewaschen und ihre Wunden genäht. Dann kommt die Familie und die Leiche wird begraben.

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Im Inneren des Gebäudes befindet sich ein hoher Raum von der Größe eines kleinen Fußballfelds, der nichts enthält als einen Holztisch, auf den die Leichen gelegt werden.

Mitten in dieser immensen Leere, nichts als ein einfacher hölzerner Tisch, der das Gewicht all jener tragen muss, die schon gestorben sind und noch sterben werden.

Es gibt eine Hinterbliebenenrente für die Familien der Gefallenen: circa 180 Euro jeden Monat. Verwandte und besorgte Mitmenschen gründen Unterstützungsgruppen, die sich wöchentlich treffen. Außerdem besuchen zwei Männer und zwei Frauen aus dem Haus jede Woche die Familien der Märtyrer und versuchen, bei Problemen zu helfen.

Die 120-tägige Belagerung der Stadt durch den Islamischen Staat, die mit dessen Rückzug Ende Februar 2015 endete, wurde mit der Belagerung von Madrid 1936 durch die spanischen Faschisten verglichen, weil das Größenverhältnis der Armeen ähnlich ungleich war und wegen der überraschenden politischen Konstellationen. Seit 2011 ist Berichten zufolge das an der türkischen Grenze liegende Kobanê zu einer feministischen, anti-patriarchalen—und laut manchen auch anarchistischen—Enklave geworden, zusammen mit zwei weiteren Kantonen im kurdischen Syrien, von Kurden Rojava ("Westen") genannt. Dies ist für ein Gebiet in Nahost eine wahrhaft erstaunliche Entwicklung, und erstaunlich ist auch, wie wenig bekannt diese Tatsache in westlichen Ländern ist.

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Nach der Belagerung wurde vorgeschlagen, drei schwer zerbombte Stadtteile nicht wieder aufzubauen und in Teilen nach Märtyrern zu benennen.

Die Ruinen sind furchterregend und erhaben—in der Tat monumental.

Die Besitzer der Gebäude allerdings wollen ihr Eigentum restauriert sehen.

Und dann gibt es da die Hunde, die so gar nicht monumental, sondern nur furchterregend sind.

Man sagte uns, sie kamen aus dem Nichts, um die Leichen zu fressen. Sie wurden fett, dann wurden sie toll und man tötete sie.

Die Leute erzählten diese Geschichte öfter. Manchmal schien es die einzige Geschichte zu sein. Es war, als solle sie die Belagerung zusammenfassen, doch eigentlich widersetzte sie sich jeder Interpretation. Man kratzte sich am Kopf. Es war zu viel. Hunde. Die besten Freunde des Menschen.

Es gab noch eine weitere Geschichte bei den Einheimischen. Im verzweifelten Versuch, den bewaffneten Fahrzeugen und Panzern des IS etwas entgegenzusetzen, machten die Kämpfer von Kobanê Bagger zu Kriegsgerät, indem sie sie mit zwei Zentimeter dickem Stahl verkleideten—wie bei Mad Max. Übers Handy konnten sie die ungläubigen IS-Stimmen hören (so heißt es in der Geschichte): "Da kommt irgendwas!"

Die Einheimischen sagten, man könne nachts noch die Leichen der IS-Kämpfer aus den Ruinen riechen. Das tat ich nie, und später fragte ich mich, ob das wohl die Konvergenz von politischer Geschichte und Naturgeschichte zum Ausdruck brachte, über die Walter Benjamin in Der Ursprung des deutschen Trauerspiels schrieb—eine Konvergenz, die übernatürlich wird, wenn der Tod in die versteinerte, zeitlose Landschaft übergeht.

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Um nach Kobanê zu gelangen, musste ich an der Grenze auf die Erlaubnis der Türkei warten. Es war Mai 2015. Obwohl die türkische Regierung mutmaßlich IS-Kämpfer durchgelassen hat, ist die Grenze ansonsten geschlossen. Landminen liegen überall im Niemandsland; Schmugglern wird geraten, ihre Esel vorauszutreiben, um die Route zu testen. Als Ausländer konnte ich legal nach Syrien, aber nicht ohne die Erlaubnis des von Ankara eingesetzten Gouverneurs von Suruç (eine ethnisch größtenteils kurdische Grenzstadt).

Im Kulturzentrum von Suruç erklärte mir ein Kette rauchender Schmuggelexperten die Gefahren der illegalen Grenzüberquerung. Das Risiko, bei der Rückkehr in die Türkei erschossen oder festgenommen zu werden, läge bei 1:1.000, sagte er. Dann machte er einen Anruf und sagte: "Nein! 1:100." (Zwei Monate später griff ein IS-Selbstmordattentäter das Kulturzentrum und die Freiwilligen dort an, die auf dem Weg nach Kobanê waren.)

Während ich auf meine Audienz beim Gouverneur wartete, fuhren wir zur Grenze und sahen hinüber. Hunderte kurdisch-syrischer Flüchtlinge hatten die Belagerung von hier aus verfolgt. Zwei alte Eisenbahnwaggons in der Ferne erinnerten an die osmanische Eisenbahn, die Anfang des 20. Jahrhunderts von den Deutschen gebaut wurde, um Bagdad mit Berlin zu verbinden (man stelle sich vor!). Ein blitzblanker Panzer und eine riesige türkische Flagge standen an der Grenze Wache. Auf der türkischen Seite erntete man in gemächlichem, vom Krieg unbeeindruckten Tempo den Winterweizen.

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Nach zwei Tagen stufte der Gouverneur uns als "Menschenrechtsarbeiter" ein und erlaubte uns den Grenzübertritt. Wir brauchten einen Polizeistempel. Auf der Bank im Polizeirevier nickte ich beim Warten ein. Ein Mann kam mit einem fingerlangen Papierstreifen und wies mich an, den Namen meines Vaters aufzuschreiben. Er ging wieder. Ich schlief noch etwas. Es schien Stunden zu dauern. Er kam wieder mit einem Papierstreifen; diesmal brauchte er den Namen meiner Mutter. Ich schlief wieder. Plötzlich war es vorbei—anscheinend hatten die Beamten alles endlich in ihre Handys getippt.

Die Osthälfte von Kobanê ist eine gigantische Ruine voller Hitze und Stille. Dank dem IS und den stetigen Bombardements der USA wirkten die Gebäude allesamt wie bröckelnde Mausoleen. Sie hatten etwas Anziehendes, mit ihrem stillen Leid und ihren nie gehörten Geschichten. Als er hörte, dass ich aus der westlichen Welt kam, dankte mir ein alter Mann unter Tränen.

Ein anderer Mann trug einen Eimer Zement umher und reparierte damit die niedrige Mauer um die Ruine seines Hauses. Er war ein geduldiger Mann: Um den Zement zu kaufen, hatte er erst ein paar Monate in der Türkei arbeiten müssen. Wiederaufbau. Im Schneckentempo, Stein um Stein, vor dem lodernden Orange der Granatapfelblüten. Die Ziegel aus den umliegenden Ruinen wollte er nicht nehmen, denn die gehörten schon jemandem. In 50 Kilometern Entfernung kämpfte der IS. Vielleicht noch näher. Gerüchte. 50.000 Olivenbäume haben sie in dieser Woche abgebrannt. Gestern kurdische Kämpfer getötet. Überall Minen. Ein junger Mann zeigte seine zwei Billardtische, der grüne Filz überzogen mit dem Staub der Zerstörung. Die Billiardkugeln hatte der IS mitgenommen.

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Ich war auf Dolmetscher angewiesen und überfordert von den rasanten Entwicklungen sowie der Komplexität der anhaltenden Kriege, also machte ich unendlich viele Notizen. Ich war fasziniert davon, wie fremd alles war—die Offenheit der Menschen, ihre unglaubliche Großzügigkeit, die Einzigartigkeit ihrer Situation in Nahost, vielleicht sogar in der Welt.

Die männlichen Kämpfer, denen ich begegnete, hatten auf dem linken Oberarm der Tarnuniform ihr Abzeichen, einen Stern auf gelbem Grund, doch bei den Frauen war der Hintergrund grün—"für die Umwelt", sagte mir eine Kämpferin. Sie sagen, sie kämpfen für Feminismus, ethnischen Pluralismus und für das Land. Um die Taille tragen Frauen wie Männer oft einen breiten Gürtel mit traditionellen Mustern, doch darüber gibt es noch einen dünneren Gürtel, an dem Granaten hängen. Eine seelenruhige Frau um die 30 mit randloser Brille erklärte uns, wie sie sich umbringen würden, wenn der Tod durch den IS sicher schien.

Mit einem Finger fischte sie eine Granate aus ihrem Gürtel.

Ich bemerkte immer wieder das Körperliche: Die Männer waren alle recht dünn; wir schliefen nach Geschlechtern getrennt; Schuhe ausziehen, wenn man das Haus betritt; die Toilette war eine Bodenöffnung in Schlüssellochform (wie in dieser Kultur doch alle in der Hocke sitzen können!); das Essen, vor allem die großen flachen Weizenbrote, die gleichzeitig als Essen, Löffel und Teller dienten (Weizen und Roggen wurden in der Osttürkei, also Kurdistan, erstmals domestiziert); auf dem Boden sitzend essen, die Beine verknotet wie ein Brotteig; die unglaubliche Menge an Zigaretten, die der türkische Chirurg und die Gesundheitshelfer rauchten; das Fehlen von Alkohol und das Schweigen des Muezzins. Doch diese Gürtel, mit und ohne Granaten, haben, zusammen mit der Kultur des Zölibats, den tiefsten Eindruck bei mir hinterlassen.

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Fühlte ich, ein netter weißer Junge aus einer australischen Vorstadt, mich etwa von diesen Kämpferinnen mit ihrer Aura von Zölibat und Selbstmord verführt?

Besucher beobachten sie unweigerlich genau, denn Kriegerinnen sehen wir heutzutage meist nur noch in anzüglichen Fantasy-Bildern und Waffenkalendern. Weibliche Guerilla-Einheiten rufen in allen Teilen der Welt besondere Angst, Bewunderung und Fragen wach.

Die Frauen sprachen vom kollektiven Suizid, falls der IS sie umzingeln sollte. Sie sprachen davon, sich auf dem Schlachtfeld auf eine sterbende Genossin zu legen und mit ihr auf den Tod zu warten. Wenn man starb, sollte man sich vorher per Handy entschuldigen und dann das Telefon sowie alle Codes und Waffen loswerden.

Den Fokus auf die Selbstopferung fand ich seltsam, und mir wurde unwohl dabei, vor allem weil die Frauen dabei so ruhig und zuversichtlich wirkten.

Sie erzählten auch von IS-Kämpfern, die sie übers Handy hören konnten. Diese sprachen hauptsächlich Englisch oder Tschetschenisch statt Arabisch. Gespräche mit dem IS wurden mir geschildert: "Wir köpfen euch", sagen sie. "Ihr seid Ungläubige und Schweine." Und doch machen diese Frauen ihnen Angst, denn Berichten zufolge glauben viele IS-Mitglieder, dass sie nicht ins Paradies gelangen können, wenn eine Frau sie tötet.

Eines Tages saßen wir, vier Frauen und sechs Männer, im Garten eines zweistöckigen Bauernhauses 30 Kilometer vor Kobanê—etwa diese Entfernung von der Front galt als sicher. Die Obstgärten und mit Disteln überwucherten Felder in unserer Umgebung verbargen IS-Minen und -Fallen. Um dorthin zu gelangen, hatten wir eine Geisterstadt durchquert, die mir größere Angst einjagte als die Ruinen von Kobanê. Ich fragte mich, warum. Weil die Menschen fehlten? Weil es keine Ruinen gab? Weil die "Front" so undefinierbar war?

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Ein mit Matratzen und Möbeln vollgeladener Karren. Alle Fenster im Ort waren zerstört. Türen schlugen im Wind. Ein Schatten bewegte sich—ein schlanker Guerillakämpfer winkte unserem Fahrer aus einer Türöffnung (eine Fahrerin sah ich nie). Der Fahrer war 19, sehr ernst und trug das schwarze Haar nach vorn über die Stirn gebürstet. Im Schulterholster hatte er eine Pistole, im Schoß eine AK-47 und beim Schaltknüppel eine M-16. Mein kurdischer Freund Ismet erklärte mir, die AK-47 sei für Salven, während die M-16 für einzelne, gezielte Schüsse sei.

Am Bauernhaus kochte das Teewasser über einem Holzfeuer, dessen Rauch sich mit dem unzähliger Zigaretten vermischte. Hinter einer mit Autoreifen verstärkten Mauer tauchte die Spitze eines Minaretts auf—das erste, das ich in Syrisch-Kurdistan sah. Ein seltsam orange-schwarzes Schaf lag wie tot in der Ecke und ließ sich durch nichts davon beeindrucken.

Ich saß mit einer der seltenen gemischtgeschlechtlichen Kampfeinheiten zusammen. Sie waren alle in ihren 30ern und trugen Uniformkleidung. Die Frauen, die das Gespräch dominierten, trugen weite, Salwar genannte Hosen. Eine Frau konnte Englisch und hatte zwei Brüder, die an amerikanischen Elite-Unis Elektrotechnik studierten. "Was halten sie von ihrer verrückten Schwester?", fragte ich. Doch bevor sie antworten konnte, hatte Nazan, meine türkische Kollegin, eine wichtigere Frage für einen der schweigsamen Männer, deren zerfurchte Gesichter ich später zeichnete.

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"Wie haben Frauen eure Kampfmoral beeinflusst?", fragte Nazan auf ihre direkte, resolute Art. Seine Antwort wurde in möglichst kurzen Sätzen gedolmetscht (was sie ein bisschen wie eine Reihe Slogans klingen lässt): "Die Männer versuchen, die Welt durch die Augen der Frauen zu sehen, zu sein wie sie. Frauen sehen die Welt anders. Wir fühlen uns mit ihnen stärker. Wir kämpfen immer zusammen. Manchmal haben wir eine Kommandantin. Sie können richtig hartgesotten und grausam sein. Dann wieder ein Kommandant. Jeden Tag werden Aufgaben gleichberechtigt erledigt. Frauen sind die Hälfte der Gesellschaft; sie sind nicht länger die Sklavinnen der Männer."

Wenn es Slogans waren, dann ganz sicher nicht von der Sorte, wie man sie anderswo oft hört.

Sie brachten Trauer über ihre Verluste zum Ausdruck und Freude über die Rückkehr der einheimischen Bauern—trotz Minen. Man würde wohl erst im nächsten Jahr wiederanbauen können.

Offensichtlich gab es einen großen Bedarf an Minen­räumexperten. Ich konnte nicht verstehen, warum keine im Einsatz waren und warum niemand besorgt wirkte. Es war, als seien Minen einfach ein unausweichlicher Teil der Natur.

Später stieß ich in Kobanê auf vier verwirrt dreinblickende, stämmige Kerle mit riesigen Rucksäcken—eben eingetroffene Minenexperten des neuseeländischen, britischen und französischen Militärs, beauftragt von einer dänischen NGO. Sie sagten, sie würden sich wegen der Sprengfallen Sorgen machen. Vier Personen, das wirkte auf mich extrem unzureichend; zum Glück sagten sie mir, sie hätten vor, die Einheimischen auszubilden.

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Ich bekam das Gefühl, dass Kobanê sich nicht so sehr in einer Revolution seiner Ideologie befand, sondern sogar seiner Kosmologie—absolut alles veränderte sich, von Grund auf.

Dann fragte ich mich: "Aber was ist mit dem IS? Ändert der nicht auch alles von Grund auf?"

Sehen wir uns einer Art Hegelschem Moment gegenüber, in dem zwei diametral entgegengesetzte Mächte auf der Weltbühne erschienen sind? Wird die dialektische Aufhebung gerade in Nahost demonstriert?

Die anarchistischen und feministischen Kämpferinnen und Kämpfer von Rojava gelten als "mitfühlende Außenseiter". Ich fragte mich, wie verbreitet ihre Ansichten bei den "gewöhnlichen" Leuten in Kobanê und den anderen kurdischen Kantonen Syriens waren. Doch ich konnte es nicht wissen, vor allem weil die Menschen bei meinem Besuch von der Belagerung noch völlig traumatisiert waren.

Als ich eines Tages durch den Staub der windigen Ruinen lief, wurde ich enthusiastisch von ein paar wohlgenährten und gut gekleideten Kindern begrüßt. Ihre Mutter war in ihren 40ern, trug ein langes gelbes Kleid und erzählte wortreich vom Widerstand gegen die Belagerung, ohne ein einziges Mal Luft zu holen. Sie schien wirklich reden zu wollen—zu müssen—und die Kinder hingen an ihren Lippen. Ein Zehnjähriger hatte eine Spielzeugkamera, mit der er uns fotografierte, wie wir Kobanê fotografierten. Die Frau erzählte trocken und sachlich (zumindest wurde es so gedolmetscht), wie Herodot in seinen Historien. Eins der Mädchen schlief immer mit Schuhen, erzählte sie mir. Und dort drüben gab es ein schönes Juweliergeschäft, das vom IS vernichtet wurde. Als der Inhaber das sah, wurde er wahnsinnig. Sie sprach noch lange.

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Doch als wir ihren verletzten Mann in ihrem halb zerstörten Betonhaus trafen, saß sie mucksmäuschenstill mit ihren Töchtern auf dem Balkon, umgeben von rosa Oleander. Der Mann hatte durchgehend das Wort, bis irgendwann eine Zehnjährige wunderschöne kurdische Kampflieder sang, mit einer klaren, schallenden Stimme, die klang wie Wind, der durch Hochspannungsleitungen fährt.

Der Außenminister fuhr in einem bescheidenen Auto vor und nahm an unserem Gespräch teil. Er saß still da, ein eleganter Mann Anfang 50 mit nachdenklichem Gesicht. Er hatte in Somalia investiert, doch das hatte er hinter sich gelassen, um seine Heimatstadt Kobanê gegen den IS zu verteidigen.

Die Politiker werden Wesir genannt, ein arabisches Wort, das die Kurden für "Minister" verwenden. Obwohl alle Ämter im kurdischen Syrien von Männern und Frauen bekleidet werden sollen, und ich überall selbstbewussten Kämpferinnen begegnete, sah ich in Kobanê nie eine Kopräsidentin—dafür eine Englischübersetzerin und Sekretärinnen. In dem schwarzen Luxusauto, das Minister aus Kobanê über die Grenze in die Türkei brachte, als wir gerade Syrien erreichten, saßen auch keine Frauen. Und so sehr Frauen auch gefeiert werden, ist es immer ein Mann—der inhaftierte kurdische Anführer Abdullah Öcalan—dessen Bild offizielle Örtlichkeiten ziert. Öcalan besteht auf Konföderalismus und Feminismus, wobei er mit Letzterem nicht nur Fokus auf Frauen, sondern auch die Neuerfindung des Mannes meint.

Im Gespräch mit einem Mann, dessen Töchter Kämpferinnen waren, fragte ich mich, wie es wohl ist, seine Töchter an die Guerilla zu "verlieren". Es heißt, nur wenige Mitglieder der syrisch-kurdischen Einheiten und der PKK-Guerilla würden ihre Familien wiedersehen, und da beide Geschlechter im Zölibat leben müssen, bekommen sie wohl auch keine Kinder.

Das Zölibat wird damit begründet, dass es die Familien der Frauen beruhige, die sich vielleicht um ihre Ehre sorgten, und damit, dass romantische Beziehungen der Arbeit nur in die Quere kämen und man so seine Liebe auf die Gruppe konzentriere.

Bieten die kurdischen Guerillas also ihren Frauen und Männern eine neue "Familie"? Ein Staat, der auch gleichzeitig ein Anti-Staat ist, kombiniert mit etwas wie einer Familie, dass aber auch eine Anti-Familie ist?

Sind die Guerillas spezielle Kasten, deren Mitglieder in harmonischer Distanz zum Körperlichen leben, wie christliche Nonnen und Mönche, nur mit M-16 und Panzerfäusten?

Ist das Zölibat der Initiationsritus in die geheime Gesellschaft der Kriegerinnen und Krieger, wie es laut dem Anthropologen Pierre Clastres beim amerikanischen Volk der Mandan die Folter war? Soll diese "Folter", wenn man so dazu sagen kann, vor der Ballung von Macht und der Entstehung eines Staates schützen?

Die kurdischen Guerillakämpferinnen sind ein in Nahost und auch weltweit einzigartiges Phänomen. In Israel, das oft im Hinblick auf Soldatinnen erwähnt wird, liegt der Frauenanteil in Kampfeinheiten bei drei Prozent, während es bei den Kurden vielleicht 40 Prozent sind. Die meisten Frauen im israelischen Militär sind Bürokräfte, Krankenpflegerinnen und Fahrerinnen—und dann werden im Internet hübsche Frauen abgebildet, die sich an Maschinengewehre schmiegen.

Die Guerilla-Armeen in den Bergen und Städten von Nahost existieren nur physisch außerhalb der Gesellschaft; spirituell sind sie noch Teil davon, und somit haben sie großes mystisches Potenzial (was durch die Bezeichnung "Terrorist" unweigerlich verstärkt wird). Doch hier in Kurdistan erhält ihre Aura eine sexuelle Dimension, die von der negativen, magischen Macht herrührt, die das Patriarchat Frauen so lange zugeschrieben hat. Als das "andere Geschlecht", das Geschlecht der linken Hand und des bösen Blicks, der furchterregenden Menstruation und Schwarzmagie, wurden sie mit Tabus wie dem Ehrbegriff und dem Schleier eingeschränkt. Nicht umsonst hat der Ethnologie-Pionier Marcel Mauss Frauen und den Tod als die Quellen gefährlichen magischen Potenzials in der Menschheitsgeschichte bezeichnet.

Das Geniale, der alchemistische Schritt, ist die Umkehrung dieses Negativen in ein Positives, während das Negative als versteckte Macht—die sich mit Gewehren und Granaten Bahn brechen kann—droht. In Kobanê erzittert das Patriarchat, jetzt da die Dämonin, die es selbst erschuf, aus den Trümmern steigt. Und der Islamische Staat fürchtet nichts so sehr wie den Tod durch eine Frau.