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Ohne Gasmaske in Berlin - Klaviersonaten vom Taksim-Platz

Der Klavierspieler vom Taksim-Platz hat in Berlin seine Original-Playlist aus Istanbul zum Besten gegeben. Danach haben wir uns darüber unterhalten, wie es ist, mit Gasmaske zu spielen, und wie es war, als ihm die türksche Polizei das Klavier wegnahm.

So ungefähr 300 Meter vorm Oranienplatz in Berlin höre ich schon die Klavierklänge. Ich komme auf den Platz, der gefüllt ist mit Leuten, die Bier trinken und Zigaretten rauchen, Kindern und Hunden. Klassisches Kreuzberger Publikum für Davide Martello. Das ist der Typ, der den Istanbulern vor zwei Wochen während der schlimmsten Straßenkämpfe für eine Nacht eine Art kleinen Weltfrieden mit seinem Klavierspiel beschert hat. Jetzt musiziert er in Kreuzberg auf seinem Elektro-Flügel.

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Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass hier jemand wegen Davides atemberaubenden Spielkünsten ist—höchstens ein paar ahnungslose Passanten, die stehen bleiben. Was auffällt ist, dass—je nachdem, wo man steht—das Klicken der Kameras von Zuschauern und Pressefotografen lauter ist als das eigentliche Klavierspiel. Und immer wieder branden „Taksim, Taksim“-Rufe zwischen den Songs auf.

Davide hat sich damals eine Gasmaske aufgesetzt und auf dem Taksim-Platz gespielt, bis sein Klavier von der türkischen Polizei konfisziert und er gezwungen wurde aufzuhören. Danach wurde der Platz geräumt und bis heute sind da keine größeren Demonstrationen mehr entstanden.

Weil ich herausfinden wollte, wie er auf die Idee kam, in Istanbul mitten im Gasnebel mit seinem Klavier anzurollen und loszuspielen, habe ich mir Davide nach seinem dreistündigen Konzert (teilweise mit Dauerschleife) auf dem Oranienplatz geschnappt und ihm ein paar Fragen gestellt.

VICE: Wie bist du überhaupt darauf gekommen, auf dem Taksim-Platz zu spielen?
Davide Martello: Das war eine ganz spontane Idee. Ich war gerade in Sofia, auf meiner Balkantournee, und habe die Tumulte im Fernsehen gesehen. Da habe ich mir gedacht: Was würde passieren, wenn ein Flügel einfach mitten im Stress stehen würde? Das habe ich dann wahrgemacht, direkt am nächsten Tag. Eigentlich wollte ich mir noch ein Hotel suchen, aber dann sah ich die Schilder, „Taksim, Taksim, Taksim“, und habe einfach gesagt: Kommt, lasst uns jetzt hingehen. Ich hatte aber schon ganz schön Angst.

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Wie hat es sich dann angefühlt, als du auf dem Platz warst?
Die ersten zehn Minuten waren schrecklich. Rausrollen, Aufbauen und erstmal anfangen zu spielen … Aber als dann die ganzen Menschen um mich herum waren, habe ich mich schon sicherer gefühlt.

Wie lange hast du gespielt?
Am ersten Abend, also am Mittwoch, bis vier Uhr morgens. Am zweiten Tag dann ungefähr 13 Stunden, weil es da eine Frist gab, dass nach 24 Stunden der Platz geräumt werden sollte. Und deshalb habe ich durchgehalten, damit der Platz besetzt bleibt. Ich wurde von allen verpflegt, überall da [deutet auf seinen Flügel] lagen Essen, Trinken und Helme. Das war echt ein grandioses Chaos.

Und während du gespielt hast, wurde niemand angegriffen? Da ist nichts passiert?
Gar nichts. Nur am Samstag, da konnte ich gar nicht spielen, weil die schon angefangen hatten zu räumen. Ich hatte im Fernsehen gesehen, dass es abgeht und war dann aber zu spät.

Was genau ist passiert, als du am Samstag ankamst?
Ich habe so 200 Meter vorm Taksim abgeladen. Dann hieß es: „Zieh' dir die Gasmaske an, das ist gefährlich!“ Also habe ich die Gasmaske übergezogen und angefangen zu spielen. Während ich gespielt habe, kam die Gaswolke auf mich zu. Und die Menschenmasse. Ich war der Einzige, der gegen die Masse gefahren ist, ich habe den Flügel geschoben und gleichzeitig gespielt. Dann musste ich aber gehen.

Warum?
Na ja, mit der Gasmaske hast du vielleicht so zehn Sekunden mehr als ohne. Ich musste in eine Bar gehen und frische Luft schnappen. Der Flügel stand einfach so auf der Straße rum.

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Dein Freund da drüben meinte vorhin zu mir, die Polizei hätte den Flügel am Samstag konfisziert.
Ja. Ich bin dann aus der Bar gekommen, als die Gaswolke weg war. Die Polizei war in die eine Richtung unterwegs und ich bin los in die andere. Dann wollte ich loslegen, aber da kam schon die Polizei, die waren da in der Hecke versteckt. Und sie meinten nur zu mir: „Packen Sie ein.“

Die Menschen, die heute hier waren, wollten ja die ganze Zeit Autogramme und Fotos mit dir. Wie fühlt es sich für dich jetzt an, seit Taksim so eine Art Celebrity zu sein?
Es ist halt ungewöhnlich. Aber ich kann das auch verstehen. Ich möchte mit dem Flügel ja Frieden verbreiten. Meine Botschaft ist Frieden und Entspannung. Dass man sich von den schönen Dingen inspirieren lässt.

Ich habe das heute hier widergespiegelt, was auf dem Taksim-Platz passiert ist. Es hat sich schon familiär angefühlt. Taksim—das waren natürlich die größten Emotionen überhaupt.

Das hast du heute wieder gespürt?
Ja, das war schon der gleiche Vibe. Nur ohne Angst und ohne Gewalt.

Ist in der Regel auch schöner so. Danke!