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Was steckt wirklich hinter der so harmlos klingenden Quarter Life Crisis?

Die Quarter Life Crisis gilt als Luxusproblem der Generation Y. Wir haben mit Experten über Krisen in den Zwanzigern gesprochen. Harmlos sind sie nicht.
Foto: Porsche Brosseau via flickr

Mit der sogenannten Quarter Life Crisis haben sich schon viele Autoren beschäftigt. "Jung, erfolgreich, unglücklich" sind meist die Schlagworte, die in Artikeln zum Thema vorkommen. Beim Durchlesen dieser Artikel entsteht der Eindruck, als sei die Quarter Life Crisis ein Lebensgefühl und ein Luxusproblem—eine Spinnerei der Jugend, die eh alles hat oder eine kurze, harmlose Phase der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit.

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Immerhin stehen uns alle Türen offen, wir können alles schaffen, alles werden. Also warum jammern wir eigentlich? Die Antwort ist leicht: Genau deswegen—und wegen des Drucks, alles zu sein statt einfach nur nichts. Die eigentliche Frage sollte daher lauten: Kann diese angeblich so harmlose Krise auch zur Depression—also einer tatsächlichen psychischen Erkrankung—ausarten? Oder ist sie vielleicht bereits eine?

Kevin Hall, Psychotherapeut in Wien, hat in seiner Praxis des öfteren mit Patienten und Patientinnen zu tun, die mit dem Übergang ins Erwachsenenleben zu kämpfen haben. "Natürlich kommt niemand zu mir und sagt: 'Ich hab eine Quarter Life Crisis'. Das ist ein Begriff, mit dem man etwas schönreden will und der im Alltag nicht genutzt wird", sagt er im Gespräch mit VICE.

Seine Patienten und Patientinnen würden ihre Situation jedoch meist mit anderen Worten umschreiben: "Letzte Woche hatte ich beispielsweise einen jungen Mann in der Praxis, der hat mir seine Situation als 'Burnout' beschrieben. Er kam mit der Welt und den hohen Anforderungen von Seiten des Arbeitgebers und auch seiner Umwelt nicht zurecht und stand kurz davor, eine Familie zu gründen. Ein anderer junger Mann kam mit der Uni nicht zurecht und das hat ihn in eine solche Krise gestürzt, dass er dachte, er würde überhaupt nichts mehr auf die Reihe bekommen. Er konnte auch den Ansprüchen seiner Eltern nicht gerecht werden."

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Grundsätzlich ist die Quarter Life Crisis per Definition die Krise in einer Übergangsphase. Vor allem Menschen zwischen 25 und 30, die gut ausgebildet sind und sich gerade auf dem Weg Richtung "Ernst des Lebens" befinden, sind davon betroffen. Laut Gerhard Furtmüller, Motivationsexperte und Berater und Forscher an der WU Wien, ist die Zahl der Betroffenen nur schwer festzumachen. Das liegt vor allem daran, dass eine Quarter Life Crisis an sich nicht messbar ist: "Einschlägige Studien sprechen von 20 Prozent Betroffenen. Gewiss ist aber, dass wir jährlich von einer massiven Steigerung ausgehen müssen, da auch die Komplexität und damit die Unsicherheit zunehmen."

Junge Menschen, die vielleicht gerade mit dem Studium fertig sind, sehen sich also plötzlich mit Entscheidungen und Fragen konfrontiert, an die man zuvor nur wenige Gedanken verschwendet hat: Was mache ich mit meinem Leben? Finde ich einen Job, der meinen Qualifikationen entspricht oder war mein Studium in Wahrheit umsonst? Verdiene ich dann auch genug? Wer bin ich und wer will ich eigentlich sein? Was habe ich bisher geleistet und warum können alle anderen alles besser?

Die Frage, ob vielleicht das System und nicht man selbst versagt, wird gar nicht mehr gestellt.

Als ich mich umhöre und nachfrage, ob Menschen aus meinem Freundeskreis, der zum Großteil aus Studenten am Ende des Studiums oder aus bereits arbeitenden Absolventen besteht, solche Gedanken kennen, ist die Antwort eindeutig. Es fallen auch hier immer wieder Sätze, die zur klassischen Beschreibung einer Quarter Life Crisis passen: "Ich weiß nicht, was ich mit meinem Studium letzten Endes wirklich anfangen soll", "Ich bekomme sowieso keinen Job auf meinem Fachgebiet, das wird uns schon auf der Uni eingetrichtert", "Ich will was bewirken auf der Welt, aber wie schaffe ich das?" und "Alles, was ich bisher gemacht habe, war völlig belanglos".

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Manche davon haben einfach aus Interesse oder aus Mangel an geeigneten Alternativen Studienrichtungen eingeschlagen, mit denen sie nach dem Abschluss eigentlich nichts mehr zu tun haben wollen. Sie sind hochqualifiziert, wissen aber nicht, wohin und haben Angst, dass sie einen Job annehmen müssen, der sie unterfordert, in dem sie nichts bewegen, den sie eigentlich nicht wollen und nur machen, weil sie eben das Geld brauchen.

Sie nehmen solche Jobs an und sagen sich "Irgendwann kommt schon der richtige Job für mich, jetzt muss ich erstmal Geld verdienen." Aber kommt der richtige Job wirklich oder bleiben diese Menschen in einem Beruf hängen, den sie nur aus der Not heraus überhaupt erst angefangen haben? Dann kommt noch die Angst dazu, das "richtige" Leben zu verpassen—kurz gesagt: Alles falsch gemacht zu haben im bisherigen kurzen Leben. All das sind die Ängste, die laut all den Artikeln zum Thema meine Generation—oder zumindest einen Teil davon—prägen. Ich selber kenne diese Ängste genauso.

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Dass wir selbst hohe Ansprüche an uns stellen und uns Sorgen machen, ob wir diese überhaupt erfüllen können—oder ob diese Ziele eigentlich die richtigen sind—, kommt wahrscheinlich nicht von ungefähr. Vielen von uns wird von klein auf vermittelt, dass alles möglich ist, wenn sie sich nur genug anstrengen, dass man nur hart genug arbeiten und ehrgeizig sein muss, um an sein Ziel zu kommen. Und genau das kann einen massiv unter Druck setzen.

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Matthias Rohrer, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für Jugendkulturforschung, erzählt gegenüber VICE, wie es zu dem Druck kommt, unter dem junge Menschen oftmals stehen: "Es besteht außerdem eine große Diskrepanz zwischen dem, was vermittelt wird und was Realität ist. Junge Menschen leben in einer Gesellschaft, die von neoliberalen Werten durchdrungen ist, die ihnen vermitteln, dass jeder alles schaffen kann und alles nur an ihm selbst liegt. Das hat aber nichts mit der Realität zu tun. Menschen haben das Gefühl, dass sie selbst versagen, wenn sie nicht ins System passen. Die Frage, ob vielleicht das System und nicht man selbst versagt, wird gar nicht mehr gestellt."

Auf die Frage, ob es die Quarter Life Crisis schon immer gab, sie vielleicht einfach nur anders bezeichnet wurde, erklärt Rohrer: "Erst einmal muss ich sagen: Ich finde den Begriff an sich schon schwierig, weil er meiner Meinung nach ein Problem verniedlicht. Kaum ein Studium ist heute noch eine Garantie für einen Job und die Situation verschärft sich noch weiter bei niedrigerer formaler Bildung. Das sind ganz neue Unsicherheitsfaktoren, mit den junge Erwachsene in einem wesentlichen Lebensbereich klar kommen müssen."

Eine Quarter Life Crisis kann nicht nur eine Depression zur Folge haben, sondern zum Beispiel auch eine Essstörung oder Angststörungen.

Auch der WU-Berater Furtmüller sieht die Gefahr, dass fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und ihre Folgen Betroffene in eine Depression stürzen können. Psychotherapeut Hall sieht das ähnlich: "Wenn jemand an einer Depression leidet, sind beispielsweise Antriebslosigkeit und fehlende Lebensfreude typische Symptome. Diese Symptome können bei einer solchen Krise auch auftreten. Dass die Quarter Life Crisis oft als harmlos dargestellt wird, finde ich ungerecht, denn alle Lebensübergänge sind potenziell schwierig. Und eine Quarter Life Crisis kann übrigens nicht nur eine Depression zur Folge haben, sondern zum Beispiel auch eine Essstörung oder Angststörungen."

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Es gibt jedoch Strategien, um eine derartige Krise zu vermeiden, beziehungsweise wieder aus der Krise zu kommen. Laut Furtmüller müsse man die eigenen Erwartungen an sich selbst reduzieren, sich fokussieren und gelassen sein, denn: "Auch, wenn ein Ziel einmal nicht so aufgeht, ergibt sich mit Bestimmtheit ein neuer Weg."

Außerdem solle man den eigenen Lebensweg gehen: "Obwohl Individualität heute großgeschrieben wird, passiert gerade das Gehen des eigenen Lebensweges oft trotzdem nicht. Das gegenwärtige Muster ist nämlich wie folgt: Um in ein Studienprogramm oder auch in ein Unternehmen aufgenommen zu werden, sind hohe Hürden zu bewältigen. Wenn aber diese Hürde genommen wurde, dann erfolgt von den Institutionen eine Angleichung der Personen." Schafft man es dennoch nicht aus der Krise, solle man sich an den Menschen orientieren, die es bereits geschafft haben: "Die meisten Menschen gehen daraus gestärkt hervor. Das belegen die Biographien von ehemals Betroffenen."

Diese Ratschläge klingen wahrscheinlich um einiges leichter als sie in der Realität umzusetzen sind. Hall erzählt deshalb auch, dass er bei seinen Patientinnen und Patienten eher davon absieht, ihnen Ratschläge zu geben: "Die Betroffenen kriegen eh schon von ihren Eltern und allen anderen Menschen Ratschläge wie 'Reiß dich zusammen' oder 'Knie dich einfach mehr rein und streng dich an.' Das ist alles nicht hilfreich. Man kann den Menschen nur helfen, sich selbst zu stärken und ich finde mit ihnen Lösungen, die für sie passen."

Grundsätzlich scheint es, als wäre der öffentliche Umgang mit der sogenannten Quarter Life Crisis fast genauso problematisch wie die Krise selbst. Junge Menschen stehen oftmals unter enormem Druck, ihren eigenen Anforderungen und den Anforderungen der Umwelt gerecht zu werden. Das alles ist kein Lebensgefühl, sondern kann ein ernsthaftes Problem sein—vor allem dann, wenn es in Depressionen, Essstörungen oder Panikattacken mündet und immer noch einen unbeschwerten Lifestyle-Namen hat. Es ist schlimm genug, in einer derartigen Lebenskrise zu stecken. Noch schlimmer wird es nur, wenn niemand deine Probleme ernst nimmt.

Verena auf Twitter: @verenabgnr


Titelfoto: Porsche Brosseau | flickr | CC BY 2.0