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Homegrown

Von Giftgasen und Roma-Clans, Keller-Komasaufen und Fußballfans

Aufwachsen im Schatten des Werks. So ist es, wenn man in Leverkusen aufwächst, wo es außer dem Bayerwerk eigentlich nicht viel zu entdecken gibt.
Foto: leisergu | Flickr | CC BY 2.0

Ja, Leverkusen hatte mehr zu bieten als unendlich viel Stau vor der A1-Rheinbrücke, Tante Käthe und Reiner Calmund. Ich bin dort geboren, am Stadtrand aufgewachsen, in einer Straße, die in einem Feld endet, und kam somit in den Genuss von dem, was manche als behütete Kindheit bezeichnen. Ich besuchte eine katholische Grundschule, Musik- und Badminton-AGs, ging reiten und durfte nicht mit den Schlüsselkindern aus dem Sozialbau um die Ecke spielen. Mit den fiesen Sachen aus der Überschrift hatte ich die ersten 14 Jahre meines Lebens so ziemlich gar nichts zu tun. OK, abgesehen von den Bränden im Bayerwerk, nach denen die Leverkusener angehalten waren, ihre Häuser nicht zu verlassen, bis geklärt war, welche Chemikalien ausgetreten sind. Das kam auch gar nicht so selten vor.

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Als Pferde irgendwann nicht mehr oberste Priorität in meinem Leben hatten, lernte ich mehr und mehr Facetten meiner Heimatstadt, der Chemiehölle am Rhein, kennen und lieben. (Apropos lieben. Eine Sache stimmt wirklich: Seit ich weggezogen bin und nicht mehr jeden Tag die gute Aspirin-Luft schnuppere, habe ich manchmal Kopfschmerzen. Hatte ich vorher nie. Niemals.)

Foto: Ingo Jansen

Eine stadtbekannte Leverkusener Großfamilie
In Leverkusen gibt es eine Familie, die jeder kennt: Familie Goman. Der Roma-Clan, der sich nach Verfolgung und KZ-Aufenthalten im Zweiten Weltkrieg in Leverkusen niederließ, hat sein Hauptquartier im Stadtteil Wiesdorf. Er besteht aus ungefähr 80 Personen—man weiß aber nicht genau, wie viele wirklich in den verschiedenen Häusern der Familie leben. Man weiß generell vieles nicht ganz genau in Bezug auf die Gomans. Zum Beispiel, wieso immer so viele neue Porsches und BMWs vor dem Hauptquartier parken. Denn Teile der Familie Goman beziehen eigentlich Harz IV. Vielleicht sind einige Familienmitglieder tatsächlich in die sogenannten Teppichbetrügereien verwickelt sind, wie Spiegel.tv recherchiert hat?

Als ich anfing, mit meinen Freundinnen in der Wiesdorfer Fußgängerzone rumhängen und am Rialto-Kiosk Alcopops zu kaufen, lernte ich einige Mitglieder der Familie Goman kennen. Zuvor (ich wohnte ja außerhalb, fast im Bergischen Land) hatte ich, wenn mich irgendjemand vor den Roma-Kindern warnte, immer abgewunken und gedacht: „So schlimm wird das doch nicht sein." Ist es doch. Viele der Mädchen in unserem Alter liefen schon mit Kinderwagen oder Babybauch herum. Die anderen konkurrierten mit uns um die besten Bänke in der Fußgängerzone, andere klauten immer mal wieder unsere Kippen.Und einige der Jungs, auch die ganz kleinen, steckten ihre Köpfe unter Röcke und Kleider, rissen uns die Handtaschen weg oder rotzten auf unsere Schuhe. Die Älteren fuhren mit ihren fetten BMWs durch die Fußgängerzone oder pissten gegen die Kirche. Und ihre Mütter verscheuchten uns, wenn's sein musste auch mit Fußtritten aus ihrem Revier und ließen bei REWE Butter und Schokolade in den Kinderwägen verschwinden. Ich wollte immer mal was sagen, habe ich mich aber nie getraut. Und auch wenn das alles nach Klischee schreit und wie aus einem Flyer von Pro-NRW klingt, sind es doch meine Erfahrungen.

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In den Fängen eines Riesenkonzerns
Und dann kam dieser Frühling, in dem alle meine Freunde, die nicht aufs Gymnasium gegangen waren, sich bewerben mussten. Da stand zum ersten Mal die Bayer-Sache im Raum: Viele, sehr viele unserer Mütter und Väter sind bei den Pharma- und Chemiekonzern angestellt. Teilweise, weil deren Väter schon als Schlosser im Werk gearbeitet haben. Oder einfach, weil die Bayer AG Anfang der 80er als sicherer und gut zahlender Arbeitgeber galt und jeder neue Mitarbeiter ein schickes, rotes Fahrrad geschenkt bekam. Damals schrieb der Konzern Jahr für Jahr ziemlich schwarze Zahlen, von denen auch die Stadt profitierte: Bayer gründete Sport- und Kulturvereine, eröffnete Bayer-Kaufhäuser und Feriendomizile für Mitarbeiter und deren Familien auf der ganzen Welt.

Jetzt im Nachhinein wird mir klar, wie sehr auch mein Leben von klein auf mit dem Konzern verbunden war: Da mein Vater bei Bayer ist, konnte ich im Bayer-Reiterverein reiten lernen und Winterurlaub mit dem Skiclub machen. Mein erster richtiger Nebenjob bestand darin, während der Fußballspiele Würstchen in der BayArena zu braten. Von dem Feld am Ende meiner Straße kann man über die Stadt bis runter zum Rhein und zum Werk schauen. Unzählige Male habe ich dort gestanden, mit immer anderen Problemen und Sorgen, und einfach nur zugesehen, wie Rauch aus den Schornsteinen aufsteigt. Das war tatsächlich die größte Sicherheit und auch irgendwie Trost meiner Jugend: Solange die Schornsteine noch qualmen und die Lichter im Bayerwerk brennen, kann mir nichts Schlimmes passieren auf der Welt, denn das Leben geht weiter

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Zerfall des Bayer Universums
Viele meiner Freunde bewarben sich dann irgendwie bei Bayer. Oder bei Lanxess oder Currenta oder Kronos, einer dieser Firmen im Chempark eben. Zu dieser Zeit hatte Bayer schon Teile der Raffinerien abgegeben, weshalb das Gelände nicht mehr Bayerwerk, sondern nun offiziell Chempark heißt. Eine Neuerung, die vermutlich 95 Prozent der Leverkusener so unnötig finden wie ich. Meine Freunde auf jeden Fall gaben dem Druck nach, vielleicht weil sie keinen Ärger wollten oder eh nichts Besseres im Sinn hatten. Letztendlich wurde aber kaum einer bei Bayer genommen. Denn der Bayer AG geht es heute nicht mehr so gut wie vor 30 Jahren. Es wird nicht mehr jeder eingestellt, nur weil auf dem Ausweis „Geburtsort Leverkusen" steht. Große Teile der Produktion und Forschung sind mittlerweile ins Ausland verlegt, für den Standort Leverkusen wird fast nur noch speziell ausgebildetes Fachpersonal gesucht. Gleichzeitig zieht Bayer sich nach und nach aus vielen gesellschaftlichen Dingen zurück, kürzt Fördergelder und stellt Freizeitmöglichkeiten ein. Das letzte Bayer-Kaufhaus schloss 2007. Die Arbeitslosigkeit steigt und liegt Anfang 2015 bei 8,2 Prozent, auch einige meiner Bekannten machen „jetzt erst mal nichts".

Oder spielen Flunkyball im Pool. Foto: Privat

Und das ist das Dilemma, mit dem die Stadt nun irgendwie zurechtkommen muss. Bislang galt: Leverkusen ist Bayer und Bayer ist Leverkusen. Die letzten 100 Jahre haben sich Stadt und Konzern so eng nebeneinander her entwickelt, dass nun, da die Firma sich durch einen Unternehmenswandel distanziert, ein Vakuum entsteht. Ein Vakuum, in das meine Generation hineingeboren wurde, das wir nun irgendwie und mit irgendetwas füllen müssen. Wir kennen die guten, alten Zeiten nur noch aus Erzählungen, in denen das Leben ungefähr so verläuft: Schule, Ausbildung bei Bayer, übernommen, rotes Fahrrad, unbefristeter Vertrag, Häuschen, Kinder, Goldener Retriever. Das wollen ja viele von uns auch gar nicht mehr unbedingt. Das Problem ist, dass man in Leverkusen sonst nicht besonders viel machen kann. Wir haben keine Uni, keine FH, keine wirklich großen Unternehmen außerhalb des Chemparks. Ich war damals sehr froh, noch drei Jahre Oberstufe vor mir zu haben, in denen ich überlegen konnte, was ich mit meinem Leben so anfangen wollte.

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Am besten erstmal 'ne Mische trinken! Foto: Privat

Du kannst entweder zu Helene Fischer feiern gehen oder zu Yeah. Dazwischen gibt es nichts
Der Ausdruck Feiern ist in Bezug auf Leverkusen schon ein kleines Paradoxon. Als ich damit anfing, war der einzige Club, den man auch als solchen bezeichnen kann, leider schon Geschichte. Das Calcio befand sich in der BayArena und wurde tagsüber als VIP-Lounge genutzt. Es schloss 2010, weil die Clubabende das Mobiliar zu sehr verschlissen. Ich selber habe es nie dorthin geschafft, kenne aber durch viel ältere und viel … ältere Leute die Legenden von wilden Calcio-Abenden, die manchmal auf dem Rasen des Fußballstadions endeten. Oder im Rhein.

Zumindest Fans des deutschen Schlagers kommen in Leverkusen nicht zu kurz: Das Löh (zu dem man leider von überall in Leverkusen 25 Minuten Taxi fahren muss, was uns früher nicht gestört hat) lockt abwechselnd mit 1-Euro-Events, ab 16-Partys und prominenten Gästen wie Peter Wackel. ). (Und die Klapsmühle ist laut eigener Angabe „das total verrückte Partylokal", hat aber oft, wenn ich um 3 Uhr vom Kellnern komme, schon zu) Ansonsten gibt es in Opladen ein paar ganz gute Kneipen, zum Beispiel das Cotta, wo nur alte Leute und Taxifahrer saufen, das Rieck's, das vor allem für seinen durchgeknallten Inhaber bekannt ist und De Sandbütt ehemals Durstlöscher, wo ich schon mit 15 und gefälschtem Schülerausweis Tequila gekriegt habe.

Karneval kann man es auch mal in der Klapsmühle aushalten. Foto: Privat

In Wiesdorf gibt es das Samara, also, man munkelt, dort gäbe es das Samara. Dieser Club? Lounge? Bar? hängt ziemlich oft Plakate in der Stadt auf, auf denen Special-Guests und außergewöhnliche Partys angepriesen werden. Das Ding ist, dass ich niemanden kenne der jemals im Samara war, geschweige denn weiß, wo es sich überhaupt befindet. Ich habe mich einmal, zu sehr später Stunde, mit Freunden daran gemacht, diesen sagenumworbenen Ort zu suchen. Nach etwa einer Stunde haben wir aufgegeben und uns stattdessen an den Rhein gesetzt, um das Bayerwerk anzuschauen.

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Dann gibt's noch das Shadow )—eine „Düsterdisko"= Grufti-Bar—, das jeden Samstag zum „Schattentanz" einlädt und Szenefreunde von echt weit her anzieht. Früher war das ein beliebter Einsatz für Trinkspiele und Mutproben jeglicher Art: Wer verliert, muss versuchen, ins Shadow reinzukommen. Wider Erwarten hat es bei mir einmal funktioniert und ich konnte vor lauter Verwirrung nicht mehr tun, als für 45 Sekunden Aufenthalt 5 Euro Eintritt zu bezahlen. Und last but not least: Das Gambrinus, wo es nicht nur ziemlich gute Musik, Trinkspiele und günstigen Schnaps gibt, sondern man mit ein bisschen Glück zu später Stunde was zu essen bekommt. Peter, der Wirt, ist ein verkappter Sternekoch und Gutmensch und zaubert nicht selten nachts um drei noch ein deftiges Essen für besonders betrunkene Seelen. Die Abende bei Peter waren immer die Guten: Ohne Stress und Kater am nächsten Morgen.

In Ermangelung anderer Möglichkeiten bin zumindest ich persönlich oft in irgendwelchen Partykellern, elterlichen Wohnzimmern oder den WGs älterer Geschwister gelandet. Was aber auch nicht das Schlechteste war. Hier habe ich für mein Leben elementar wichtige Dinge wie eine Flasche Kölsch exen, 7-double-11 und Werwolf spielen gelernt. Und dass man an guten Tagen und mit ein bisschen Mühe auch für unter zwei Euro einen ordentlichen Vollrausch hinkriegen kann

Ersatzfamilie: Fußballfans
Einigen reicht es, ihre Freizeit mit alkoholgeschwängerten Abendaktionen zu füllen, anderen nicht. Für die gibt es in Leverkusen sicherlich auch ganz verschiedene Dinge zu tun, aber gerade in den letzten Jahren kriegen Fußballfanclubs wie die Ultras, Mad Boyz, Schwarze Wölfe oder Lev-Szene immer mehr Zulauf—auch von sehr jungen Leuten. Ob das an der steigenden Jugendarbeitslosigkeit in der Stadt liegt oder meine Generation darin einfach die Pfadfinder des 21. Jahrhunderts sieht, ich weiß es nicht. Aber ich kenne viele in meinem Alter, die schwarze Lederjacke mit Abzeichen darauf tragen und an Bundesliga-Samstagen generell keine Zeit haben, weil sie da „mit der Familie" abhängen.

Foto: Ingo Jansen

Weggehen
Irgendwann waren meine drei Jahre Schonzeit dann auch vorbei; dank kurzweiliger Komm-wir-Schwimmen-im-Rhein-Aktionen bei Nacht, vielen Alcopops, noch mehr Kölsch und wenig echten Partys schneller als gedacht. Ich wollte studieren, so viel stand fest. Ich war, wie viele aus meinem Abi-Jahrgang, das erste Kind mit akademischen Ambitionen in der Familie. Klar, zuvor hatten ja immer alle die Lehre beim Bayer gemacht. Meine Eltern unterstützten mich zum Glück, obwohl vor allem mein Vater still und heimlich hoffte, ich würde doch noch zur Vernunft kommen. Ich wollte auch nicht „richtig" wegziehen, also standen Köln und Düsseldorf zur Auswahl. Da ich mich auch schon in Sachen Karneval nach Köln orientiert hatte, wurde es die Domstadt. „Das Schwierigste ist, den Absprung zu schaffen, weißt du. Aus diesem Mikrokosmos. Zu viele bleiben hängen und kommen hier niemals weg", erklärte mir eine Freundin aus Leverkusen kurz nach meinem Umzug. „Aber wer einmal raus ist, der hat's geschafft, der kann gehen, wohin er will. Die, die nach Köln gehen, landen irgendwann in Berlin und wer nach Düsseldorf geht, in München." Und was soll ich sagen, außer: Sie hatte Recht.


Titelfoto: leisergu | Flickr) | CC BY 2.0