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Ist Gin Tonic der neue Wodka-Energy?

Der Gin Tonic hat die Dorfdiskos erreicht. Doch was erklärt seinen Hype? Vielleicht, dass er all das erfüllt, was wir von ihm wollen?
Alkoholflaschen und ein BH
Alle Fotos von Paul Garbulski

Machen wir uns nichts vor: Seinen Status als Geheimtipp für distinguierte Gaumen hat der Gin Tonic längst verloren.

Seit geraumer Zeit schon bringt das wacholdersche Feuerwasser die natürliche Ordnung vieler Ü-30- und Mallorca-Partys durcheinander. Was früher mit Wodka-Energy, Jacky-Cola sowie den beiden Citrus-Titanen Wodka-Lemon und Jägi-Fanta die Hall of Fame einer jeden Dorfdisco bildete, ist nicht mehr in die steinerne Getränkekarte gemeißelt. Das Grundnahrungsmittel Bier ist unantastbar, aber alles andere fürchtet, vom angestammten Platz verdrängt zu werden.

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Das erste Mal erlebte ich es vor zwei Jahren in der tiefsten Provinz Südniedersachsens, dass der Wodka-Lemon dran glauben musste und anstatt seiner der ,Gito' die Getränketafeln einer Beach-Party zierte. Den Umständen eines dörflichen Idylls entsprechend bekam ich ihn serviert: Im weißen 0,2-Plastikbecher, Gut & Günstig-Tonic, ohne Eis, aber mit Gurke. Der Teufel fährt Lada.

Während also dieses Scheusal von einem Drink wie eine tote Qualle in meiner Hand lag und das Gemüse im Rhythmus zu den Bässen von David Guettas Kalauer Play hard pulsierte, wusste ich: „So sieht die Hölle aus." Was ich nicht wusste, war die Antwort auf die Frage, wie der offensichtliche Siegeszug des Gin Tonics zu erklären sei. Denn eins war klar: Wer es schafft, bis ins Bermudadreieck ,Salzgitter / Northeim / Peine' vorzudringen—auch wenn der Weg dorthin ihn sehr entstellte—, muss vorher den Rest der Welt erobert haben. Und tatsächlich.

In den Großstädten poppen ganze Gin-Tonic-Bars auf, ein neuer Gin oder neues Tonic Water kommt gefühlt alle zwei Wochen auf den Markt, doch nichts illustriert den Hype so deutlich wie der Monkey 47. Diesen Gin brachte 2010 der ehemalige Nokia-Manager Alexander Stein in einer Auflage von 2.500 Flaschen auf den Markt, bereits 2013 hatte er den Absatz versechzigfacht.

Ein Baustein für den Erfolg könnte die Heraufbeschwörung dessen sein, was die Marketingabteilungen ,Heritage' nennen. Besonders die Marken im mittleren und höheren Preissegment setzten alles daran, den Gin zum mondänen Getränk vergangener Jahrhunderte hochzustilisieren. Der angesprochene Monkey 47 etwa präsentiert sich in einem filigranen Apothekerfläschen, das aus Vitrinen von Pariser Pharmazeuten im Montparnasse der 20er Jahre hätte stammen können. Die Hersteller von Hendrick's gehen in der Zeitgeschichte sogar noch weiter zurück, wenn sie auf ihrem Flakon mit der Etikettenaufschrift ,Established 1886' das viktorianische Zeitalter heraufbeschwören. Dass dieser Gin erst 1999 auf den Markt kam und bestenfalls die Brennkessel der Destillerie das stolze Alter von über 100 Jahren aufweisen, wird eher klein gehalten. Hendrick's gehört nämlich zum Traditionshaus William Grant & Sons, das den meistverkauften Single-malt Whisky der Welt produziert: Glenfiddich.

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Doch wir sollten uns an der Image-Politur der Firmen nicht zu sehr aufhängen, denn letztlich macht das jeder: Duplo ist gar nicht die längste Praline der Welt, Kleidung kauft man nicht clever bei kik und wer von uns hat nicht schon mal den Sepia-Filter über eins seiner Kackfotos gelegt, um seelischen Tiefgang und antiquierte Schönheit zu heucheln? Außerdem trinkt das Auge mit und isst nicht nur; und wenn ich die Möglichkeit habe, aus einer schönen statt hässlichen Flasche zu trinken, dann tue ich das—nur sollten wir aufpassen, dass nicht die Ästhetik allein den hohen Preis einiger Gins rechtfertigt.

Fakt aber bleibt, dass den Marketingmenschen die Verklärung dieses Getränks vortrefflich gelang. Wenn etwa ein mit Fentimans Tonicwater ( Est. 1905) gemischter Schluck Hendrick's meinen Gaumen berührt, kommen mir Bars mit holzgetäfelten Wänden oder das Café de la Rotonde in den Sinn, und für einen Moment fühle ich mich wie Hemingway, Fitzgerald oder eine der anderen Figuren aus Woody Allens Midnight in Paris.

Stattdessen könnte ich auch an die Gin-Krise im 18. Jahrhundert denken, tue es aber nicht. Damals war wegen der niedrigen Weizenpreise Gin spottbillig und wurde hauptsächlich von Obdachlosen und der bürgerlichen Unterschicht geschätzt, bis schließlich fast ganz London unter ihm buchstäblich ersoff. Pro Kopf wurden monatlich 4,4 Liter Gin in der englischen Hauptstadt getrunken und als zwischenzeitlich die Sterberate durch Alkohol die Geburtenrate überstieg, musste die Regierung mit dem ,Gin-Act' intervenieren. Die Produktion wurde streng reglementiert, Steuern wurden erhoben, was zur Preiserhöhung führte, sodass der Pöbel sich den Wacholderschnaps nicht mehr leisten konnte und er dann erst wieder für die englische Upperclass interessant wurde. Auch das ist ,Heritage'.

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Heutzutage hat der Gin Tonic alle Gesellschaftsschichten erschlossen, vielleicht weil er gerade das transformatorische Geschick einer Hure besitzt: Ob man die schnelle, billige Nummer für einen Zwanni an der Tanke will oder auf der Suche nach einer exklusiven Begleitung für den gesamten Abend ist: In beiden Fällen kann man Hand an den Gin Tonic legen.

Diese Wandelbarkeit ist sein Erfolgsgeheimnis—insbesondere wenn es um das Geschmackserlebnis geht. Ein Wodka-Lemon schmeckt gleich, egal ob man ihn mit Smirnoff, Absolut oder Belvedere mischt; und ein Whiskey verliert den Großteil seiner Aromen, wenn Cola, Pepsi oder Dr. Pepper drüber gekippt wird, weshalb auch kein vernünftiger Barkeeper einen 18-jährigen Single-malt mit Cola strecken würde.

Doch Gin und Tonic befeuern einander geschmacklich und weil selten ein Gin dem anderen gleicht und auch bei Tonic Water große Unterschiede bestehen, sind der Vielfalt kaum Grenzen gesetzt. Kombiniert man alleine die zehn gängigsten Gin- mit den neun üblichen Tonic-Water-Sorten und bedenkt, dass der Gin Tonic mit Gurke, Rosmarin, Zitronen-, Grapefruit- oder Orangenzeste getrunken werden kann sowie gemahlenem Pfeffer, Olive oder pur, dann kommt man alleine hier auf 720 Varianten. (Multiplikationssatz und so: 10 x 9 x 8 = 720)

In dieser Kombinationsvielfalt kann man sich halb verlieren und das Entdecken diverser Geschmacksvariation trägt zu einer Trinkkultur bei, was ganz wunderbar ist. Anstrengend wird es nur, wenn aus enthusiastischen Genießern Bildungstrinker werden und aus Bildungstrinkern Nazis. Wenn etwa auf einer Hausparty die Gastgeberin fast in Ohnmacht fällt, weil ich den Gin Mare mit 1724 Tonic mische, wo er doch „nur ausschließlich mit Fever Tree getrunken wird" (was übrigens Schwachinn ist), wenn am nächsten Wochenende ein Gin-Nazi über den Vorzug von entkernten Gurken parliert, dann wird aus Genuss schnell Frustration.

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Aber auch das ist ein Puzzlestück der Erfolgsgeschichte: Der Gin Tonic macht den Leuten das Profilieren möglich. Ich wage sogar zu behaupten, dass Gin-Nazis in enger Verwandtschaft zu Musik-Nazis stehen, weshalb ich auf jeder Hausparty zunächst die Ansage in den Raum werfe, dass Radiohead seit OK Computer kein vernünftiges Album mehr gemacht hat und die Beatles in Wahrheit doch viel geiler als die Stones sind. Jeder, der dann von den Anwesenden vor lauter Entrüstung zu krampfen beginnt, wird von mir gemieden, weil er oder sie mit ziemlicher Sicherheit auch die-/derjenige sein wird, der/die mir einen Vortrag hält, warum der Hendrick's mittlerweile voll out ist, während ich in der Küche diesen gerade zu mischen, trinken und genießen versuche.

Letztlich gibt es drei hilfreiche Regeln für einen gelungenen Gin Tonic:
1. Frisches, trockenes Eis und den Filler vorkühlen, damit die Kohlensäure beim Mischen gut erhalten bleibt.

2. Auf das richtige Mischungsverhältnis achten (1:3; je nach Geschmack sogar 1:2)

3. Wer Zutaten wie Gurke, Rosmarin, Zitronenzeste verwendet, sollte dies tun, um die bereits bestehende Note des Gins (oder Tonics) zu unterstreichen. Etwas Gurke in einen Gin wie Hendrick's oder Martin Miller's ergibt Sinn, weil beide selbst mit einem Gurkenaroma auffahren, aber den Penis unter den Gemüsesorten in einen mediterranen Kräuter-Gin wie den Gin Mare zu stecken, ist eher suboptimal und ruft sehr schnell Gin-Nazis auf den Plan.

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Doch selbst bei diesen Ratschlägen ist das letzte Wort nicht gesprochen, denn im Grunde zielt ein Großteil der Klugscheißerei auf Fragen des Geschmacks ab, über den man sich bekanntlich streiten, aber nur selten zum klaren Urteil kommen kann. Wenn eine Person den Gin Mare nahzu perfekt findet und ihr zur gustatorischen Vollkommenheit lediglich die Gurkennote abgeht, wer wären wir, sie ihr zu verbieten? Hier gilt gewissermaßen das alte Swinger-Credo: „Erlaubt ist, was Spaß macht!" Umso mehr ihn haben, desto besser.

Natürlich wird es immer Leute geben, denen es bitter aufstößt, dass nach dem Dreieck als Tattoomotiv und der Wayfarer-Brille nun eine weitere Form für sie gestorben ist, der eigenen Identität besonderen Ausdruck zu verleihen. Denn wie schon Eingangs erwähnt: Gin Tonic ist in aller Munde und als Geheimtipp bzw. ein apartes Style-Accessoire auch nicht mehr zu gebrauchen—wer nach einer neuen Alternative sucht, sei auf Cognac verwiesen. Und wer den eigenen Sonderstatus noch mehr unterstreichen will, der kann bei Facebook auf der Weltkarte all die Orte als besucht markieren, auf denen seine Freunde noch nie waren oder die Musikgeheimtipps liken, die keiner vor ihm hörte.

Wir anderen erfreuen uns, dass wir uns am Gin Tonic ausprobieren können und es fast immer ein Genuss ist. Denn bei aller Spekulation ist Genuss der vermutlich einzig wahre Grund für seinen Triumphzug: Lecker zubereitet schmeckt ein Gin Tonic wie das reinste Himmelreich im Gaumen.

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